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GLEICHHEIT/3713: Die Bewegung vom Syntagma-Platz - Eine nicht sehr echte Demokratie


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Die Bewegung vom Syntagma-Platz - Eine nicht sehr echte Demokratie

Von Peter Schwarz in Athen
24. Juni 2011


Es ist nicht leicht, über die "Empörten" vom Syntagma-Platz zu berichten. Wir verbrachten fast eine Stunde damit, einen Verantwortlichen zu suchen, der uns über die Ziele und den Charakter der Bewegung Auskunft gibt. Ohne Erfolg.

Erst gingen wir zu einem Stand, über dem in großen Lettern stand, hier seien Auskünfte zu erhalten. Doch wie sich herausstellte, handelte es sich dabei lediglich um technische Auskünfte über die Gründung und Organisation neuer Komitees. Wir wurden zu einem anderen Stand verwiesen, der uns seinerseits ans Pressezentrum von www.real-democracy.gr weiterreichte - zu Deutsch: "echte Demokratie".

Wir wähnten uns am Ziel, doch eine Frau klärte uns in langen Worten darüber auf, dass niemand befugt sei, im Namen der Bewegung aufzutreten oder zu sprechen., auch keine Mitglieder des Leitungskomitees Das Pressezentrum habe lediglich die Aufgabe, die täglichen Diskussionen und Entscheidungen des Leitungskomitees und der "Volksversammlung" zu protokollieren und ins Netz zu stellen. Die Zusammensetzung des Leitungskomitees ändere sich täglich - einmal seien es 50, dann wieder 500. Wenn wir uns informieren wollten, sollten wir die Website konsultieren, auf der auch viele Beiträge in andere Sprachen übersetzt seien. Auch einzelne Teilnehmer der Bewegung könnten wir interviewen, aber diese sprächen nur für sich selbst.

Niemand war also bereit, über Ziel und Zweck der Bewegung Auskunft zu geben und dafür Verantwortung zu übernehmen. Dieses Versteckspiel ist kein Zufall. Es wird mit dem Prinzip der "echten" oder "direkten Demokratie" begründet, laut dem das Volk Entscheidungen direkt, ohne Vermittlung politischer Vertreter oder Parteien trifft. Tatsächlich dient es dazu, die wirklichen politischen Ziele der "Empörten" zu verbergen.

Schon die sogenannte "Volksversammlung", die jeden Abend um neun auf dem Syntagma-Platz stattfindet, erweist sich bei näherem Hinsehen als Farce. Was einige Pseudolinke als Reinkarnation der russischen Sowjets feiern, gleicht in Wirklichkeit eher dem Speakers Corner am Londoner Hyde Park. Es herrscht ein unbeschreiblicher Lärm. Das Publikum kommt und geht. Die Sprecher werden willkürlich ausgelost. Sie haben nur eine halbe Minute Zeit und dürfen sich nicht als Vertreter politischer Tendenzen zu erkennen geben.

Eine ernsthafte Debatte über politische Perspektiven ist unter diesen Umständen ebenso wenig möglich wie eine repräsentative Abstimmung. Sie sind auch gar nicht erwünscht. Jeder, der sich zufällig auf dem Platz befindet, darf seine Hand heben. Es gibt weder gewählte Vertreter noch abstimmungsberechtigte Delegierte. Das bietet jede Menge Möglichkeiten zur Infiltration und Manipulation.

Inhaltlich drehen sich die Diskussionen und Abstimmungen um organisatorische Fragen, wie Form und Zeitpunkt der nächsten Aktion. Auch alternative Modelle für die Begleichung der Staatschuld oder Vorschläge für eine neue Verfassung dürfen diskutiert werden. Eine durchdachte politische Strategie ist dagegen, wie Politik überhaupt, tabu.

Der angeblich unpolitische Charakter der Bewegung wird von ihren Vertretern immer wieder hervorgehoben. Fragt man nach den Verantwortlichen der Bewegung, schallt einem stereotyp die Antwort entgegen: "Hier gibt es keine Verantwortlichen, sondern nur gewöhnliche Leute". Tatsächlich verfügt die Bewegung aber über eine ausgefeilte politische Ideologie und Perspektive. Die Ablehnung von Politik dient dazu, jede Diskussion über eine andere Perspektive - oder genauer: über eine sozialistische Perspektive - zu unterbinden.

Geht man über den Syntagma-Platz, dann stellt man mit einiger politischer Erfahrung schnell fest, dass es sich bei den Organisatoren der Bewegung um erfahrene und routinierte Politiker handelt. Mehrere vertrauenswürdige Quellen haben uns bestätigt, dass sie größtenteils aus Organisationen wie SYRIZA, ANTARSYA und den darin zusammengeschlossenen Parteien stammen und ihre eigene Identität verschleiern.

Yiannis Bournous, Führungsmitglied von Synapsismos, der Schwesterorganisation der deutschen Linkspartei, brüstete sich in einem Interview: "Wir waren die erste Partei überhaupt, die ihre Mitglieder, Unterstützer und Sympathisanten aufgerufen hat, sich der Bewegung auf den Plätzen anzuschließen."

Und Stratos Kersanidis, der Pressesprecher von SYRIZA, bestätigte uns: "Wir waren hier alle von der Bewegung auf dem Syntagma-Platz überrascht. Sie war viel größer, als wir erwartet hatten. Wir haben das aber sofort unterstützt. Wir sind immer dort dabei und unterstützen diese Bewegung."

