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GRASWURZELREVOLUTION/1105: Killerspiele in der Mitte der Gesellschaft


graswurzelrevolution 350, Sommer 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Killerspiele in der Mitte der Gesellschaft
In Gera wurden Bundeswehrsoldaten nach ihrem Kriegseinsatz mit einem öffentlichen Appell begrüßt

Von Michel Raab


Für manche beginnt der Appell der Afghanistankriegs-Heimkehrer (Soldaten, keine Soldatinnen) am 8. April 2010 mit Scherereien.

Weil die Geraer Innenstadt zu einem guten Teil für die Bundeswehr reserviert ist, kommt am Nachmittag die Stadtverwaltung zum Einsatz und lässt nicht ordnungsgemäß geparkte Fahrzeuge abschleppen. Der Platz wird nicht nur für die Anreise und Verpflegung von über 300 Soldaten gebraucht, sondern auch für ein ansehnliches Polizeiaufgebot, das sich in Nebenstraßen bereit hält. Der angekündigte Protest gegen den Bundeswehraufmarsch wird von den Repressionsorganen ernst genommen.

Schon 2003 fand auf dem Geraer Markt ein Appell statt. Obwohl die Polizei damals verdächtigen AnwohnerInnen den Zugang zu ihren Wohnungen verwehrte, wurde über mehrere Fenster hinweg ein großes Transparent über die strammstehenden Soldaten gehängt. 2010 stehen die meisten Häuser rund um den Markt leer. Vorsorglich werden sie durchsucht und versiegelt, um Unmutsbekundungen zu verhindern.

Während die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) an strategisch wichtigen Punkten Kameras postiert, sperren Feldjäger den Markt ab. Gummiboote werden auf dem Boden abgelegt und von Soldaten bewacht. In Sichtweite des Markts demonstriert derweil die "Initiative gegen Killerspiele im In- und Ausland" gegen das Militärspektakel. Auf Plakaten und Flugblättern argumentieren die AktivistInnen, das virtuelle Kriegshandwerk von Politik und Pädagogik argwöhnisch beäugt wird, während der Staat reale Killerspiele veranstaltet. Die Vorbeieilenden reagieren irritiert.

Eine Ecke weiter demonstrieren 200 Menschen für den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Man sieht, dass Antimilitarismus nicht gerade hip ist in Thüringen. Mehrheitlich ältere Menschen sind dem Aufruf der Partei "Die LINKE" (PDL) gefolgt. Ein paar Punks versuchen im Anschluss, auf den Markt zu gelangen, erhalten aber vom BFE Aufenthaltsverbote - obwohl, wie ein Mitarbeiter der PDL betont, die Polizei im Kooperationsgespräch zugesagt hat, dass der Zugang zum Markt nicht beschränkt würde. Das ist Thüringen. Die Polizei ist wild entschlossen, jegliche Störung zu unterbinden. Wenigstens das Parteibüro in Sichtweite des Appells ist mit antimilitaristischen Plakaten geschmückt.

Zurück auf dem Markt sieht man ab 16 Uhr, wie Soldaten zur Probe aufmarschieren. Ein einzelner Demonstrant ist durch die Absperrungen geschlüpft und zeigt diesen ein Transparent. Die Gesichter der Zurückgekehrten sehen aus wie die von Teenagern. Ein Vorgesetzter erklärt langsam und penibel, wo und wie das Gepäck abgelegt wird. Dass man es hier nicht mit einer Klassenabschlussfahrt in Schuluniformen zu tun hat, wird deutlich, als eine Gruppe Soldaten mit umgehängtem G36-Sturmgewehr einmarschiert. Das G36 ist effektiv gegen das, was im Militärjargon "Weichziele" heißt. Bei einem Treffer zerbricht das Projektil im Körper und führt zu schweren Verletzungen, die oft auch dann tödlich sind, wenn keine lebenswichtigen Organe getroffen wurden. Ein Magazin fasst 30 Schuss Munition.

Nach der Generalprobe gibt es wie bei der Klassenfahrt freie Zeit. So flanieren die SoldatInnen in kleineren Grüppchen durch die Innenstadt. Die Bundeswehr geht davon aus, dass ca. 2% der SoldatInnen mit psychischen Störungen vom Einsatz zurückkehren. Erhoben werden allerdings nur diejenigen, die sich in Bundeswehrkrankenhäusern behandeln lassen.

Die Bundeswehr hat mit 3.000 BesucherInnen gerechnet. Es sind deutlich weniger, als um 20 Uhr der eigentliche Appell beginnt. Mit Fackelträgern, Tschingderassabumm und Befehlsgeschrei formiert sich die Armee rund um den Markt. Dann kommen die Reden. In Richtung einiger Leute mit Friedenstauben kritisiert der Geraer Bürgermeister, dass der Bundeswehraufmarsch für eine politische Demo genutzt wird. Hält er es für unpolitisch, wenn der öffentliche Raum von SoldatInnen besetzt wird?

Die Ministerpräsidentin von Thüringen führt aus, dass die Armee in Afghanistan nur für anständige Ziele kämpft. Wen soll das beruhigen? Auch Kaiser Wilhelm II und Hitler haben nicht gesagt: "Das deutsche Heer kämpft für eine zutiefst widerwärtige und böse Sache." Ein Soldat bedankt sich für den begeisterten Empfang. Er meint sicher nicht die junge Frau, die am Rande "Besatzer" zischt, was zu nervösen Bewegungen bei den Feldjägern führt.

Das hektische Hin und Her von Ordnungskräften ist wenig später dann das auffälligste Zeichen dafür, dass eine Störung vorliegt. GegendemonstrantInnen halten Zettel mit den Namen von Opfern der von der Bundeswehr angeordneten Bombardierung eines Tanklasters in Kunduz hoch. Es kommt zu Pfiffen. Beides zusammen ist eindeutig zu viel Widerspruch. Unter Androhung körperlicher Gewalt werden die DemonstrantInnen vom Markt gedrängt.

Zwei Landtagsabgeordnete der PDL argumentieren vergeblich gegen die Maßnahme. Eine Demonstrantin wird von einem Hund der Ordnungskräfte gebissen, eine weitere verweigert sich der Personalienfeststellung und wird abgeführt. Aus der Gasse, die vom Markt wegführt, ruft noch jemand "Nie wieder Deutschland", dann, ist die Volksgemeinschaft wieder unter sich.

Am 14. März 1920 wurde der Geraer Markt von putschenden Reichswehreinheiten besetzt. Einen Tag später wurden die Soldaten von unbewaffneten Arbeitern überwältigt. Der Kapp-Putsch wurde niedergeschlagen, 15 ArbeiterInnen verloren in Gera ihr Leben im Kampf gegen den deutschen Militarismus. Auch wenn sich die Bundeswehr an wichtigen Punkten von den Vorgängerarmeen Wehrmacht und Reichswehr unterscheidet, ist das Säbelgerassel an diesem Ort besonders abscheulich. Männer, die im Gleichschritt marschieren, in der Logik von Befehl und Gehorsam funktionieren, stehen zu augenscheinlich in militaristischer Tradition, als dass man ihnen abnehmen könnte, in "humanitärer Mission" unterwegs zu sein. Was mit dem 8. Mai 1945 leider nur kurz abgeschafft war und in der alten BRD auf die Kasernenhöfe beschränkt wurde, findet heute mit Marschmusik, Fakeln und Fahnen einen Platz in der Mitte der Gesellschaft. Sturmgewehre sind wieder ein legitimes Mittel der Auseinandersetzung.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 350, Sommer 2010, S. 4
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2010