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GLEICHHEIT/7033: Coronavirus-Pandemie breitet sich in ganz Europa aus


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Coronavirus-Pandemie breitet sich in ganz Europa aus

Von Johannes Stern und Alex Lantier
12. März 2020


Die Coronavirus-Pandemie breitet sich weiter in ganz Europa aus. Allein am Dienstag und Mittwoch kamen Tausende Neuerkrankungen und Hunderte Todesopfer dazu. Italien, das Epizentrum der Pandemie in Europa, wurde zur landesweiten Sperrzone erklärt, um die Ausbreitung einzudämmen. Die Regierung verkündete am Mittwochabend die Schließung aller Geschäfte und Restaurants, außer Apotheken, Drogerien und Supermärkte. In Spanien, Griechenland, Frankreich und Deutschland wurden regionale Quarantänegebiete ausgerufen. Daneben griff die Krankheit auch auf Skandinavien und den Balkan über.

Der Anstieg von Infektionen in Italien ist in den letzten zwei Tagen massiv nach oben geschnellt. Während von Montag auf Dienstag 977 neue Fälle und 168 mehr Todesopfer gemeldet wurden, kamen von Dienstag auf Mittwoch schon knapp 2.300 Neuinfizierte hinzu - der höchste Anstieg innerhalb von 24 Stunden seit Beginn der Epidemie. Das italienische Gesundheitssystem steht am Rande des Zusammenbruchs. Die Gesamtzahlen liegen bei 12.462 Fällen und 827 Todesopfern, was aktuell einer Todesrate von 6,6 Prozent entspricht. Mehrere Fluggesellschaften, darunter British Airways, Ryanair und Air France, haben den Flugverkehr nach Italien eingestellt, Österreich und Slowenien haben die Landgrenzen nach Italien geschlossen.

Die Zahl der Todesopfer schießt in die Höhe, da die Krankenhäuser mit dem Ansturm der Erkrankten überfordert sind, vor allem in Norditalien. Schwerkranke Patienten müssen abgewiesen werden, obwohl das Personal 14 Stunden durcharbeitet und Hunderte von Betten für Coronavirus-Patienten in kritischem Zustand freigemacht hat, d.h. für Patienten, die nur mit künstlicher Beatmung überleben können. Guido Marinoni vom Ärzteverband Bergamo erklärte auf Spiegel Online: "Noch schaffen wir es, die am schwersten an Atembeschwerden leidenden Patienten aufzunehmen, aber selbst solche mit beidseitiger Lungenentzündung müssen wir nach Hause schicken. Ihnen bleibt nur die Behandlung durch den Hausarzt."

Der Spiegel schreibt weiter, im italienischen Gesundheitswesen sei jahrelang gespart worden. Man habe Betten reduziert, Krankenschwestern schlecht bezahlt. Laut dem Chefarzt des Mailänder Krankenhauses Luigi Sacco, Massimo Galli, werden Virologen, Internisten und Lungenfachärzte "dringend benötigt". Er erklärte: "Wer meint, die Sache mit dem Coronavirus werde übertrieben, der soll bitte in unsere Abteilung kommen."

Der Gesundheitsbeauftragte der Lombardei, Giulio Gallera, warnte: "Weitere zwei oder drei Wochen einer derart verrückten Zunahme an Personen in den Notaufnahmen und auf den Intensivstationen würden wir nicht mehr durchhalten." In Bezug auf die physischen und psychischen Belastungen des Personals zitierte er die Worte einer Ärztin, die ihm sagte: "Die Augen des Patienten, den ich heute morgen ans Beatmungsgerät angeschlossen habe, werde ich nie vergessen."

Die italienische Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Alle öffentlichen Großveranstaltungen wurden abgesagt, Schulen und Universitäten geschlossen, die Stadtzentren sind leer, viele Beschäftigte machen Telearbeit. Die Lebensmittelgeschäfte sind leergekauft, da die Menschen Nahrungsvorräte anlegen. Der ehemalige Chefökonom des italienischen Finanzministeriums, Lorenzo Codogno, erklärte gegenüber Reuters, das tägliche Bruttoinlandsprodukt in Italien liege 10 bis 15 Prozent unter dem Normalwert. Sollte also eine längere Quarantäne notwendig sein, um die Ausbreitung des Virus aufzuhalten, wird Italien in eine tiefe Rezession geraten. Millionen Arbeiter leben in Ungewissheit.

