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GLEICHHEIT/5645: Österreich - 71 Flüchtlinge ersticken in Lastwagen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Österreich: 71 Flüchtlinge ersticken in Lastwagen

Von Marianne Arens und Patrick Martin
29. August 2015


Der Blutzoll an verzweifelten Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten in Nahost und Afrika steigt ohne Unterlass. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Europa derart grauenhafte Szenen nicht mehr erlebt.

Die meisten Flüchtlinge versuchen, den Kriegen und Bürgerkriegen zu entkommen, die die Imperialisten entfesseln. Dafür sind in erster Linie die Vereinigten Staaten verantwortlich, aber auch ihre Verbündeten Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Spanien und die Niederlande.

Die Flüchtlinge kommen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, sowie aus Libyen und anderen Ländern Ost- und Westafrikas. Sobald sie ihr Land verlassen haben, geraten sie auf Schritt und Tritt in immer schrecklichere Zwangslagen. Sie sind mit Grenzschützern und brutalen Polizisten konfrontiert, sowie mit Schleusern, die sie im Schiffsbauch oder im Innern eines LKWs ersticken lassen. Oder sie werden vom neonazistischen Mob in Sachsen angegriffen, dem die deutschen Behörden freie Hand lassen.

Dieses Jahr haben laut UN- und EU-Zahlen schon über 300.000 Menschen das Mittelmeer überquert, weit mehr als in 2014. 180.000 von ihnen nahmen die Passage von der Türkei auf eine griechische Insel, danach durch Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Ungarn, und von dort ins EU-Innere.

Die UN gehen davon aus, dass diese Woche täglich dreitausend Migranten den Balkan auf der Landroute durchqueren, was einer Jahresrate von über einer Million Menschen entsprechen würde. Der Hauptteil ist dem Bürgerkrieg in Syrien entronnen. Die Regierung in Washington facht diesen Krieg ständig weiter an, und ihre Verbündeten Saudi Arabien, Katar und die Türkei beliefern ihn mit Waffen.

Über hunderttausend weitere Menschen haben dieses Jahr schon den noch gefährlicheren Weg von Libyen aus über das Mittelmeer nach Italien eingeschlagen, wobei mindestens 2.500 Menschen den Tod gefunden haben. Dieser Blutzoll hat sich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag noch einmal erhöht, als zwei weitere Schiffe vor der libyschen Küste kenterten.

Bei diesen zwei Havarien sind mindestens 200 Flüchtlinge ertrunken. Das kleinere Schiff hatte etwa hundert Menschen an Bord, und ein größerer Fischkutter war mit über 400 Menschen beladen. Der libysche Rote Halbmond klagte gegenüber Vertretern des UN-Hilfswerks UNHCR, ihm stünden nicht genügend Leichensäcke zur Verfügung.

Die meisten Opfer auf dem Fischkutter waren im Frachtraum eingesperrt, als er kurz nach Auslaufen aus der Hafenstadt Suwara zu Sinken begann. Für sie gab es kein Entkommen. Von den andern wurden über hundert Menschen lebend geborgen. Bei diesen Migranten soll es sich hauptsächlich um Afrikaner gehandelt haben.

Wie die International Organisation for Migration (IOM) sagte, wurden am 22. und 23. August in der Nähe von Sizilien 4.400 Menschen aus dem Mittelmeer geborgen. Damit ist dieses Wochenende eins der schlimmsten dieses Jahres für die Rettungsteams.

Die grauenhafte Tragödie auf der Autobahn A4 von Budapest nach Wien zeigte dann, wie lebensgefährlich auch diese, angeblich sicherere Landroute für Flüchtlinge ist: In einem verlassenen Kühl-LKW lagen 71 tote Menschen, 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder: ein Mädchen, das noch keine zwei Jahre alt war, und drei Jungen im Alter zwischen acht und zehn Jahren.

Ein österreichischer Mitarbeiter der Autobahngesellschaft Asfinag hatte den abgestellten LKW am Donnerstag in einer Pannenbucht nahe dem Neusiedlersee entdeckt, als bereits Verwesungsflüssigkeit aus dem Wagen tropfte. Die herbeigerufene Polizei ließ den Lastwagen zur Veterinär-Grenzdienststelle nach Nickelsdorf an der ungarischen Grenze schleppen, wo Polizeiermittler die Toten bargen und das Fahrzeug untersuchten, ehe sie die Leichen in die Gerichtsmedizin nach Wien bringen ließen.

Als Todesursache muss Ersticken angenommen werden. Der Kühlraum des Wagens, eigentlich für Geflügelfleisch vorgesehen, hatte keine Frischluftöffnung. Beulen an einer Wagenseite wiesen darauf hin, was für entsetzliche Szenen sich im Innern des LKWs wohl abgespielt hatten, als die Flüchtlinge verzweifelt versuchten, dem Erstickungstod zu entgehen.

Die ungarische Polizei nahm am Freitag vier Personen, drei bulgarische und einen ungarischen Staatsbürger, als Halter und Fahrer des Schlepperlasters fest, nachdem Überwachungsbilder von mehreren Mautstellen ausgewertet worden waren. Seither ergehen sich Medien und Politiker wieder in Tiraden gegen das kriminelle Schlepperwesen. Schätzungen zufolge musste jeder der 71 Flüchtlinge bis zu tausend Euro für die Fahrt bezahlen.

