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GRASWURZELREVOLUTION/1028: Kritik des Parlamentarismus


graswurzelrevolution 340, Sommer 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Kritik des Parlamentarismus
Und die Suche nach Alternativen

Von Johan Bauer


Johan Bauer ist seit 1972 Mitherausgeber der Graswurzelrevolution. Als Einstimmung auf das voraussichtlich Ende August, vor der Bundestagswahl 2009, erscheinende Graswurzelrevolution-Extrablatt zur Kritik der parlamentarischen Demokratie (*), stellt er hier einige Thesen zur Diskussion
(GWR-Red.)


1. Bedeutet wählen schon, eine Wahl zu haben? In der Teilnahme an Wahlen erschöpfen sich weitgehend die Erwartung von PolitikerInnen an die WählerInnen; es sind auch weniger inhaltlich-sachliche Fragen als personelle Entscheidungen, die zur Wahl stehen. Mit der Entsendung von VertreterInnen ist das politische Engagement in geordneten legitimen Bahnen. Aktive Eingriffe der BürgerInnen, die über Mitgliedschaft in Parteien oder Lobby-Gruppen hinausgehen, gelten eher als Störung oder Gefährdung des rationalen und auf Interessen-Ausgleich zielenden politischen Prozesses. Jedenfalls sind die inneren Strukturen von Staat und Gesellschaft nicht Teil der politischen Debatte (interessant ist das Beispiel der Türkei, wo der "harte Kern" des Staates sogar die Mehrheitspartei mit Verbot bedrohte, weil diese die kemalistischen Grundlagen des Staates durch Demokratisierung zu beschädigen drohte. In der EU könnte ein ähnlicher Doppelstaat entstehen, mit Parlament, Rechten der Regionen usw. und dahinter der "tiefe Staat": Militär, Geheimdienste, bürokratische Apparate).

2. In dieser Konzeption demokratischer Eliteherrschaft wird die Konkurrenz der Parteien zunehmend mit Mitteln des Marketing ausgetragen: BeraterInnen, Werbeagenturen, kampagnenförmiger Auf- und Abbau von "Hoffnungsträgern", Sprachregelungen, die durch nichtssagende Floskeln erläutern sollen, wie die Partei "aufgestellt" ist usw.

Die WählerInnen sind Objekte solcher Strategien. Traditionelle soziale Milieus haben sich aufgelöst, Bindungen an weltanschaulich definierte Ziele sind bei WählerInnen wie Gewählten schwächer geworden. Zwischen Starkult und Gebrauchswertversprechen, Markenware und Innovation bewegt sich auch die offizielle Politik.

3. Die öffentliche Sphäre ist weitgehend privatisiert; sie steht nicht wirklich allen offen. Parteiapparate, Geheimdiplomatie in allen Formen, die Nicht-Öffentlichkeit der Verwaltung (und Herrschaft funktioniert nun einmal als Verwaltung) sorgen für das Übergewicht der Verwalter über die Verwalteten. Massenmedien inszenieren spektakuläre Konfrontationen, Aufstieg und Fall bekannter Gesichter, aber - bei genauerer Betrachtung - immer nach vorgegebenen Mustern: Personalisierung, "starke Männer" (inzwischen manchmal auch Frauen, aber ist das schon Emanzipation?) Zwischen den beiden fremdbestimmenden Formen: Staat und "Markt", womit die Konzernbürokratien gemeint sind, wird ein immer neu austariertes Gleichgewicht gesucht, das gerade die Alternative gesellschaftlicher Selbstorganisation ausschließt: Ist die Lösung einmal die "Privatisierung", so soll deren Probleme die "Verstaatlichung" lösen.

4. "Politikverdrossenheit", sinkende Wahlbeteiligung antwortet auf Abgehobenheit und Selbstrekrutierung der politischen Klasse ("Berufspolitiker"), auch auf Skandale und enttäuschende politische Entscheidungen. Zum Teil ist die Entpolitisierung der Menschen so weit fortgeschritten, dass der Rückzug in kleine familiäre Kreise und eine Konsumorientierung dem eigenen Leben gegenüber Resultat (wie wiederum Ursache) des Unbeteiligtseins bilden. Die Zeit und die Fähigkeit, sich ein Urteil zu bilden, fehlen den Beherrschten; in ihrem betrieblichen und gesellschaftlichen Alltag (Familie, Schule, Kulturindustrie: Mode, Sport, Vereine ...) wird Gehorsam und, Anpassung verlangt und belohnt, nicht Verantwortungsbewusstsein und offene Diskussion.

