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GLEICHHEIT/6276: Der Jubel-Parteitag der SPD


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Der Jubel-Parteitag der SPD

Von Ulrich Rippert
21. März 2017


Am vergangenen Sonntag wurde Martin Schulz mit 100 Prozent der Delegiertenstimmen zum Vorsitzenden der SPD gewählt. Anschließend wurde er einstimmig als Kanzlerkandidat bestätigt.

Auf dem Sonderparteitag der Sozialdemokraten in Berlin herrschte eine Jubelstimmung, die man nur als Hysterie bezeichnen kann. Schon als Martin Schulz in die "Arena" einzog - so heißt der ehemalige Omnibus-Betriebshof im Ostteil der Stadt, der in eine teure "Event-Location" umgebaut wurde und als Tagungsort diente - wollten die stehenden Ovationen nicht enden.

Dann sprach Schulz fast anderthalb Stunden und wurde immer wieder durch stürmischen Beifall und Bravo-Rufe unterbrochen. In der darauf folgenden Abstimmung war unter den 605 gültigen Stimmenzetteln nicht eine einzige Nein-Stimme. Der neue SPD-Chef erhielt alle Stimmen - hundert Prozent. Das hatte es in der langen Geschichte der SPD, die ihre Gründung gern auf die Entstehung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) 1863 zurückdatiert, noch nie gegeben.

Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Umarmungen, Blumen und immer wieder orkanartiger Beifall. Als nach knapp fünf Stunden der Parteitag zu Ende ging, schallte über die Lautsprecher der Arena der Louis-Amstrong-Song "What a Wonderful World".

Viele Medienkommentatoren fragten am Montag, woher diese Euphorie der SPD komme und wie sie zu erklären sei. Die Parteitagsrede des neuen Vorsitzenden sei sicherlich nicht die Ursache gewesen. Sein Vortrag sei weder in den inhaltlichen Aussagen noch der Form nach derart mitreißend gewesen, dass er solche Begeisterungsstürme auslösen könnte. Schulz sei selbst über die Begeisterung der Delegierten und das Wahlergebnis überrascht gewesen. Er hätte auch aus dem Telefonbuch vorlesen können, schreibt SpiegelOnline, die Delegierten hätten trotzdem geklatscht und Bravo gerufen.

In der Tat unterschied sich die Parteitagsrede von Schulz kaum von den Reden, die er in den vergangenen Wochen auf Mitgliederversammlungen in mehreren Städten gehalten hatte. Er begann mit einem Appell zum Aufbruch in eine bessere Zukunft. Die Partei müsse den Mut haben an sich selbst zu glauben. "Wir sind eine starke Partei, die Kaiserreich, Krieg und Diktaturen überlebt hat", rief er den Delegierten zu und verband das mit Aussagen zu seiner Biografie.

Er wisse, was es bedeute, neu anzufangen. Als fünftes Kind "einfacher und anständiger Leute" - Mutter Hausfrau, Vater Polizist - habe er in seiner Jugend viele Probleme gehabt: in der Schule "echt faul", kein Schulabschluss, Alkoholproblem, Orientierung verloren, etc. "Fast wäre alles in meinem Leben schiefgegangen." Doch dann habe er eine zweite Chance bekommen, sei in die Politik gegangen, als Bürgermeister zweimal wiedergewählt worden, "dann 22 Jahre Abgeordneter im Europaparlament, acht Jahre Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion und zuletzt fünf Jahre Präsident des Europaparlaments".

Diese biographischen Details hat Schulz in den vergangenen Wochen ständig wiederholt. Er will damit zwei Dinge suggerieren. Erstens, er sei nicht Teil der Eliten und kenne die Sorgen einfacher Leute. Und zweitens, er habe in seinem eigenen Leben Krisen überwunden und werde nun auch die SPD aus der Krise führen. Diese Argumentation ist bekannt. Schon Ex-SPD-Chef und Alt-Kanzler Gerhard Schröder betonte seine Herkunft als "Armer-Leute-Kind", was ihn nicht daran hinderte, mit der Agenda 2010 das größte Armutsprogramm seit Kriegsende zu verwirklichen und den Spitzensteuersatz für die Reichen drastisch zu senken.

Der zweite Punkt in Schulz' Rede war der Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit, wobei auffiel, dass er am Sonntag noch weniger spezifisch war, als bisher. Die Worte Hartz IV und Agenda 2010 vermied er, nachdem seine frühere Forderung nach Reformen der Schröderschen Arbeitsmarktgesetze nicht nur bei Wirtschaftsverbänden, sondern auch in Teilen der SPD auf Kritik gestoßen waren.

