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GLEICHHEIT/3770: Unbeantwortete Fragen beim Terroranschlag in Norwegen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Unbeantwortete Fragen beim Terroranschlag in Norwegen

Von Susan Garth
29. Juli 2011


Fast eine Woche ist seit der faschistischen Gräueltat in Norwegen vergangen - dem Bombenanschlag auf ein Regierungsgebäude im Zentrum von Oslo, bei dem 8 Menschen starben und der kaltblütigen Ermordung von 68 Jugendlichen auf der Insel Utøya nahe der Stadt.

Dieser größte Terroranschlag der norwegischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg wird durchgängig als das Werk eines geisteskranken Einzeltäters dargestellt. Die Medien und Politiker sind eifrig damit beschäftigt, die politischen Motive des Attentäters zu verwischen, und seine Verbindungen zu rechtsextremen und faschistischen Vereinigungen zu verschleiern. Die politische und moralische Verantwortung, die die etablierten Parteien und Politiker in Europa und den USA tragen, wird im Dunkeln gehalten. Diese passen sich seit Längerem an die ausländer- und moslemfeindlichen Perspektiven der Rechtsextremen an.

Diese Vertuschung ist nicht einfach, denn der Attentäter Anders Behring Breivik hatte der ganzen Welt angekündigt, dass es sein Ziel war, die norwegische Arbeiterpartei zu zerstören und so viele ihrer Funktionäre und Mitglieder wie möglich zu töten, da er der Partei "marxistischen Multikulturalismus" unterstellte. In einem 1.500-seitigen Manifest, das er nur wenige Stunden vor dem Anschlag im Internet veröffentlichte, stellte Breivik, der Sohn eines ehemaligen norwegischen Diplomaten, seine Bluttat als Teil eines Feldzuges dar, durch den Norwegen vom Einfluss des Islam gesäubert und die "westliche Zivilisation" verteidigt werden soll.

Wie er erklärte, soll seine Tat den Beginn eines europäischen Bürgerkrieges signalisieren und anderen fanatischen Islamophoben als Fanal gelten. Geir Lippestad, sein Anwalt, sagte am Dienstag: "Er hält das für den Beginn eines Krieges, der 60 Jahre lang andauern wird."

In dem Wirbel, den die Medien und das politische Establishment veranstalten, um ernsthafte Diskussionen und Untersuchungen der Fakten des Anschlages und seiner politischen Implikationen zu verhindern, werden einige offenkundige Auffälligkeiten und unangenehme Fragen übergangen.

Da wäre die Tatsache, dass es 90 Minuten dauerte bis die Polizei auf Utøya, das nur etwa 30 Kilometer vor Oslo liegt, eintraf. Mitglieder der Jugendorganisation der Arbeiterpartei hatten verzweifelte Hilferufe per Handy abgesetzt, dass Dutzende Menschen von einem Schützen hingerichtet würden. Die offizielle Erklärung für das späte Eintreffen ist, dass keine Hubschrauber bereitgestanden hätten.

Wenn das stimmt, zeigt es nur, was der sogenannte "Krieg gegen den Terror" für ein Betrug ist. Norwegen hat Truppen nach Afghanistan geschickt und unterstützt den Krieg der USA und der Nato gegen Libyen, weil diese Interventionen angeblich nötig sind, um die Bevölkerung Norwegens und ganz Europas vor der allgegenwärtigen Bedrohung durch Terroranschläge zu beschützen. Aber wenn sich tatsächlich ein Terroranschlag auf norwegischem Boden ereignet - nicht von einem islamischen Extremisten begangen, sondern von einem gebürtigen Norweger aus der Mittelschicht - zeigt sich sofort, dass keine Vorbereitungen zum Schutz der Bevölkerung getroffen wurden.

