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GLEICHHEIT/5399: Euro rutscht nach Interview mit EZB-Präsident auf tiefsten Stand seit vier Jahren


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Euro rutscht nach Interview mit EZB-Präsident auf tiefsten Stand seit vier Jahren

Von Nick Beams
6. Januar 2015



Der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hat angedeutet, dass die EZB nach dem nächsten Treffen des EZB-Rates am 22. Januar mit großer Wahrscheinlichkeit ihr Programm der "quantitativen Lockerung" ausweiten und den Finanzmärkten noch mehr extrem billiges Geld zur Verfügung stellen wird.

Seine Äußerungen in einem Interview im Handelsblatt kamen vor dem Hintergrund weiterer Anzeichen, dass die Eurozone in eine offene Deflationsperiode eintritt.

Nach der Veröffentlichung des Interviews, das als ein Versuch des EZB-Präsidenten aufgefasst wurde, den Widerstand in Deutschland gegen eine weitere quantitative Lockerung (QE) zu verringern, fiel der Euro auf den tiefsten Stand gegenüber dem Dollar seit vier Jahren. Auch die Erträge auf europäische Staatsanleihen erreichten einen neuen Tiefstand - ein Anzeichen für deflationären Druck. Die Zinsen für deutsche Fünfjahres-Anleihen gingen zum ersten Mal in den Negativbereich, das heißt, die Investoren zahlen praktisch dafür, der Regierung Geld zu leihen.

Draghi erklärte der Zeitung, die EZB habe das Mandat, "die Inflation unter und zugleich nahe zwei Prozent zu halten. Das ist unsere gesetzliche Verpflichtung. Und das müssen wir - im Rahmen des Auftrags, den uns die Europäischen Verträge gegeben haben - erreichen." Von der Erfüllung dieses Mandats ist sie jedoch noch weit entfernt.

Offizielle Zahlen, die nächste Woche veröffentlicht werden sollen, werden vermutlich zeigen, dass die Inflationsrate in der Eurozone aufgrund des starken Rückgangs der Ölpreise auf unter Null gesunken ist. Das könnte möglicherweise der Beginn einer Deflationsspirale sein.

Andrew Roberts, der oberste Verantwortliche der Royal Bank of Scotland für Kredite, erklärte dem Londoner Daily Telegraph: "Die Eurozone versinkt in eine schädliche Deflation, und es ist bereits zu spät, um sie aufzuhalten. Wir glauben, dass die Inflationsrate im Dezember bereits negativ war. Die EZB steckt in Schwierigkeiten und sie weiß es."

Draghi erklärte in dem Interview, die Gefahr bei einer Deflation sei, "dass die Leute auf weiter sinkende Preise setzen und ihre Ausgaben einfach verschieben. So weit sind wir nicht. Aber wir müssen gegen dieses Risiko angehen."

Draghi erklärte, das Risiko, dass die EZB ihr "Mandat zur Inflation" nicht erfüllen kann, sei höher als vor sechs Monaten. Auf die Frage, wie er die Bilanzsumme der EZB von zwei auf drei Billionen Euro erhöhen wolle, erklärte er: "Wir sind in technischen Vorbereitungen, um den Umfang, das Tempo und die Zusammensetzung unserer Maßnahmen Anfang 2015 zu verändern, sollte dies notwendig werden, um auf eine zu lange Periode zu niedriger Inflation zu reagieren. Darin besteht Einstimmigkeit im EZB-Rat."

Die letztere Äußerung richtete sich gegen den Eindruck, dass die EZB aufgrund des Widerstandes aus hohen Kreisen der Politik und der Finanz nicht in der Lage sein werde, ihr QE-Programm zu verschärfen.

Auf die Frage nach dem Widerstand des Präsidenten der deutschen Bundesbank, Jens Weidman, der einen Aufkauf von Staatsanleihen im großen Stil, der das Zentrum eines erweiterten QE-Programms bilden würde, für unnötig und illegal hielt, wiederholte Draghi seine früheren Äußerungen, es habe "mehrere interessante Unterhaltungen" über das Thema gegeben.

Er begab sich auf eine schmale Gratwanderung; einerseits erklärte er: "Der Kauf von Staatsanleihen ist eins der Werkzeuge in unserem Werkzeugkasten, die wir in Erfüllung unseres Mandats nutzen können," andererseits machte er deutlich, dass die EZB keine, "Staatsfinanzierung" betreiben könne.

