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GLEICHHEIT/3908: Dutzende Tote und Verletzte im Jemen


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Dutzende Tote und Verletzte im Jemen
Präsident Saleh prüft Immunitäts-Deal

Von Will Morrow
27. Oktober 2011


Tausende nahmen am 19. Oktober an der Beerdigung von über dreißig Demonstranten teil, die in der Woche davor vom Regime Ali Abdullah Salehs getötet worden waren. Auf einen Vorschlag der USA und der europäischen Mächte, Präsident Saleh solle auf die Macht verzichten, ging dieser bisher nicht ein. Der Deal hatte ihm Immunität vor Strafverfolgung zugesichert.

Die jüngste Mordwelle begann am 15. Oktober, als schätzungsweise 300.000 Menschen sich um ein Protestlager in der Hauptstadt Sanaa zu einem Marsch versammelten. Das Gelände, genannt "Platz des Wandels", an dem die Proteste begannen, erstreckt sich über mehrere Kilometer. Seit Februar wohnen Tausende regierungsfeindliche Demonstranten und oppositionelle Stammesangehörige in Zelten entlang dieses Platzes.

Zeugenberichten im Guardian zufolge feuerten Polizisten in Zivil auf die Demonstranten, als diese eine wichtige Kreuzung an der Al-Zubeiri-Straße erreichten. Hier verläuft die Grenze zwischen dem Hauptstadtviertel, das von der Regierung kontrolliert wird, und den Vierteln, die unter der Kontrolle von Truppenteilen stehen, die zur Opposition übergelaufen sind. "Wir nahmen keine Soldaten wahr. Plötzlich fielen Schüsse aus den Häusern überall um uns herum", sagte Ahmed Bin Mubarak, Professor an der Universität Sanaa, dem Guardian. Mohammed Al Qubati, Chirurg am "Platz des Wandels", sagte: "Die meisten Demonstranten wurden durch Schüsse in den Hinterkopf oder in den Nacken erschossen."

Obwohl das Regime derart brutal angriff, setzten die Demonstranten die Märsche aus ihrem Lager in den folgenden drei Tagen fort. Viele Menschen schreiben sich ihren Namen auf den Körper, um identifiziert werden zu können, falls sie getötet werden.

Laut Associated Press wurden bei einem Marsch am 16. Oktober vier weitere Menschen getötet, am 18. Oktober starben zwölf weitere, und siebzig wurden verletzt.

In den Protestmärschen und dem bewiesenen Opfermut zeigt sich zweifellos aufrichtige Feindschaft gegen das Regime und tiefe gesellschaftliche Unzufriedenheit über die Lebensbedingungen der leidenden Bevölkerung. Seit Januar hat sich im Jemen der Brotpreis um mehr als fünfzig Prozent erhöht; die offizielle Armutsrate liegt bei vierzig Prozent. Wie die Vereinten Nationen festgestellt haben, leiden dreißig Prozent der Kinder unter fünf Jahren an Mangelernährung.

Die Führung der Anti-Saleh-Bewegung ist allerdings von Elementen dominiert, die versuchen, die Unruhe im Volk für ihre Zwecke zu nutzen. Neben den unbewaffneten Demonstranten kämpfen auch Soldaten des ehemaligen Saleh-Generals Ali Mohsen gegen die Regierungstruppen.

Mohsen unterdrückte im Jahr 2004 in einem Krieg des Regimes eine schiitische Rebellion im Norden und gilt als eine der mächtigsten Figuren im Jemen. Seitdem er im März zur Opposition übergelaufen war, appelliert er immer wieder an die imperialistischen Mächte, militärisch zu intervenieren. Er führt den gleichen betrügerischen Vorwand an, der schon im Libyenkrieg zum Sturz des Gaddafi-Regimes herhalten musste, dass nämlich der humanitäre Schutz von Zivilisten ein Eingreifen der Imperialisten erfordere. Am 16. Oktober erklärte Mohsen: "Wir fordern die internationale Gemeinschaft zu einer dringenden Intervention auf, um die Massaker dieses unverschämten Mörders sofort zu beenden."

Am selben Tag brachen auch in Sanaas nördlichem Stadtteil Hasaba Kämpfe aus. Saleh-treue Stämme gerieten mit Mitgliedern des Hashed-Stammes aneinander, der unter der Führung von Sadeq und Hamid Al-Ahmar stehen. Die Hashed-Führer haben vor einigen Monaten ihre Unterstützung der Regierung aufgegeben, nachdem sie zuvor Hauptstützen des Regimes gewesen waren. Berichten zufolge haben beide Seiten Mörserfeuer und Flugabwehrraketen eingesetzt.

Saleh versucht offenbar, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Deshalb der deutlich verstärkte Einsatz der Sicherheitskräfte, die seinem Regime noch ergeben sind, gegen die Opposition. Saleh verweigert sich bisher dem Modus zur Machtübergabe, der vom Golf-Kooperationsrat ausgearbeitet wurde und von den USA und anderen imperialistischen Mächten unterstützt wird.

Saleh behauptete am 16. Oktober, die Proteste seien ein "Militärputsch" der oppositionellen islamistischen Islah-Partei in Zusammenarbeit mit Al Kaida. Laut Al-Arabiya versuchten jemenitische Regierungsvertreter, den Golf-Kooperationsrat davon zu überzeugen, das Abkommen soweit abzuändern, dass Saleh im Amt bleiben könne, bis Wahlen abgehalten würden. In den letzten Monaten hat Saleh wiederholt zugesagt, die Vereinbarung zu unterzeichnen, schließlich aber immer wieder einen Rückzieher gemacht.

