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GLEICHHEIT/6114: Italien und Griechenland - Katastrophale Zustände für Flüchtlinge


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Italien und Griechenland: Katastrophale Zustände für Flüchtlinge

Von Martin Kreickenbaum
4. November 2016


Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft italienischen Sicherheitskräften vor, Flüchtlinge mit Folter und Misshandlungen zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke gezwungen zu haben.

Der Bericht zeigt beispielhaft, wie Flüchtlinge, die unter lebensgefährlichen Bedingungen nach Europa gelangen, um dort Schutz zu finden, völlig entrechtet und behördlicher Willkür unterworfen werden. An den wie Pilze aus dem Boden schießenden Grenzzäunen werden sie von Grenzschützern gejagt. Sie werden monatelang in Aufnahmelager interniert oder aus selbsterrichteten Lagern vertrieben, die nur deswegen entstanden sind, weil es nirgendwo einen Platz für sie gibt.

Amnesty International hat für seine Untersuchung insgesamt 174 Flüchtlinge in Italien befragt, von denen 24 angaben, von der Polizei misshandelt worden zu sein. In 16 Fällen sind sie geschlagen worden. Eine 25-jährige Eritreerin berichtete, solange von Polizisten ins Gesicht geschlagen worden zu sein, bis sie zustimmte, ihre Fingerabdrücke abzugeben.

Ein 16-Jähriger aus dem Sudan wurde mit Elektroschocks malträtiert. "Sie haben mir mit einem Stab elektrische Stöße verabreicht. Viele Male auf das linke Bein, dann auf das rechte, die Brust, den Bauch. Ich war zu schwach, ich konnte mich nicht mehr wehren, und dann haben sie meine Hände genommen und auf die Fingerabdruckmaschine gelegt."

Ein 16-Jähriger und ein 27-Jähriger berichteten, an den Genitalien gequält worden sind. Der ältere erzählte, er habe von Sicherheitskräften im sizilianischen Catania zunächst Elektroschocks erhalten und sei dann gezwungen worden sich auszuziehen. "Ich saß auf einem Aluminiumstuhl, mit einer Öffnung in der Sitzfläche. Sie hielten mich an den Schultern fest, quetschten meine Hoden mit einer Zange und zogen zweimal. Ich kann gar nicht sagen, wie schmerzhaft das war."

Alle von Amnesty dokumentierten Misshandlungen ereigneten sich in sogenannten Hotspots, den Registrierungszentren, die von der Europäischen Union in Italien und Griechenland innerhalb des letzten Jahres eingerichtet wurden. Ziel der EU war es dabei, die Flüchtlinge an der Weiterreise zu hindern und sicherzustellen, dass die Asylverfahren in den Staaten durchgeführt werden, in denen die Schutz suchenden Menschen zuerst europäischen Boden betreten haben.

Amnesty sieht die Ursache der Misshandlung von Flüchtlingen in diesen restriktiven Richtlinien. "Die EU-Führer haben die italienischen Behörden an die Grenzen des Legalen - und darüber hinaus - getrieben", erklärte der Italienexperte von Amnesty, Matteo de Bellis, bei der Vorstellung des Berichts. "Als Konsequenz werden die traumatisierten Menschen, die nach qualvoller Flucht in Italien gelandet sind, fehlerhaften Verfahren und in einigen Fällen abstoßenden Misshandlungen durch die Polizei ausgesetzt."

In den Hotspots werden die Flüchtlinge aber nicht nur bei der Registrierung misshandelt, sie werden auch ihres Rechts beraubt, einen Asylantrag zu stellen. Die Registrierung dient dazu, Flüchtlinge nach ethnischer Zugehörigkeit zu selektieren. Diejenigen, denen alleine aufgrund ihrer Nationalität unterstellt wird, nur als "irreguläre" Migranten nach Italien gekommen zu sein, werden von jenen getrennt, deren Asylbegehren als aussichtsreich eingestuft wird.

Die Befragung findet ohne jegliche Information über das Asylverfahren und ohne juristischen Beistand statt. Den völlig erschöpften und von der Flucht oftmals traumatisierten Flüchtlingen werden unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Hotspots Fragen gestellt, die über ihr weiteres Schicksal entscheiden, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Flüchtlinge, denen nach dieser kurzen Erstbefragung das Recht auf einen Asylantrag verweigert wird, bekommen dann eine Abschiebeanordnung.

Auf Druck der Europäischen Union haben die italienischen Behörden dabei die Zahl der Abschiebungen erhöht, unter anderem durch Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern, in denen Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Erst im August hat die italienische Regierung ein solches Abkommen mit der Regierung des Sudan ausgehandelt, mit der Folge, dass aus Italien abgeschobene Flüchtlinge am Flughafen der sudanesischen Hauptstadt Khartoum von Sicherheitskräften erwartet und direkt inhaftiert werden.