5. Dass grundlegende Entscheidungen gerade der öffentlichen Diskussion entzogen sind und in Industrie- und Lobbyzirkeln verhandelt werden, in den Gremien der Regierung, aber erst ganz zuletzt im Plenum des Parlaments, mehr als Schaukampf öffentlicher Vermittlung, wenn die Entscheidungen gefallen sind, hat sich herumgesprochen. Auch die propagierte Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive hat sich zu einer weitgehenden Abhängigkeit der Abgeordneten von Partei- und Fraktionsvorständen und der alles bestimmenden Frage der "Regierungsfähigkeit" verschoben.

6. Die Parlamente sind also Ort mehrerer Illusionsbildungen: Als würden weltwirtschaftliche Bewegungen oder gesellschaftliche Prozesse dort wirksam beeinflusst oder auch nur zur Sprache kommen. Als würde Öffentlichkeit hergestellt und nach einer breiten gesellschaftlichen Debatte entschieden. Oder gar: Als wäre hier wirksame Opposition möglich.

7. Dennoch entstehen aus sozialen Bewegungen, die an Grenzen ihrer Durchsetzung kommen, immer wieder neue Parteien und Kandidaturen zum Parlament (Die Grünen, die Linke ...). Es ist der scheinbar realistische und effektive Weg, sich so Geltung und Macht zu verschaffen. Seit Robert Michels in seiner "Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie" 1911 die damals noch radikalere Sozialdemokratie beschrieb, hat noch immer die Protest- und Reformpartei sich der etablierten Struktur angepasst, nie diese grundlegend verändert. Es gibt aber keine natürlichen Grenzen für Wiederholungen dieses Experiments, dessen tatsächliche Wirkung in der Kooptation neuer PolitikerInnen durch die etablierten besteht. Die "Lösung der sozialen Frage" ist auf diesem Weg bisher nur sehr individuell geglückt, und mit Frieden, Emanzipation der Frau und Bewahrung der natürlichen Umwelt sieht es nicht anders aus.

8. Aus den Widersprüchen des Parlamentarismus entsteht auch eine Parteien- und Demokratiekritik "von rechts". Diese kann versuchen, mit autoritären Mitteln die Identität von Regierenden und Regierten zu organisieren: Plebiszitäre Formen, der demagogische Schrei nach "Führung"; Mobilisierungen, die Minderheiten ausgrenzen und damit die "Identität" der "Volksgemeinschaft", des Staatsvolks prägen ... Vielleicht ist es deshalb wichtig, dass die etatistische Demokratie, die liberale Oligarchie von antiautoritären und gewaltlosen sozialen Bewegungen angegriffen wird, die auf Befreiung zielen, gegen Nationalismus, Rassismus, Sexismus gerade Selbstorganisation und emanzipatorische Formen sozialen Handelns setzen.

9. Gesellschaftliche Phantasie sozialer Bewegungen zielt seit langem auf den Abbau des Machtgefälles, im weitestgehenden Konzept auf eine Gesellschaft ohne Herrschaft, die die Formen der Entscheidungsfindung neu erfindet, verändert, bewusst gestaltet, statt von ihnen wie von blinden Mächten beherrscht zu werden. In den Jahrhunderte langen Kämpfen sind Menschenrechte als Schutz- und Abwehrrechte formuliert worden, ein größeres Verständnis für Rechte von einzelnen und Minderheiten, zu existieren und sich zu entfalten, oft durch die Katastrophen der Herrschaft (Kriege, Genozide) schließlich die Begrenzung von Herrschaft (oft mit der Wirkung, dass Herrschaft sich neue Territorien, Technologien, Sprachen erobert). Dass effektive soziale Verteidigung von Einzelnen, Gruppen, ganzen Gesellschaften durch Verweigerung, direkte Aktionen sozialer Massenproteste bis zu Aufständen möglich und eine effektivere Macht sein kann als die Beteiligung an der parlamentarischen Scheinmacht, wurde auch in den Lernprozessen sozialer Bewegungen erfahren. Erfolge der Oppositionsbewegungen gegen die Hierarchie bleiben immer Kampfterrain und werden durch jede gesellschaftliche Krise oder technische Neuerung in Frage gestellt.

10. Die bewusste Selbstorganisation gesellschaftlicher Bereiche und des gesellschaftlichen Lebens insgesamt würde das Ende des Staates bedeuten. Welche Formen sind vorstellbar und emanzipatorisch? Jede Gesellschaft braucht Institutionen der Schlichtung von Streit und der gemeinsamen Entscheidungsfindung, denn Meinungen werden immer auseinandergehen und wir können keine Instanz annehmen, die die "Wahrheit" kennt und verwaltet oder durch überlegene Einsicht (Expertenwissen) zu Entscheidungen allein berechtigt wäre. Also muss die Gesellschaft Formen "erfinden" oder "konstruieren", die verbindliche Entscheidungen, ein Ende der Debatte, organisieren.