Warum nicht? Weil die herrschende Klasse Norwegens und alle Parteien - Sozialdemokraten genauso wie Konservative - wissen, dass der sogenannte "Krieg gegen den Terror" nichts weiter ist als ein großer Vorwand für militärische Aggression gegen andere Staaten im Namen der imperialistischen Wirtschafts- und geopolitischen Interessen der Finanzelite. Außerdem dient er zu einem Angriff auf demokratische Rechte im Inland - als Vorbereitung auf staatliche Unterdrückung des Widerstands der Arbeiterklasse gegen Sparmaßnahmen. Er hat nichts mit dem Schutz der Bevölkerung vor Angriffen von außen zu tun.

Justizminister Knut Storberget hatte keine ernsthafte Erklärung für das langsame Vorgehen der Polizei anzubieten, durch das Breivik mehr als genug Zeit hatte, ungehindert einen Jugendlichen nach dem anderen zu ermorden. Stattdessen lobte er die Polizei für die "fantastische Arbeit", die sie geleistet habe.

"Ich möchte betonen, dass die Polizei großartige Arbeit geleistet hat, und denke nicht, dass es angemessen ist, sie zu kritisieren", erklärte er, als Journalisten nachfragten, warum sie sich 90 Minuten Zeit gelassen habe. "Es ist mir wichtig, allen Polizisten und Polizistinnen vor Ort zu gratulieren, ebenso allen höheren Polizeibeamten", betonte Storberget.

Auch der Einsatz der norwegischen "Delta Force", die Beredskapstroppen, die im Fall eines Terroranschlages die erste Verteidigungslinie bilden sollen, war nicht besser. Der Chef der Truppe Anders Snortheimsmoen sagte, sie sei zur gleichen Zeit auf der Insel angekommen wie die städtische Polizei.

Laut seinem Anwalt war Breivik selbst überrascht, dass er nach der Explosion der Bombe in Oslo noch dazu kam, das Massaker auf Utøya zu verüben. Er erwartete, sofort nach dem Bombenanschlag getötet zu werden. Die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der Breivik die Insel erreichte und seinen terroristischen Plan Wirklichkeit werden ließ, steht in deutlichem Kontrast dazu, wie lange die Polizei brauchte, um dieselbe Strecke zurückzulegen und ihn zu stellen.

Die Verzögerung des Polizeieinsatzes ist nur eine von vielen seltsamen unbeantworteten Fragen. Es wird berichtet, Breivik habe eine Polizeiuniform getragen. Wo hatte er sie her?

Anfangs wurde berichtet, sechs Menschen seien in Breiviks Apartment verhaftet worden. Später wurden sie angeblich freigelassen, weil sie nichts mit dem Fall zu tun hatten. Aber warum waren sechs Menschen im Haus eines Mannes, der als Einzelgänger beschrieben wird?

Breivik sagte ursprünglich, er habe alleine gehandelt, später sagte er, es gebe zwei weitere Terrorzellen in Norwegen, und weitere im Ausland. Die norwegische Polizei beeilte sich zu versichern, Breivik habe keine Komplizen gehabt.

Jane Kristiansen, die Chefin des Inlandsgeheimdienstes, hielt es für "sehr unwahrscheinlich", dass weitere Zellen existierten, obwohl andere Geheimdienste weltweit nach Verbindungen zu Breivik suchen. Auf welchen Fakten basiert Kristiansens Schlussfolgerung? Die Mainstream-Medien machen sich nicht einmal die Mühe zu fragen.

Es mehren sich die Beweise, dass Breivik Verbindungen zu rechtsextremen Vereinigungen hatte. Die English Defence League (EDL), die ursprünglich alle Verbindungen zu ihm leugnete, ist mittlerweile zurückgerudert und schließt die Möglichkeit nicht mehr aus, nachdem das britische Magazin Searchlight, das über rechte Gruppierungen ermittelt, Material veröffentlichte, das auf Kontakte zwischen der EDL und Breivik hindeutet.