Matteo de Bellis kritisierte die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union scharf. "Der Hotspot-Ansatz, der in Brüssel erdacht wurde und in Italien ausgeführt wird, hat den Druck auf die Staaten an der Grenze erhöht und nicht gesenkt. Er führt zur abstoßenden Verletzung der Rechte von verzweifelten und verwundbaren Menschen, wofür die italienischen Behörden direkt und die europäischen Führer politisch verantwortlich sind."

Zumal das von der Europäischen Union vor einem Jahr beschlossene Umsiedlungsprogramm weiter nicht in Gang kommt. Von den damals versprochenen 160.000 Flüchtlingen, die aus Italien und Griechenland in andere EU-Mitgliedsstaaten umgesiedelt werden sollten, sind bis heute erst 6.000 tatsächlich ausgeflogen worden. Insgesamt sind seit Anfang des Jahres aber rund 158.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien gelangt.

In Griechenland ist die Situation der Flüchtlinge nicht weniger katastrophal, insbesondere auf den Inseln der Ägäis, wo rund 16.000 Flüchtlinge seit Monaten in Hotspots interniert sind. Die Lager, die eigentlich nur für 8.000 Flüchtlinge vorgesehen waren, sind völlig überfüllt, und es fehlt an allem. Zuletzt wurde in den Hotspots sogar das Trinkwasser rationiert, um die Reserven nicht aufzubrauchen.

Nach offiziellen Zahlen der griechischen Regierung haben 8.500 Flüchtlinge auf den Ägäisinseln einen Asylantrag gestellt, doch auf die Bearbeitung müssen sie monatelang warten. Von den von der EU zugesagten 600 Asylbeamten ist nur ein Bruchteil tatsächlich eingetroffen, so dass dort nur 60 bis 70 Anträge pro Tag überhaupt bearbeitet werden.

Immer häufiger eskalieren die Proteste in den Lagern, wobei sich der Zorn der Flüchtlinge vor allem gegen die Beamten und Einrichtungen der europäischen Asylbehörde EASO richtet, die in erster Linie dafür verantwortlich ist, dass die Menschen in den Lagern festsitzen.

Am 24. August setzten protestierende Flüchtlinge im Lager Moria auf Lesbos, wo rund 7.000 Flüchtlinge untergebracht sind, vier Container der EASO in Brand. Zwei Tage später griffen Flüchtlinge auf Chios die Container der EASO an, warfen Steine und verbrannten Decken. Drei Container wurden zerstört, die EASO-Beamte wurden evakuiert.

"Es ist kein Zufall, dass es in den Lagern brennt", sagte der Leiter des UNHCR-Büros in Griechenland, Philipp Leclerc. Auch die Europäische Union ist sich der äußerst angespannten Situation bewusst. In einem dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel vorliegenden Bericht der EU-Kommission wurde darauf hingewiesen, dass es vor Ort zu Problemen für das Personal der EU-Agenturen und der Hilfsorganisationen kommen könne. Daraufhin zogen viele EU-Staaten die Zusage zur Entsendung von zusätzlichen Asylexperten nach Griechenland zurück.

Die dauerhafte Internierung der Flüchtlinge auf den Inseln wird dabei von der EU in einem zynischen Kalkül bewusst als Mittel der Abschreckung genutzt. Als die griechische Regierung angekündigte, Flüchtlinge aus den Hotspots auf das griechische Festland zu transferieren, um ein wenig Druck aus dem Kessel zu nehmen, wurde dies insbesondere von der deutschen Bundesregierung scharf kritisiert.

Das Innenministerium in Berlin erklärte gegenüber der Welt: "Es muss weiterhin klar sein, dass für die überwiegende Zahl der neu ankommenden Personen eine Verbringung auf das Festland nicht in Betracht kommt, sondern die Bearbeitung der Asylverfahren auf den griechischen Inseln stattfindet." Stattdessen solle eine Verbesserung der Lage auf den Inseln "vorrangig durch eine Erweiterung der Aufnahmekapazitäten auf den Inseln erfolgen". Mit anderen Worten: Der Regierung Merkel ist das Schicksal der Flüchtlinge völlig egal. Sie sollen weiter unter unmenschlichen Bedingungen und völlig rechtlos in Lagern gefangen gehalten werden.

Zuletzt war die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei auf die griechischen Inseln kamen, wieder leicht angestiegen. In den letzten drei Monaten kamen insgesamt mehr als 10.000 Flüchtlinge, die zusätzlich auf den Inseln untergebracht werden mussten.