Das vorgeschlagene Abkommen sieht vor, dass die Macht an den Vize-Präsidenten übergehen und dieser eine Übergangsregierung bilden solle. Saleh und seine Familie würden Immunität vor Strafverfolgung erhalten. Die neue Regierung solle Minister des gegenwärtigen Regimes sowie Mitglieder der offiziellen Opposition einschließen. Das Modell läuft unter dem Namen Joint Meeting Parties, JMP.

Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und China) haben vor zwei Wochen einen von Großbritannien eingereichten Resolutionsentwurf zu Jemen diskutiert. Der fünfzehnköpfige Weltsicherheitsrat wollte sich noch vor Ende Oktober mit dieser Resolution befassen.

Die Nachrichtenagentur Reuters, welcher der Entwurf zugespielt wurde, zitiert aus der Resolution: "Alle Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen und Übergriffe müssen zur Rechenschaft gezogen werden." Die Hohlheit dieser Aussage wird durch die Tatsache unterstrichen, dass die Resolution Saleh auffordert, "unverzüglich zu unterzeichnen und einen politischen Übergang auf der Grundlage der Initiative des Golf-Kooperationsrates umzusetzen", die ihm Immunität vor Strafverfolgung garantiert.

US-Außenamtssprecher Mark Toner sagte Reportern am vergangenen Mittwoch: "Wir fordern nur, dass Präsident Saleh sein Versprechen erfüllt, die Vereinbarung mit dem Golf-Kooperationsrat ohne weitere Verzögerung unterschreibt und vor Ende des Jahres Präsidentschaftswahlen im Rahmen dieser Vereinbarung abhält."

Hier zeigt sich, dass zwischen der Haltung der imperialistischen Mächte zur repressiven Regierung im Jemen und zum Gaddafi-Regime in Libyen ein krasser Gegensatz besteht.

Im Falle Libyens nutzten die USA und die europäischen Mächte potentielle Massaker der Gaddafi-Getreuen in Bengasi und Misrata als Vorwand, um ihre imperialistischen Bombenangriffe zu rechtfertigen. Ziel war die Einsetzung einer willfährigeren Stellvertreterregierung in Form des Nationalen Übergangsrats. Der neo-koloniale Feldzug nutzte auch den Internationalen Strafgerichtshof als Instrument der Kriegsführung: Dienstfertig stellte das Gericht Haftbefehle gegen Gaddafi und weitere Mitglieder seines Regimes aus und setzte letztere damit dem Druck aus, zur Opposition überzulaufen.

Im Jemen, wo fast 200 Menschen getötet wurden, seitdem die Proteste im September eskaliert sind, beabsichtigen die USA und die europäischen Mächte die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Regimes, nur ohne Saleh. Sie bieten Saleh Immunität für alle seine Verbrechen an, weil sie dies als die beste Möglichkeit betrachten, ihr Ziel zu erreichen.

Die Saleh-Regierung ist seit 2001 Verbündeter der USA im "Krieg gegen den Terror". Saleh akzeptiert den Einsatz von US-Drohnen im Jemen. Die US-Streitkräfte haben Jemens Sicherheitsapparat ausgebildet und einflussreiche Vertreter des gegenwärtigen Regimes, einschließlich Mitglieder der Saleh-Familie, an dessen Spitze gestellt.

Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass die USA Salehs politische Krise auch für eine stärkere Zusammenarbeit mit der jemenitischen Regierung nutzen wollen. Die Obama-Regierung hat US-Drohnen-Angriffe im Süden des Landes ausgeweitet und dortige Al Kaida-Stützpunkte angegriffen.

CIA-Direktor David Petraeus bemerkte am 13. September anerkennend: "Die Anti-Terror-Zusammenarbeit mit dem Jemen hat sich in den letzten Monaten in der Tat verbessert." Am 30. September ermordeten die USA den US-Bürger Anwar Al-Awlaki. Laut Voice of America behaupten jemenitische Beamte, die Tötung sei das Ergebnis der "verbesserten Geheimdiensttätigkeit einer Armee von jemenitischen Informanten", sowie der jemenitischen Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien. Am 14. Oktober kamen durch den Angriff einer US-Drohne neun weitere Menschen ums Leben. Unter ihnen befand sich auch der sechzehnjährige Sohn von Al-Awlaki, Abdulrahman, ebenfalls amerikanischer Staatsbürger.

Die Obama-Regierung und andere Großmächte wollen vor allem die politische Stabilität im Jemen aufrechterhalten. Die nördliche jemenitische Region Saada grenzt an Saudi-Arabien und beherbergt schiitische Rebellengruppen. Sie könnten die Herrschaft der saudischen Monarchie destabilisieren. Im Süden Jemens überblickt der Hafen von Aden eine wichtige Schifffahrtsstraße in der Meerenge Bab el-Mandeb. Offenbar wird erwartet, dass alle Proteste eingestellt werden, sobald Saleh die vom Golf-Kooperationsrat ausgearbeitete Vereinbarung unterschreibt. Saleh soll einfach Platz für eine neue Marionette des Imperialismus machen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 27.10.2011
Dutzende Tote und Verletzte im Jemen
Präsident Saleh prüft Immunitäts-Deal
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2011