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GLEICHHEIT/3652: Tunesische Regierung verhängt Ausgangssperre wegen der Proteste gegen Putschgefahr


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Tunesische Regierung verhängt Ausgangssperre wegen der Proteste gegen Putschgefahr

Von Niall Green und Kumaran Ira
13. Mai 2011


Von Donnerstag bis Sonntag versammelten sich Demonstranten in der tunesischen Hauptstadt Tunis, um gegen die Übergangsregierung zu protestieren, die das nordafrikanische Land seit dem Sturz des vom Westen unterstützten Diktators Zine el-Abidine Ben Ali im Januar regiert.

Die tunesischen Demonstranten widersetzten sich einer Ausgangssperre der Regierung, die am Sonntag verhängt wurde, um die wachsende Opposition gegen die Übergangsregierung zu unterdrücken. Die Ausgangsperre gilt von 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens.

Regierungsfeindliche Demonstranten in Tunis forderten den Rücktritt der Regierung. Ganz besondere Verachtung hatten sie für Premierminister Beji Caid Sebsi und Innenminister Habib Sid. Die Demonstranten riefen auch Parolen wie: "Das Volk fordert eine neue Revolution" und "Keine Angst und keinen Terror - die Macht gehört dem Volk".

Der Protest dehnte sich auch auf andere Städte aus, darunter Sfax, Kairouan und Sousse. Die Ausgangssperre wurde nach den Unruhen auch über Sfax, Kairouan und Métlaoui und drei Städte der Zentralprovinz Gafsa verhängt.

Die Regierung in Tunis reagierte mit brutaler Unterdrückung auf diese Proteste. Die Polizei in Tunis schoss mit Tränengasgranaten in die Menge, die sich auf der Hauptverkehrsstraße, der Avenue Bourguiba, versammelt hatte. Die Demonstranten reagierten mit einem Steinhagel gegen die Polizei.

Nach Berichten griffen die Polizisten die Demonstranten mit Knüppeln an; sie trennten kleine Gruppen ab und traten und schlugen sie. "Das Verhalten der Polizei gegenüber den Menschen ist zu extrem", erklärte ein Demonstrant gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. "Das ist die Rückkehr zu den Tagen Ben Alis", ergänzte er.

Der Nachrichtensender CNN berichtete, dass am Sonntag in der Nähe des Hauptgebäudes des Innenministeriums auch gepanzerte Fahrzeuge der Armee eingesetzt wurden.

Die Proteste begannen, als der ehemalige Innenminister der tunesischen Übergangsregierung, Farhat Rajhi, am Mittwoch auf Facebook vor Vorbereitungen für einen "Militärputsch" warnte, falls die islamistische Gruppe Ennahda die Wahlen am 24. Juli gewinnen sollte. An diesem Tag plant die Regierung Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung abzuhalten, welche den zukünftigen Charakter der tunesischen Regierung bestimmen soll. Ennahda, die unter Ben Ali verboten war, könnte laut Berichten im Süden, wo große Verdrossenheit angesichts von Armut und Arbeitslosigkeit herrscht, Unterstützung gewinnen.

In einem Video, das auf Facebook erschien, erklärte Rajhi: "Wenn Ennahda an die Macht kommt, wird es einen Staatsstreich geben." Er fügte hinzu: "Die Menschen an der Küste [die ehemaligen Anhänger Ben Alis in den reicheren Teilen des Landes] sind nicht geneigt, die Macht abzugeben, und wenn die Wahlen zu ihren Ungunsten ausfallen, wird es einen Staatsstreich geben."

Rajhi behauptete auch, dass die Beförderung von General Rachid Ammar in den Rang eines Stabschefs Teil des Plans zur Machteroberung sei, "falls die Islamisten die nächsten Wahlen gewinnen".

Die Regierung in Tunis wies die Erklärung von Rajhi sehr schnell zurück. Rajhi war von Januar bis zum 29. März Innenminister, als er aus nicht genannten Gründen seines Amts enthoben wurde. Man glaubt, Rajhi sei wegen seiner begrenzten Bestrebungen, dem repressiven Staat ein neues Gesicht zu geben, mit dem Sicherheitsapparat in Konflikt geraten.

Rajhi, ein ehemaliger Richter, hatte in Tunesien einige Popularität erlangt, weil er 45 höhere Beamte des Innenministeriums entlassen hatte, die der Korruption beschuldigt wurden und weil er die alte herrschende Partei von Ben Ali abgewickelt sowie die Geheimpolizei neu organisiert hatte.

Ein weiteres Zeichen für ein härteres Vorgehen gegen abweichende Meinungen ist die Rückkehr der Internet-Zensur-Behörde, die nach dem Sturz von Ben Ali außer Kraft gesetzt worden war. Durch ein neues Zensurgesetz, das laut der tunesischen Internetseite Webdo vor kurzem heimlich verabschiedet wurde, erhielt die Behörde erneut ihre Vollmachten. Die erste Maßnahme des Zensors war, die Facebook-Seite abzuschalten, die Rajhis Erklärung veröffentlicht hatte.

Die Regierung versucht auch, jegliche Berichterstattung über das brutale Vorgehen auf den Straßen von Tunis zu verhindern. Etwa fünfzehn Journalisten von lokalen und internationalen Medien wurden von der tunesischen Polizei während der Demonstrationen am Donnerstag und Freitag letzter Woche festgenommen und geschlagen.

Marwa Rekik, eine Reporterin des lokalen Radiosenders Kalima, erklärte gegenüber Al Dschasira, dass sie von einem Dutzend Polizisten angegriffen wurde, während sie live aus dem Zentrum von Tunis berichtete. "Sie haben mich überall mit Knüppeln und Helmen geschlagen und ich brauchte fünf Stiche für meine Kopfwunden", berichtete sie am Sonntag.