Wirtschaftsminister Stefano Patuanelli hat ein Rettungspaket in Höhe von zehn Milliarden Euro gefordert. Die Lobbyorganisation der Banken, ABI, erklärte, sie könne für Familien und Unternehmen, die von der Coronavirus-Krise betroffen sind, die Hypothekenzahlungen aussetzen. Damit verfolgt sie scheinbar die Absicht, Zugang zu öffentlichen Rettungsgeldern zu erhalten. Allerdings ist die Summe, die Patuanelli vorschlägt, völlig unzureichend. Sie gleicht nicht einmal die Kürzungen im Gesundheitswesen in zweistelliger Höhe aus, die die EU in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt hat. Es ist kein Geld vorgesehen für die Versorgung von Kindern, Lohnverlust oder medizinische Behandlungen für Arbeiter, die mit Schulschließungen, Rezession und der Aussicht auf Massenentlassungen konfrontiert sind.

In ganz Europa werden Massenquarantänen verhängt oder vorbereitet, während die Ausbreitung des Virus die Krankenhaussysteme aller Länder zu überwältigen droht. Griechenland kündigte die vollständige Schließung aller Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten für zwei Wochen an, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Von besonderer Bedeutung war die Entdeckung einer 40-jährigen Corona-Patientin am 9. März auf der Insel Lesbos. Die Frau war von einer Reise im Nahen Osten zurückgekehrt.

Auf Lesbos, einer Insel in der Ägäis nahe der Türkei, befindet sich das berüchtigte Flüchtlingslager Moria, wo Zehntausende von Flüchtlingen, die den Kriegen und der Armut im Nahen Osten entfliehen, in schrecklichen Bedingungen leben. Es besteht jetzt die akute Gefahr, dass sich diese ansteckende und tödliche Krankheit unter den Flüchtlingen ausbreitet, die auf Geheiß der EU in Armut und unter unhygienischen Bedingungen festgehalten werden. Alleine auf Lesbos könnte es Tausende Tote geben.

Während in Frankreich am Dienstag die Zahl der Fälle um 372 auf 1.784 anstieg, wurden in Spanien alle Bildungseinrichtungen geschlossen und Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern in Madrid, La Rioja und den baskischen Städten Vitoria und Labastida ausgesetzt. Die Zahl der Fälle in Spanien ist um 443 auf 1.674 gestiegen. Das erhöht die Gefahr, dass das Coronavirus auch das spanische Gesundheitssystem überlasten könnte, dessen Haushalt seit der Krise von 2008/2009 aufgrund der Spardiktate der EU um 15 bis 21 Milliarden Euro gekürzt wurde.

Großbritannien meldete sechs Tote und 54 neue Fälle von Coronavirus-Infektionen. Fehlendes Personal und Ressourcen beim staatlichen Gesundheitsdienst NHS lösen zunehmend Besorgnis aus. Großbritannien hat mit 2,5 Betten für 1.000 Einwohner die niedrigste Bettenrate in Europa. Deshalb ist es besonders anfällig dafür, von einem rapiden Anstieg der Krankheitsfälle überfordert zu werden.

In Deutschland steigt die Zahl der Infizierten rapide an, am Montag wurden zudem die ersten zwei Todesfälle gemeldet, am Mittwoch ein dritter. Als Reaktion darauf beginnen die deutschen Behörden mit drastischen und verzweifelten Maßnahmen.

In Berlin ist das kulturelle Leben nahezu zum Stillstand gekommen. Am Dienstagabend beschloss der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke), nach Absprache mit den Direktoren der Staatstheater, Opern und Konzerthallen, bis zum Ende der Osterferien (d.h. bis zum 19. April) alle Veranstaltungen abzusagen. Er empfahl auch den großen privat betriebenen Theatern, das Gleiche zu tun.

In Köln wurde die Lit. Cologne, das größte Literaturfestival Europas mit mehr als 200 Veranstaltungen und mehr als 100.000 Besuchern an zwölf Veranstaltungstagen, am Tag der geplanten Eröffnung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker abgesagt. "In der jetzigen Situation müssen wir alles dafür tun, die Infektionsketten zu durchbrechen", wurde Reker zitiert. "Daher habe ich vor dem Hintergrund der Empfehlungen des Bundesgesundheitsministers dazu geraten, die lit.COLOGNE zum jetzigen Zeitpunkt nicht durchzuführen."

Nachdem auch in Sachsen-Anhalt vier neue Fälle bestätigt wurden, sind alle Bundesländer vom Coronavirus betroffen. Insgesamt gibt es in Deutschland mittlerweile 1.296 durch Labore bestätigte Fälle.