Stattdessen zitierte er den konservativen Ökonomen Meinhard Miegel, der von wachsender Armut und einem "geradezu obszönen Reichtum" gesprochen habe und vor den politischen Konsequenzen der wachsenden sozialen Spaltung warne. Auch Schulz betrachtet die wachsende Armut vor allem von einem ordnungspolitischen Standpunkt. Er betonte, soziale Gerechtigkeit sei kein "Begriff aus dem Lehrbuch des Klassenkampfs", sondern Grundbedingung für die Stabilität des Gemeinwesens.

Der dritte Teil der Schulz-Rede befasste sich mit Europa. "Die Antwort auf die globalen Unsicherheiten heißt: Europa", rief er den Delegierten zu und betonte, dass ihm die Verteidigung der EU "eine Herzensangelegenheit" sei.

Der frenetische Beifall für Schulz war nicht seiner Rede geschuldet, in der lediglich die bekannten sozialdemokratischen Phrasen, teils etwas neu verpackt und etwas nachdrücklicher vorgetragen wurden. Es wäre naiv zu glauben, die SPD-Funktionäre hätten plötzlich ihr soziales Gewissen entdeckt und deshalb die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und die Warnung vor wachsender Kinderarmut und sinkenden Renten beklatscht.

Die über 600 Delegierten sind in ihrer großen Mehrheit alte Partei- und Gewerkschaftsapparatschiks, die auf Landes- und kommunaler Ebene die Schuldenbremse erzwingen und täglich die wachsende soziale Ungleichheit organisieren und verwalten. Die SPD ist nicht nur die Architektin der Agenda 2010, sie war in den vergangenen zwei Jahrzehnten 15 Jahre an der Regierung und stellte den Arbeits- und Sozialminister. Sie hätte längst mehr soziale Gerechtigkeit verwirklichen können, aber sie wollte es nicht und will es auch jetzt nicht.

Der Jubel auf dem Parteitag und die Schulz-Hysterie haben andere Ursachen. Hinter dem Aufruf: Die SPD ist wieder da! verbirgt sich der Aufruf: Deutschland ist wieder da!

Der inszenierte Jubelparteitag ist Teil einer Kampagne, die SPD als zentrale Partei des deutschen Imperialismus zu reorganisieren. Angesichts der tiefgreifenden politischen Veränderungen, die mit dem Amtsantritt von Donald Trump in den USA begonnen haben, hält ein Teil der herrschenden Klasse in Deutschland eine Machtkonstellation aus SPD und Gewerkschaftsbürokratie, wenn nötig in Zusammenarbeit mit den Grünen und der Linkspartei, für durchaus sinnvoll. Daher der Medienhype um Schulz und seine Inszenierung als "Erneuerer der SPD".

Die Übergabe des Parteivorsitzes und der Kanzlerkandidatur an Schulz, Sigmar Gabriels Wechsel vom Wirtschaftsministerium ins Außenamt und die Ernennung von Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten sind Bestandteil einer sozialdemokratischen Offensive in der Außen- und Innenpolitik nach der Wahl Trumps.

Um Trump möglichst wirksam entgegenzutreten, verfolgt Berlin die Strategie, die gesamte EU für einen Handelskrieg mit den USA zu rüsten. Deutschland brauche "die Rückendeckung der übrigen Europäer", zitiert das Handelsblatt den früheren Chefvolkswirt des Wirtschaftsministeriums Jeromin Zettelmeyer. "Sie [die USA] werden womöglich einen Handelskrieg gegen uns führen müssen."

Einem Bericht des Spiegel zufolge arbeitet die Bundesregierung darauf hin, "die Amerikaner zu isolieren". Bereits auf dem EU-Gipfel Anfang März hatten sich die EU-Staaten gegen "protektionistische Tendenzen" im Welthandel ausgesprochen und die europäische Wirtschaft gegen die US-amerikanische in Stellung gebracht.

Schon vor einigen Wochen hatte Außenminister Gabriel betont, wenn Trump einen Handelskrieg mit Asien und Südamerika beginne, müsse Europa schnell eine neue Asienstrategie entwickeln. Die Räume, die Amerika frei mache, müssten von Europa und Deutschland genutzt werden. Wenn "der US-Protektionismus dazu führt, dass sich neue Chancen für Europa in ganz Asien auftun, sollten wir zugreifen", sagte Gabriel dem Handelsblatt.

Um diesem deutschen Griff nach der Weltmacht Nachdruck zu verschaffen, streben Gabriel, Schulz und Bundespräsident Steinmeier ein Kerneuropa unter deutscher Führung an. Diese Pläne sind mit einer gigantischen militärischen Aufrüstung verbunden. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im vergangenen Monat wurde eine Verdreifachung der Verteidigungsausgaben gefordert.

Es ist diese neue deutsche Großmachtpolitik, die Schulz, Gabriel und Steinmeier anstreben und verkörpern, die unter den Delegierten des SPD-Parteitags den bizarren Jubel und die hysterische Begeisterung auslöste.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 21.03.2017
Der Jubel-Parteitag der SPD
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2017

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