Der Menschenschmuggel ist jedoch nur deshalb ein so lukratives Geschäft, weil die EU-Länder ihre Grenzen dicht machen. Sie versuchen, die Menschen, die vor Krieg und Terror flüchten, mit Zäunen und messerscharfen Stacheldrahtverhauen, mit rigiden Polizeikontrollen und scharfen Hunden vom Überqueren der Grenzen abzuhalten.

"Wer Schleppern wirklich das Handwerk legen wollte, müsste ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen, also die Grenzen Europas für Flüchtlinge öffnen", schreibt Florian Hassel in der Süddeutschen Zeitung ganz richtig. Um hinzuzufügen: "Dazu sind europäische Politiker ... nicht bereit."

Der grausige Fund wurde während des Westbalkangipfels in der Wiener Hofburg entdeckt, wo sich Kanzlerin Angela Merkel, der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini mit den Regierungschefs der sechs westlichen Balkanstaaten trafen. Das Ziel war, eine bessere Kontrolle über die Fluchtrouten zu vereinbaren und die EU-Außengrenzen weiter abzuschotten [1].

Merkel reagierte am Rande des Gipfels auf das neue Drama mit den Worten, man müsse das Thema Migration "schnell und im europäischen Geist, das heißt im Geist der Solidarität" angehen. Wie das in der Praxis aussieht, sieht man daran, dass die deutsche Regierung nun auch das Kosovo, Montenegro und Albanien zu sicheren Herkunftsländern erklären will, um die Menschen auch aus diesen Ländern rasch abschieben zu können.

Dies hatte Innenminister De Maizière nur zwei Tage zuvor gefordert [2]. Außerdem will er das Abschieben von Flüchtlingen beschleunigen, Leistungen kürzen und Geld- durch Sachleistungen ersetzen, um die Flüchtlinge vom Zuzug nach Deutschlands abzuschrecken.

Auch in Österreich geht die regierende Koalition von Sozialdemokraten und Konservativen massiv gegen Flüchtlinge vor [3]. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) reagierte auf das jüngste Flüchtlingsdrama, indem sie einmal mehr forderte, die Grenzkontrollen zu verschärfen und die Schleuser strenger zu bestrafen.

Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hatte am Abend zuvor in der Nachrichtensendung "Zeit im Bild 2" eine Verschärfung der Asylpolitik, "wesentlich intensivere Grenzkontrollen" und "Blitzverfahren" für Asylbewerber gefordert. Er stellte Ungarn als Beispiel hin und drohte, auch andere EU-Mitglieder, "nicht nur die Ungarn, sondern vielleicht auch wir, [werden] Maßnahmen setzen, die nicht so erfreulich sind".

Ein Fünf-Punkte-Plan, den die österreichische Regierung in Wien vorlegte, beinhaltet auch die Bekämpfung von Schleuserbanden und IS-Kräften im Nahen Osten. Die EU hat dazu schon im Mai Pläne vorgelegt [4], die auch eine militärische Intervention in Libyen vorsehen. Dies würde auf eine Ausweitung der Kriege hinauslaufen, die die wichtigste Ursache dafür sind, dass Millionen Menschen in die Flucht getrieben werden.

Besonders zynisch ist die Haltung, die die Imperialisten Menschen gegenüber einnehmen, die aus Syrien kommen. Seit vier Jahren begründen sie ihre Regime-Wechsel-Operationen zum Sturz des Assad-Regimes damit, dass dieses seine eigene Bevölkerung töte. Aber wenn Millionen Syrer aus den so geschaffenen Todeszonen flüchten, werden sie als Eindringlinge von Europas Grenzen ferngehalten und beschuldigt, sie hätten es auf die Arbeitsplätze und den Lebensstandard der europäischen Bevölkerung abgesehen.

Die 71 Flüchtlinge, die in Österreich in einem Lastwagen gefunden wurden, waren vermutlich aus Syrien. Darauf weist ein Reisedokument hin, das bei einer der Leichen gefunden wurde. Das bedeutet, dass sie eine dreieinhalb tausend Kilometer lange Reise zurückgelegt haben. Immer mehr Syrer versuchen, über die Türkei und von dort aus über die Ägäis- und Balkanroute nach Westeuropa zu gelangen, seitdem die Nordafrika-Italien-Route sich als äußerst gefährlich erweist und das Mittelmeer immer öfter zum Massengrab wird.


Anmerkungen:
[1] https://www.wsws.org/de/articles/2015/08/28/pers-a28.html
[2] https://www.wsws.org/de/articles/2015/08/27/baus-a27.html
[3] https://www.wsws.org/de/articles/2015/08/13/aust-a13.html
[4] https://www.wsws.org/de/articles/2015/05/12/liby-m12.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 29.08.2015
Österreich: 71 Flüchtlinge ersticken in Lastwagen
http://www.wsws.org/de/articles/2015/08/29/flue-a29.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2015

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