Wenn Breivik Einzeltäter war, ist es schwierig zu erklären, wie er an die Chemikalien und Waffen kam, die bei dem Anschlag zum Einsatz kamen. Die norwegische Polizei vernichtete auf einem Bauernhof, den Breivik gemietet hatte, Sprengstoff. Sie verweigerten die Aussage darüber, um welche Mengen es sich dabei gehandelt hat. In einigen Meldungen wurde angedeutet, dass er insgesamt sechs Tonnen Sprengstoff besaß, die er von verschiedenen Firmen, teilweise aus Norwegen, teilweise aus dem Ausland gekauft hatte.

Seine Einkäufe erregten die Aufmerksamkeit der norwegischen Zollbehörde, die ihn dem Sicherheitsdienst meldete. Sein Name stand auf einer norwegischen Überwachungsliste, und auf einer von Interpol. Aber wie war er dann in der Lage, ungehindert seinen mörderischen Plan in die Tat umzusetzen?

Die Medien und offiziellen Kommentare versuchen krampfhaft zu verschleiern, was der Terroranschlag in Norwegen mit der zunehmenden Integration faschistischer Tendenzen in die Politik der bürgerlichen Parteien zu tun hat. Man bemüht sich, dieses politisch motivierte Verbrechen als isoliertes Ereignis darzustellen, das keine weitergehenden politischen Auswirkungen hat.

Der britische Journalist Simon Jenkins schrieb im Guardian: "Die Tragödie in Norwegen ist genau das: eine Tragödie. Sie hat keine Bedeutung, und man sollte ihr keine andichten. Ein Mann, der so wahnsinnig ist, dass er es für richtig hält, kaltblütig 68 junge Menschen zu töten, ist außergewöhnlich, aber für die Kriminologie und Hirnforschung, und nicht für die Politik."

Inzwischen verteidigen Sprecher einiger rechter Parteien, die an Regierungen beteiligt sind, Breiviks politische Ansichten. Francesco Speroni, führendes Mitglied der italienischen Lega Nord, dem Juniorpartner in Silvio Berlusconis konservativer Koalition, erklärte in einem Radiointerview: "Breiviks Ideen dienen der Verteidigung der westlichen Zivilisation."

Mario Borghezio, ebenfalls Politiker der Lega Nord und Mitglied des Europaparlamentes, sagte in einem Interview mit dem Radiosender Sole-24 Ore, er sympathisiere mit Breiviks Ideen. "Einiges von dem, was er geschrieben hat, ist gut, die Gewalt natürlich nicht. Einiges davon ist großartig", erklärte er.

Breivik ist ehemaliges Mitglied der norwegischen Fortschrittspartei, die sich für weniger Immigranten stark macht. Im Jahr 2009 erkannte Parteichefin Siv Jensen eine "schleichende Islamisierung der Gesellschaft", wofür sie die Arbeiterpartei verantwortlich machte. "Wir werden das aufhalten müssen", sagte sie.

Angeblich verließ Breivik die Fortschrittspartei, weil sie ihm nicht rechts genug war.

Was sich in Norwegen ereignet hat, ist ein faschistischer Terroranschlag. Sein unmittelbares Ziel war die norwegische Arbeiterpartei, aber es muss klar sein, dass die Kräfte, zu denen Breivik gehört, einen Krieg gegen die Arbeiterklasse führen.

Die norwegische Arbeiterpartei hat sich, wie alle sozialdemokratischen Parteien, in ihrer Politik an die extreme Rechte angenähert. Der Terroranschlag vom letzten Freitag wird sie noch weiter nach rechts treiben, und andere Parteien, ob sozialdemokratische oder andere, werden ihr folgen.

Der Anschlag in Norwegen ist das Ergebnis eines Prozesses, der faschistische Elemente seit Jahren begünstigt. Sie werden inzwischen als legitimer Bestandteil des politischen Lebens behandelt. Das Massaker enthüllt die Verkommenheit des politischen Systems in ganz Europa und darüber hinaus.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 29.07.2011
Unbeantwortete Fragen beim Terroranschlag in Norwegen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2011