Ohne legale Möglichkeit, aus Griechenland wegzukommen, versuchen immer mehr Flüchtlinge, illegal über Bulgarien und Serbien nach Mitteleuropa zu gelangen. Doch die Europäische Union hat auf dem Balkangipfel Ende September unmissverständlich klar gestellt, dass die Balkanroute hermetisch geschlossen wird. Dafür wurden die Grenzschutzagentur Frontex ausgebaut und zusätzliche Polizisten und Soldaten nach Bulgarien und das Nicht-EU-Land Serbien beordert.

Auch in Serbien sitzen mehr als 7000 Flüchtlinge fest, die weder vor noch zurück können und völlig auf sich gestellt sind. 1200 von ihnen haben in Belgrad ein brach liegendes Lagerhaus besetzt und versuchen dort über den grimmigen Winter zu kommen. Migranten, die versuchen nach Ungarn zu gelangen, werden dort von der Polizei gejagt, geschlagen und ohne Verfahren wieder zurück nach Belgrad verfrachtet.

Auch die französische Regierung hat angekündigt, nach der Räumung des als "Dschungel" bezeichneten Flüchtlingscamps in Calais weitere Camps gewaltsam von der Polizei räumen zu lassen. Im Fokus steht dabei insbesondere ein Zeltlager in Paris unweit der Metrostation "Stalingrad" zwischen dem 10. und 19. Arrondissement. Dort harren mehr als 2.000 Flüchtlinge vornehmlich aus Afghanistan, Sudan und Eritrea praktisch ohne jede staatliche Unterstützung aus. Versorgt werden sie vornehmlich von Hilfsorganisationen, die Essen und Hygieneartikel bringen.

Der französische Präsident François Hollande hatte zuvor angekündigt, dass in Frankreich keine weiteren Dschungel mehr geduldet würden, allerdings könne man nur auch tatsächlich Asylberechtigte unterbringen. In Paris sollen die Flüchtlinge des Zeltlagers in ein neu errichtetes Aufnahmelager gebracht werden, doch dort ist nur Platz für 400 Menschen.

Ein Afghane im Zeltlager erklärte der Nachrichtenagentur AFP angesichts der Polizeiaktion sein Unverständnis: "Wenn sie uns keine Unterkunft geben, warum zerstören sie dann unsere Zelte?"

In den Trümmern des ehemaligen Flüchtlingslagers bei Calais ist es derweil zu gewalttätigen Unruhen gekommen. Die 1.500 verbliebenen minderjährigen Flüchtlingen protestierten dagegen, dass sie nicht wie versprochen nach Großbritannien, sondern in andere Aufnahmelager in Frankreich gebracht werden. Die Jugendlichen durften nach der Räumung des "Dschungels" zunächst in eigens errichteten Containern bleiben und hofften, zu ihren Familien in England gebracht zu werden.

Doch die britische Regierung blieb bei ihrer harten Haltung, die Familienzusammenführung selbst für minderjährige Flüchtlinge auszusetzen. "In Calais werden keine weiteren Anträge für den Transfer in das Vereinigte Königreich bearbeitet. Alle Fälle und Ausreisen in Richtung Großbritannien werden nur noch aus den speziellen Aufnahmelagern für Jugendliche bearbeitet", hieß es in einem offiziellen Statement.

Als den Jugendlichen klar wurde, dass sie nicht nach Großbritannien gebracht werden, eskalierte die Wut. Sie zogen mit Steinen und Stöcken bewaffnet in das ehemalige Lager, beschädigten Fahrzeuge und warfen Steine. Die Polizei rückte mit einem Großaufgebot an Spezialkräften an und trieb die Flüchtlinge mit Tränengas auseinander.

Michael McHugh, der mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen arbeitet, wunderte sich gegenüber dem britischen Guardian, dass auf dem Camp mehr martialisch ausgerüstete Polizisten zu finden seien als Sozialarbeiter, Lehrer oder Therapeuten. "Es handelt sich um die mit am stärksten gefährdeten Kinder in Europa."

Doch die Antwort der Europäischen Union auf die Millionen von Menschen, die vor den imperialistischen Kriegen und Konflikten in Syrien, Irak, Afghanistan, Libyen, Eritrea, Jemen oder Sudan fliehen, besteht darin, die Grenzen dicht zu machen, den Fliehenden das Asylrecht zu verweigern und sie mit Polizeistaatsmaßnahmen zu drangsalieren.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 04.11.2016
Italien und Griechenland: Katastrophale Zustände für Flüchtlinge
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2016

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