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GLEICHHEIT/3915: Papandreou kündigt Volksabstimmung über Beschlüsse des EU-Gipfels an


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Papandreou kündigt Volksabstimmung über Beschlüsse des EU-Gipfels an

Von Peter Schwarz
2. November 2011


Der griechische Regierungschef Giorgos Papandreou hat am Montagabend eine Volksabstimmung über die Maßnahmen angekündigt, die die europäischen Staats- und Regierungschefs am 26. Oktober in Brüssel vereinbart haben. Er überraschte damit sowohl die griechische Öffentlichkeit wie die Regierungen der anderen EU-Länder.

Das angekündigte Referendum stellt die Beschlüsse des EU-Gipfels von Brüssel wieder in Frage, die erst nach wochenlangen heftigen Auseinandersetzungen zustande gekommen waren. Sie sehen einen 50-prozentigen Schuldenschnitt für Griechenland, verbunden mit weiteren harten Sparmaßnahmen und einer strikte Kontrolle der EU über den griechischen Haushalt vor. Sollten sich die griechischen Wähler gegen die Beschlüsse des Gipfels entscheiden, hätte dies voraussichtlich das Ausscheiden Griechenlands aus der gemeinsamen Währung und möglicherweise deren Scheitern zur Folge.

Allein die Vorstellung, die griechische Bevölkerung könne über die Gipfelbeschlüsse mitentscheiden, schickte die Börsenkurse am Dienstag auf Talfahrt. Europaweit fielen die Kurse. Der DAX verlor bis Mittag fast 6 Prozent, die Kursverluste einiger Großbanken lagen im zweistelligen Bereich, und auch der Euro gab deutlich nach.

Papandreou begründete seine Entscheidung für ein Referendum mit den Worten: "Die Bürger sind die Grundlage unserer Stärke. Wir werden sie aufrufen, zu der neuen Schuldenvereinbarung klar 'Ja' oder 'Nein' zu sagen. Wenn die Bürger selbst entscheiden können, ist das ein höchst demokratischer und patriotischer Vorgang. Wir haben Vertrauen zu unseren Bürgern, wir glauben an ihr Urteilsvermögen, wir glauben an ihre Entscheidung."

Bedenkt man, dass Papandreou in den letzten zwei Jahren ein Sparpaket nach dem anderen gegen erbitterten Widerstand durchgesetzt hat, ist dieses plötzliche Bekenntnis zur demokratischen Mitsprache mehr als unglaubwürdig. Papandreou ist offensichtlich zum Schluss gelangt, dass er den verheerenden Sparkurs nur fortsetzen kann, wenn er alles auf eine Karte setzt.

Der Sparkurs der vergangenen zwei Jahre hat den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten zerstört. Entsprechend wächst der Widerstand. Mitte Oktober beteiligten sich Hunderttausende an einem zweitägigen Generalstreik, den die Gewerkschaften ausgerufen hatten, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Der Regierungschef hat kaum noch Unterstützung. Auch im Parlament verfügt er nur noch über eine Mehrheit von zwei Stimmen.

Die Verbitterung über die Sparpolitik ist derart tief, dass viele Abgeordnete der PASOK nicht mehr wagen, sich in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. "Wir können noch nicht einmal mehr das Haus verlassen und in eine Taverne gehen", zitiert der Guardian einen Abgeordneten der Regierungspartei, der nicht genannt werden wollte. "Sie schimpfen uns Schweine und Verräter, weil wir Maßnahmen verabschiedet haben, die keiner von uns verabschieden wollte."

Die konservative Nea Dimokratia weigert sich bisher, Papandreous Kurs zu unterstützen, obwohl sie unter erheblichem Druck ihrer europäischen Parteifreunde steht. Sie versucht die Krise auszunutzen, um selbst wieder an die Regierung zu gelangen.

Mit dem Referendum zwingt Papandreou die Nea Dimokratia, die Gewerkschaften und die zahlreichen linken Organisationen in ihrem Umkreis, Farbe zu bekennen. Er weiß, dass sie seinen EU-Kurs im Prinzip unterstützen und eine revolutionäre Bewegung gegen die Sparmaßnahmen ebenso fürchten wie er. Indem er ein klares "Ja" oder "Nein" zu den Vereinbarungen mit der EU verlangt, zwingt er sie, einen klaren Standpunkt zu beziehen.

Entsprechend verärgert reagierte ND-Führer Antonis Samara. "Das ist völlig wahnsinnig," kommentierte er Papandreous Referendums-Pläne. "Der Mann versucht, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, und stellt die Griechen vor das Dilemma, entweder für seinen Verbleib an der Macht zu stimmen oder Europa zu vergessen." Teil Europas zu sein, sei für Griechen seit langem ein strategischer Grundsatz, den Papandreou nun aufs Spiel setze. "Wir werden alles Notwendige tun, um eine solche Entwicklung zu verhindern", betonte Samara.

Seine eigene Partei will Papandreou bereits Freitagnacht mit einem neuerlichen Vertrauensvotum auf Linie bringen. Er hat angekündigt, die Parlamentsentscheidung über das Referendum mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Er rechnet damit, dass die Angst vor dem Verlust des Mandats die PASOK-Abgeordneten disziplinieren wird.