In SYRIZA und ANTARSYA arbeiten die pseudolinken Organisationen Griechenlands eng zusammen. Zu Syriza, wo Synaspismos die führende Rolle spielt, gehörten bis vor kurzem auch die griechischen Vertreter des Committee for a Workers' International (CWI), dem in Deutschland die SAV und in England die Socialist Party angeschlossen sind. Zu ANTARSYA gehören unter anderem die griechischen Vertreter der International Socialist Tendency (IST) und des pablistischen Vereinigten Sekretariats.

Die Führer dieser Organisationen sind erfahrene Praktiker linker bürgerlicher Politik. Sie verfügen über einen guten Draht zu PASOK und sind international aufs engste vernetzt. In Deutschland sitzen sie als Abgeordnete der Linken im Bundestag und treffen täglich auf die Vertreter der Regierung und der SPD, die das größte Interesse an der Verabschiedung des griechischen Sparpakets haben. In Frankreich verkehrt die pablistische Neue Antikapitalistische Partei seit langem in den führenden Kreisen des politischen Establishments. Über Telefon, e-mail und SMS stehen diese Leute ständig miteinander in Kontakt. Sie treten gemeinsam auf internationalen Foren auf und schreiben für dieselben Publikationen.

Unter den einfachen Aktivisten auf dem Syntagma-Platz gibt es alle möglichen halbanarchistischen Ideen und demokratischen Illusionen.

Nikos, ein arbeitsloser Mathematiker, erklärte uns, das Grundproblem seien nicht die Wirtschaft und die Regierung, sondern es sei in erster Linie "die Verantwortung von jedem einzelnen, sich zu verändern". Er sieht die Hauptschuld für die Schuldenkrise zwar bei "korrupten Politikern", doch auch viele kleine Leute hätten Schulden gemacht und trügen einen Teil der Verantwortung. Als Vorbild für die "direkte Demokratie" nannte er die Schweiz, eine Hochburg des internationalen Finanzkapitals.

Dimitros, ein Kellner, bezeichnete eine Verfassungsänderung, die Einstellung der Schuldenzahlung und die Verbesserung der sozialen Lage als Hauptziele der Bewegung. Dazu brauche man keine Regierung, sondern Komitees und Aktionen. "Wir haben kein Interesse, was in der Politik passiert; wir wollen die Dinge selbst verändern", sagte er. Das alte Griechenland sei die Wiege der europäischen Demokratie gewesen. "Nun wird Griechenland zum Vorbild für die direkte Demokratie in ganz Europa werden."

Im Gegensatz zu diesen konfusen Aktivisten wissen die Führer der pseudolinken Parteien sehr genau, was sie tun. Im vergangenen Jahr hatten sich die hinter die Gewerkschaften gestellt, die eng mit der regierenden PASOK zusammenarbeiten. Jetzt, nachdem die Gewerkschaften diskreditiert sind und die PASOK massiv an Unterstützung verliert, verstecken sie sich hinter den "Empörten", um die Opposition gegen die Regierung im Zaum zu halten.

Ihr Ruf "Keine Politik" ist selbst Politik, und zwar die übelste, die man sich vorstellen kann. Sie richtet sich ausschließlich gegen links, gegen die Entwicklung einer unabhängigen politischen Perspektive in der Arbeiterklasse. Für den Machterhalt Papandreous ist dies von entscheidender Bedeutung. Solange die "Empörten" den Widerstand auf unpolitische Proteste und reformistischen Illusionen beschränken, kann er seine Sparmaßnahmen durchzusetzen.

Die fruchtlosen Proteste bergen außerdem die Gefahr, dass die Stimmung kippt und sich Teile des von der Krise schwer betroffenen Kleinbürgertums der extremen Rechten zuwenden. Das Auftauchen nationalistischer Symbole auf dem Syntagma-Platz ist in dieser Hinsicht ein Alarmzeichen. Die historische Erfahrung hat immer wieder gezeigt, dass sich das radikalisierte Kleinbürgertum nach rechts orientiert und nach einer starken Hand verlangt, wenn die Arbeiterklasse das öffentliche Leben lahmlegt, sich aber als unfähig erweist, eine Entscheidung herbeizuführen.

Es ist bezeichnend, dass alle Vertreter der pseudolinken Parteien, mit denen wir sprachen, die Gefahr einer Militärdiktatur weit von sich weisen, obwohl Griechenland eine lange Geschichte rechter Diktaturen hat und die letzte Militärjunta die Macht vor weniger als vierzig Jahren aus der Hand gab. SYRIZA-Pressesprecher Kersanidis tat dies mit dem ebenso zynischen wie leichtsinnigen Argument, die herrschende Klasse brauche gar keine Diktatur mehr, weil sie ja sowieso die Medien kontrolliere und das Parlament Entscheidungen treffe, die im Widerspruch zur Verfassung stünden.

Gegen Papandreous Sparprogramm, das vom internationalen Finanzkapital diktiert wird, kommen symbolische Proteste nicht an. Das haben die Erfahrungen der vergangenen Monate unmissverständlich gezeigt. Die insgesamt 15 eintägigen Generalstreiks, die die Gewerkschaften ausriefen, konnten die Sparmaßnahmen der Regierung Papandreou ebenso wenig stoppen wie die Protestaktionen der "Empörten".

Der Kampf gegen Papandreous Sparprogramm erfordert den Aufbau einer schlagkräftigen Arbeiterpartei mit einer durchdachten, internationalen und sozialistischen Perspektive sowie einer erfahrenen Führung. Nur der Sturz des gegenwärtigen Regimes, die Errichtung einer Arbeiterregierung und die Ausdehnung dieses Kampfs auf ganz Europa kann eine gesellschaftliche Katastrophe verhindern. Doch eine solche Perspektive lehnen die "Empörten" vehement ab.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 24.06.2011
Die Bewegung vom Syntagma-Platz - Eine nicht sehr echte Demokratie
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2011