Das muss kein diktatorisches "Basta" bedeuten, sondern kann gerade Ungleichheit und Hierarchien abbauen. Solche (Verfassungs-)Einrichtungen können gleiche Zugangsmöglichkeiten, Aufbau von unten nach oben (Föderalismus, Dezentralisation), Öffentlichkeit, Schutz von Minderheiten, Anstreben eines Konsenses, imperative Mandate, Ämterrotation ... vorsehen; sie könnten aber etwa auch Entscheidungen durch das Los und Formen, an die wir noch gar nicht denken, ausprobieren. Sie würden im Prinzip jedes Mitglied der Gesellschaft für fähig halten, zu entscheiden und öffentliche Ämter - wo solche gewünscht oder notwendig sind - auszuüben.

11. Es gibt keine Garantie, dass eine Gesellschaft, die sich den Abbau von Hierarchien und größtmögliche Gleichheit zum Ziel setzt, nicht neue Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten, Führungsrollen, Manipulationen erzeugt; es ist aber möglich, auch Korrektive dagegen zu institutionalisieren. Ziel ist, dass eine sich befreiende Gesellschaft über ihre Freiheit wacht, sie eifersüchtig verteidigt und ein waches Bewusstsein der Gefährdungen aufrechterhält. Das "Grundbewusstsein" einer so verstandenen demokratischen Gesellschaft wäre, dass Fehler unvermeidlich sind und in ihren Auswirkungen möglichst begrenzt werden sollten, dass auch alle libertär konzipierten Institutionen eine immanent oligarchische Tendenz haben und nicht gegen Missbrauch geschützt sind.

12. So wie die heutigen spätkapitalistischen Gesellschaften Individuen prägen, die marktkonform und konsumorientiert sind, wird es attraktiv sein, sein eigenes Schicksal und das Schicksal der ganzen Gesellschaft aktiv zu gestalten, wenn Autonomie statt individueller Bereicherung das Ziel ist. Freies Handeln setzt bis in die Strukturen unseres "Wissens" und der Technik andere Notwendigkeiten und Themen als die Glorifizierung eines quantitativen "Fortschritts" oder der Ablenkung von Leere und Langeweile eines Lebens zwischen bürokratischer Monotonie der Arbeit und der Scheinmacht des Geldausgebens.

Es wird also weniger professionelle PolitikerInnen, BürokratInnen ... geben, sondern mehr spontane Kooperation, künstlerische Kreativität, aber auch neue Formen der Selbstbeschränkung: Andere nicht überwältigen, nicht für sich etwas durchsetzen, was andere nicht ebenso haben oder werden können. Denn es gibt Freiheit ohne Gleichheit so wenig wie Gleichheit ohne Freiheit.


DER LESESTOFF zum Superwahljahr 2009:
Sonderheft der graswurzelrevolution: "Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben!" Zur Kritik des Parlamentarismus

Das ursprüngliche Motiv des Anarchismus ist das individuelle Bedürfnis, nicht regiert werden zu wollen, auch nicht von Mehrheiten. Aus dem Inhalt:

Aktuelle Grundsätze anarchistischer Parlamentarismuskritik
Sozialismus als Staatlichkeit - oder als Anarchie?
Parlamentarismus und Frauenbewegung
Texte von Kropotkin, Oerter, Friedeberg, Voltairine de Cleyre, Rocker, Rühle
Alternativen zum Parlament: Wie organisiert sich die befreite Gesellschaft? 98 Seiten, 4,70 Euro. Rabatte für WiederverkäuferInnen.

Bestellungen bitte an:
GWR-Vertrieb. Birkenhecker Str. 11, D-53947 Nettersheim,
Tel.: 02440/959-250, Fax: -351, abo@graswurzel.net


(*) Voraussichtlich Ende August 09 erscheint ein neues parlamentarismuskritisches Aktionsblatt der Graswurzelrevolution. Vorbestellungen bitte an:
www.graswurzel.net

Wir wünschen, daß diese KEINE WAHL-Zeitung an vielen Orten ausgelegt oder verteilt wird: Uni, Schule, Buch-, Infoladen, Kneipe, Jugendzentrum, Büchertisch..., bei Mahnwachen, Demonstrationen, Aktionen. Wir hoffen auf Eure Bestellungen.

Wir vertreiben die KEINE WAHL!-Aktionszeitung gegen Vorkasse (bar, Scheck, Briefmarken) oder Einzugsermächtigung. Mindestabnahme: 20 Stück. Preise: 20 Es.: 5 Euro, 50 Ex.: 10 Euro, 100 Ex.: 18 Euro, 200 Ex.: 30 Euro, 300 Ex.: 45 Euro, 500 Ex.: 75 Euro. 1000 Ex.: 140 Euro, plus Versandkosten.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 340, Sommer 2009, S. 16
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2009