Während der Vorbereitung des Referendums, das im Januar stattfinden könnte, wird Papandreou die Wähler mit der Drohung vor einem drohenden Staatsbankrott erpressen. Er wird sie vor die Alternative stellen: "Brutalo-Sanierung innerhalb der Euro-Zone oder Staatsbankrott mit Drachme-Einführung", wie es SpiegelOnline formuliert. Entscheiden sie sich gegen die Sparmaßnahmen der EU, drohen wirtschaftlicher Kollaps, galoppierende Inflation, der Verlust von Ersparnissen und - angesichts des zu erwartenden politischen Chaos - Diktatur.

Finanzminister Evangelos Venizelos, der starke Mann hinter Papandreou, hat dies ungeschminkt ausgesprochen. "Wollen die Griechen in Europa bleiben, in der Eurozone mit dem Euro in einem Land, das zur entwickelten Welt gehört, oder wollen sie in die 1960er Jahre zurückkehren?", fragte er vor dem Parlament. Die Drohung war unüberhörbar. In den 1960er Jahren hatten die griechischen Generäle in einem Staatsstreich die Macht ergriffen und für sieben Jahre eine blutige Diktatur errichtet.

Sollte es Papandreou gelingen, mit der Drohung vor wirtschaftlichem Chaos und Diktatur eine Mehrheit zu gewinnen, wird er sie benutzen, um den Widerstand gegen die Sparmaßnahmen zu kriminalisieren. Die Financial Times Deutschland bezeichnete Papandreous Kurs deshalb als "hochriskant, aber richtig". Da die Regierung in der gegenwärtigen, feindseligen Atmosphäre schwer erfolgreich Politik machen könne, biete er die einzige Chance, "den Gegnern mit einem Sieg bei der Volksabstimmung die Legitimation zu nehmen".

Papandreou kann diesen riskanten Kurs nur wagen, weil niemand eine politische Alternative vorbringt. Die Gewerkschaften, die Stalinisten und die zahlreichen pseudolinken Organisationen, die in der griechischen Politik mitmischen, unterstützen entweder die PASOK-Regierung, die sie als kleineres Übel bezeichnen, oder sie schüren einen schamlosen Nationalismus. In der Regel tun sie beides gleichzeitig.

So stimmte Syriza, die Schwesterorganisation der deutschen Linkspartei, nach dem Gipfel von Brüssel gemeinsam mit rechten und linken Medien das Lied von der nationalen Unterdrückung Griechenlands an. Griechenland werde "in Zukunft von seinen Gläubigern regiert" (Syriza-Abgeordneter Dimitris Papadimoulis), "offiziell in ein europäisches Protektorat umgewandelt" (Eleftheros Typos), in seiner "nationalen Würde gestutzt" (Vradyni), "dauerhaft durch EU und IWF besetzt" (Avriani) und von "deutschen Panzern" überrollt (Eleftherotypia).

Diese nationalistische Propaganda spaltet die internationale Arbeiterklasse, unterdrückt die Solidarität mit den Arbeitern anderer europäischer Länder, die ähnlichen Angriffen ausgesetzt sind, und schürt eine Stimmung der nationalen Einheit, die den rechtesten Elementen zugutekommt.

Ungeachtet der reaktionären Überlegungen, die Papandreou mit seinen Referendumsplänen verbindet, sind sie Ausdruck der enormen Krise und Instabilität des europäischen und internationalen Kapitalismus. Weniger als eine Woche nach dem EU-Gipfel von Brüssel, der die europäischen Schuldenkrise lösen sollte, sind seine Beschlüsse bereits wieder Makulatur. Es ist fraglich, ob die für Anfang nächsten Jahres geplante Umschuldung überhaupt stattfinden kann, solange die Haltung Griechenlands nicht geklärt ist.

Mit jeder Verzögerung wächst die Gefahr, dass auch andere Länder wie Portugal, Irland, Spanien und Italien in den Staatsbankrott treiben. Allein die Ankündigung des griechischen Referendums hat die Börsen und Finanzmärkte wieder ins Trudeln gebracht. Die Regierungen Europas kennen auf diese Probleme keine andere Antwort als weitere, immer härtere Sparprogramme.

Dagegen regt sich überall Widerstand - und hier liegt die Antwort auf die Krise. Die europäischen Arbeiter müssen sich zusammenschließen und den Kampf gegen die Angriffe auf ihre sozialen und demokratischen Rechte gemeinsam führen. Sie müssen mit den Parteien und Gewerkschaften brechen, die sie spalten, gegeneinander ausspielen und den jeweiligen nationalen Interessen unterordnen.

Sie müssen für ein sozialistisches Programm kämpfen. Die großen Banken und Konzerne müssen entschädigungslos enteignet und unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Um das Wirtschaftsleben im Interesse der großen Mehrheit neu zu organisieren, müssen Arbeiterregierungen errichtet und Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa aufgebaut werden.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 02.11.2011
Papandreou kündigt Volksabstimmung über Beschlüsse des EU-Gipfels an
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2011