Aufgrund der Ausbreitung des Virus haben mittlerweile sechs Bundesländer Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern verboten: Bayern (bis zum 10. April), Nordrhein-Westfalen (unbefristet), Hessen, Thüringen, Niedersachsen, Bremen und Schleswig-Holstein. In Thüringen müssen sogar Veranstaltungen mit mehr als 500 Teilnehmern genehmigt werden. Rheinland-Pfalz, Hessen und das Saarland haben die Absage von Großveranstaltungen nur empfohlen.

Die bayrische Staatsregierung beschloss am Montag ein Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Gästen. Diese Maßnahme soll vorerst bis Karfreitag in Kraft bleiben, kann aber verlängert werden. Davon werden nicht nur zahlreiche Fußballspiele betroffen sein, sondern auch Frühlingsfeste und die Feiern zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau.

Vor allem Millionen älterer Mitbürger befinden sich in akuter tödlicher Gefahr. Der Chef des Instituts für Virologie der renommierten Berliner Charité, Christian Drosten, rief in seinem täglichen NDR-Podcast dazu auf, ältere Mitbürger zu schützen, da andernfalls bis zu ein Viertel der Betroffenen in dieser Altersgruppe sterben könnten.

Drosten erklärte, deshalb seien so drastische Maßnahmen wie ein Kontaktverbot mit den eigenen Enkelkindern und eine Einschränkung des gesellschaftlichen Lebens angemessen. Er rief die Eltern auf, den jüngeren Generationen die Situation zu erklären: "Wir sprechen mit denen und sagen denen: Es ist ernst." Das Sozialleben müsse in dieser Gruppe sogar "für einige Monate aufhören", sagte Drosten und warnte: "Und wenn man das nicht ernst nimmt, dass man davon ausgehen muss, dass Raten, die sich im Bereich von 20 Prozent, 25 Prozent dieser Personen bewegen, sterben werden."

Diese Warnungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens stehen in krassem Gegensatz zur Verantwortungslosigkeit und erschütternden Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben, die die herrschende Klasse zeigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte am Dienstag bei einem Treffen der CDU-Bundestagsfraktion: "60 bis 70 Prozent der Menschen in Deutschland werden sich mit dem Coronavirus infizieren." Teilnehmer erklärten später, die Fraktion hätte mit erschüttertem Schweigen auf diese Äußerung reagiert.

Es gibt keinen Grund zu akzeptieren, dass sich zwei Drittel der deutschen oder der europäischen Bevölkerung mit dieser Krankheit anstecken werden. Quarantänen und der Einsatz massiver finanzieller und medizinischer Ressourcen zur Behandlung der Kranken könnten das Coronavirus aufhalten. In China ist die Krankheit derzeit auf 80.000 Fälle eingedämmt, die Zahl der Neuansteckungen sinkt auf ein paar Dutzend pro Tag, von denen viele aus Europa eingeschleppt wurden. Diese Entwicklung verdeutlicht die Notwendigkeit, die Krankheit durch eine koordinierte globale Mobilisierung aller finanziellen, industriellen und wissenschaftlichen Mittel aufzuhalten.

Wenn hingegen 50 bis 60 Millionen Deutsche erkranken, bevor ein Impfstoff entwickelt werden kann, würden etwa 20 Prozent (10 bis 12 Millionen) in einen kritischen Zustand geraten. Dies würde das Gesundheitssystem überrollen und Millionen Tote fordern. Der weltweite Verlust von Menschenleben wäre nicht abschätzbar.

Dass Merkel ein solches Ergebnis so offen vorhersagen kann, verdeutlicht den Bankrott des europäischen Kapitalismus und seines Austeritätsdiktats. Es ist jetzt äußerst wichtig, die Arbeiterklasse für den Kampf um das Recht auf medizinische Versorgung, vollständige finanzielle und soziale Unterstützung für Arbeiter und Kleinunternehmer zu mobilisieren, die von der Pandemie betroffen sind. Sie muss außerdem für ein Ende des zerstörerischen EU-Austeritätsdiktates kämpfen. Der Kapitalismus führt die Menschheit in die Katastrophe und muss durch den Sozialismus abgelöst werden: die geplante, rationale und demokratische Nutzung der globalen wirtschaftlichen Ressourcen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse statt privatem Profitstreben.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.03.2020
Coronavirus-Pandemie breitet sich in ganz Europa aus
https://www.wsws.org/de/articles/2020/03/12/euro-m12.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2020

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