Die Reaktion der Übergangsregierung auf die Proteste ist eine deutliche Warnung, dass sie die brutalsten Methoden einsetzen wird, um die revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse zu unterdrücken.

Seit die Regierung Ben Alis gestürzt wurde, wurde keins der zugrundeliegenden sozialen Probleme gelöst, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist, aber das Land hat eine Explosion von Streiks und Arbeiterdemonstrationen erlebt. Der Sozialminister Mohamed Ennaceur drückte die Ängste der Bourgeoisie aus und erklärte: "Obwohl die sozialen Forderungen nach der Revolution immer stärker wurden, hat sich die soziale Lage immer weiter verschlechtert."

Er sagte der Zeitung La Presse: "Ausländische und tunesische Investoren sind seit der Revolution beunruhigt, da die Situation sich immer noch nicht beruhigt hat. 281 Einrichtungen haben in der nach-revolutionären Periode ihre Arbeit eingestellt. Die Zahl der Streiks stieg im Vergleich zu 2010 um 155 Prozent und der Prozentsatz der Teilnehmer lag bei 85 Prozent im Unterschied zu 53 Prozent im letzten Jahr. Wilde Streiks haben um 85 Prozent zugenommen, obwohl sie im letzten Jahr nur 19 Prozent aller Streiks ausgemacht haben. Darin sind die Sit-ins und die Ausschreitungen noch nicht enthalten, die an den Arbeitsstätten stattfinden. Tausende Menschen sind seit der Revolution zum Ministerium gekommen, um ihre Rechte einzufordern."

Obwohl Rajhi seine Kommentare später zurückzog - er führte sie in wenig glaubwürdiger Weise auf "politische Unreife" zurück und drückte sein volles Vertrauen in die Armee aus - zeigten sie doch das Misstrauen der Massen in die Übergangsregierung. Ein Student erklärte: "Es gibt bereits so viele Probleme in Tunesien. Das Video von Rajhi war der Funke, der die Dinge auslöste. Die Revolution ist nicht vorbei."

Sonia Briki, ein Demonstrant, sagte gegenüber Reuters. "Wir sind hier, um zu fordern, dass diese verlogene Regierung zurücktritt. Alles ist jetzt klar. Wir wollen, dass sie zurücktreten, damit wir eine Regierung bekommen können, deren Mitglieder nur dem Volk dienen."

Diese Ereignisse unterstreichen vor allem die Tatsache, dass es keine Partei gibt, welche die Kämpfe der Arbeiterklasse in Tunesien anführt. Die bestehenden Parteien sind bankrott und stehen den Arbeitern feindlich gegenüber.

Die öffentliche Empörung über Rajhis Kommentare entlarvt den betrügerischen Charakter der Reformkommission, welche die Übergangsregierung eingesetzt hat, um die Bildung der verfassungsgebenden Versammlung zu überwachen. Dazu gehören der Arbeitgeberverband UTICA, diverse Menschenrechtsgruppen, die Gewerkschaft UGTT (Allgemeiner tunesischer Gewerkschaftsverband) und die offiziellen "Oppositions"-Parteien wie die Progressive Demokratische Partei (PDP) und die ex-stalinistische Ettajdid-Bewegung.

Diese Kräfte bieten nur eine dünne pseudo-demokratische Tünche für ein Regime, das verzweifelt versucht, sich an der Macht zu halten, indem es die Kämpfe der Arbeiterklasse unterdrückt. Es wurde von Anfang an als eine Möglichkeit betrachtet, die Arbeiterklasse daran zu hindern, Organe der Macht aufzubauen, um die alte Staatsmaschine von Ben Ali herauszufordern.

Die Kommission wird von Juraprofessor Iadh Ben Achour geleitet, der von der französischen Tageszeitung Le Monde interviewt wurde. Als man ihn nach seiner Kommission fragte, erklärte er: "Diese Hohe Kommission war ursprünglich eine einfache politische Reformkommission, deren Rolle darin bestand, die undemokratischen Gesetze, die das alte Regime benutzt hatte, um das Land zu unterdrücken, zu ändern... Aber dann wurde ein Rat zum Schutz der Revolution geschaffen, an dem Parteien und Organisationen der bürgerlichen Gesellschaft beteiligt sind und der als eine Art Vormund für die Regierung konzipiert wurde."

Dieser Rat, der Mitte März tätig wurde, umfasste neben anderen Vertreter der UGTT, der PDP und der Ettajdid. Sein Name war allerdings ebenfalls irreführend. Er hatte keineswegs vor, die Massen in eine Revolution gegen den Staat zu führen. Seine Mitglieder waren vielmehr bestrebt, Posten im Staatsapparat zu finden, was sie auch umgehend taten, indem sie der Kommission von Ben Achour beitraten.

Achour stellt fest, dass seine Kommission die "Synthese" dieser beiden Kommissionen ist und erklärt, dass, wären sie eigenständig geblieben, "dies zu einer Krise hätte führen können und zu zwei parallelen Machtzentren, von denen das eine institutionell und das andere revolutionär war".

Institutionen zu schaffen, die dem Regime von Ben Ali die Macht streitig machen könnten, war jedoch das Letzte, was die offiziellen "Oppositions"-Parteien vorhatten. Stattdessen traten sie in die offizielle "Reform"-Kommission ein, um den rechten Staatsapparat und sein Vorgehen gegen die revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse politisch zu verschleiern.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 13.05.2011
Tunesische Regierung verhängt Ausgangssperre wegen der Proteste gegen Putschgefahr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2011