Die "technischen Vorbereitungen," von denen Draghi sprach, sollen scheinbar einen Finanzmechanismus entwickeln, mit dem die EZB Staatsschulden aufkaufen kann, ohne direkt eine bestimmte Regierung zu finanzieren.

Draghi gab sich alle Mühe, die Differenzen innerhalb des EZB-Rates, vor allem mit Deutschland, der größten Volkswirtschaft in der Eurozone, als "interessante Unterhaltungen" kleinzureden. Doch diese Streitigkeiten tauchten während eines außergewöhnlichen Austausches in dem Interview auf.

Auf die Frage, ob Europa trotz Deutschlands Widerstand am Ende nicht doch Eurobonds brauche, d.h., gemeinsame Anleihen, für die alle Staaten garantieren, antwortete Draghi: "Dazu brauchen sie das Vertrauen in den Partner. Danach jetzt zu fragen ist die falsche Frage zum falschen Zeitpunkt. Ein solches Klima des Vertrauens muss erst noch entstehen."

Auf die Feststellung des Interviewers, er stehe unter "enormem Druck," erklärte Draghi, sein Pflichtbewusstsein gebe ihm Kraft und treibe ihn durch den Tag. Der Interviewer erklärte daraufhin: "Das wirkt sehr preußisch für einen Italiener." Draghi antwortete darauf: "Ich glaube Pflichterfüllung ist keine nationale Besonderheit der Deutschen."

Diese Bemerkungen wirkten zwar recht unbeschwert, aber sie zeigten die Spannungen im Zentrum der EZB.

Die Finanzmärkte, vor allem britische und amerikanische Banken, üben Druck auf Draghi aus, noch mehr billiges Geld zur Verfügung zu stellen. Die deutschen Banken fürchten jedoch, dass sie durch ein erweitertes QE-Programm letzten Endes für die Schulden anderer europäischer Regierungen haftbar gemacht und damit gegenüber ihren globalen Rivalen geschwächt werden.

Die jüngsten Ergebnisse des Einkaufsmanagerindexes, den das Unternehmen Markit zusammenstellt, zeigten die zugrundeliegenden rückläufigen Entwicklungen der europäischen Wirtschaft, die die Deflation befeuern. Der Index des produzierenden Sektors lag im Dezember bei 50,6 - nur knapp über dem Wert von 50, der Wachstum von Rückgang trennt. Frankreich und Italien verzeichneten einen Abschwung, Deutschland nur einen bescheidenen Anstieg.

Markit-Chefökonom Chris Williamson erklärte zu den Ergebnissen: "Die industrielle Aktivität in der Eurozone hat im Dezember wieder mehr oder weniger stagniert und damit ein Jahr abgerundet, in dem ein anfangs vielversprechend wirkender Aufschwung in der zweiten Jahreshälfte versandete und stagnierte.

Die Maßnahmen, die die EZB eingeleitet hat, haben die zugrundeliegende Wirtschaft nicht angekurbelt; die größten Auswirkungen hatte sie auf den Finanzmärkten.

Wie der Interviewer des Handelsblattes anmerkte, ist das Geld in die Aktien-, Immobilien und Kunstmärkte geflossen, der Kurs der Allianz habe sich "in drei Jahren verdoppelt, ohne dass sich der Vorstandschef oder die Produkte verändert hätten."

Draghi gab zu, dass die Gefahr einer weiteren Krise besteht, behauptete jedoch, es gebe derzeit "keine spekulativen Blasen."

Während des ganzen Interviews bekannte sich Draghi zu der Politik, auf die sich alle Teile der Finanz- und Wirtschaftselite in Europa und der Welt geeinigt haben: dass weitere wirtschaftsfreundliche Maßnahmen und Angriffe auf die Arbeiterklasse notwendig sind.

Auf die Frage, warum Europa in einer so viel schlechteren Position sei als die USA, wies Draghi auf den Mangel an "wirksamen Strukturreformen" hin - das Codewort für solche Maßnahmen - und stellte den hohen Einkommenssteuersätzen in Europa diejenigen im Rest der Welt gegenüber.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 06.01.2015
Euro rutscht nach Interview mit EZB-Präsident auf tiefsten Stand seit vier Jahren
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2015


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