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GRASWURZELREVOLUTION/1124: Italien im Jahre Null - Teil 2


graswurzelrevolution 352, Oktober 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Italien im Jahre Null
Eine Analyse der sozialen und politischen Entwicklungen (Teil 2)

Von Massimo La Torre


Massima La Torre ist Professor an den Unis Catanzaro in Kalabrien (Italien) und Hull (England). Für die SWR-LeserInnen analysiert der Humholdtpreisträger und Anarchismusforscher die aktuelle Entwicklung Italiens. Seinen Aufsatz "Italia anna zero" veröffentlichen wir in drei Teilen exklusiv in deutscher Übersetzung. Teil 1 erschien in GWR 351, Teil 3 erscheint im November in der GWR 353. (GWR-Red.)



Fortsetzung aus GWR 351 (*)

Seit über einem Jahrzehnt sind wir zyklisch gezwungen, verblüfft die Wahlergebnisse wahrzunehmen, die anfangs fast ein Gefühl der Übelkeit in uns erregt haben. Dann herrschte ein Gefühl der Leere vor und letztlich steigt die Wut in uns hoch, gegen einen Pöbel, der uns immer mehr als derselbe erscheint, der gegen die Reste der neapolitanischen Jakobiner (25) wütete, geleitet von den Gebeten und dem Wein des Kardinals Ruffo. Die "Leute" haben sich erneut in "Canaillen" verwandelt, das "Proletariat" in "Gesinde!". Und über diesem drohen, wie einstmals, umschlungen in einer Umarmung wider die Natur, der "Thron" und der "Altar".

Nun, wenn wir einmal den elitistischen Tic weglassen, der sich bei solch einer Reaktion aufdrängt, zugegeben und nicht gebilligt, dass wir das "Gesinde!" nicht in uns beherbergen und nicht vor allem "wir" es sind, ist die Bestürzung verständlich. Wie kann man den Reichsten des Landes wählen, der mit diesem Reichtum prahlt, der ihn uns um die Ohren haut und sich durch unsere Misere bereichert? Wie kann man jemanden wählen, der korrumpiert und mit 15jährigen Mädchen ins Bett geht? Der sich zwischen einem Gesetz ad personam und dem anderen mit zweitklassigen Prostituierten amüsiert? Wie kann man jemanden wählen, der sich bei der Nachricht über ein Erdbeben die Hände reibt wegen der guten Geschäfte, die ihm die Tragödie und die Toten auf dem Silbertablett servieren?


Wie kann man jemanden wählen, der um den Hals eine Kette mit dem Keltischen Kreuz trägt, demselben des Generalissimo Franco und der Attentäter des Bahnhofs von Bologna?

Wie kann man so etwas machen? Und doch geschieht es, und in großer Zahl. So dass sich in periodischen Abständen die immer gleiche Frage stellt: warum gewinnt die Rechte?

Die Antwort ist nicht einfach, oder vielleicht ist sie es doch. An erster Stelle, möchte man sagen, gewinnt die Rechte, weil es die Linke nicht gibt. Die Linke ist in der anachronistischen Suche nach dem alten Historischen Kompromiss (26) (endlich, minimalistisch und unglücklich implementiert durch diese politische Kreatur Frankensteins, gemacht aus den Leichenteilen von Parteien, die die PD (27) ist). Sie hat sich im arrivistischen Konformismus verflüchtigt, der sich z.B. die lingua cuarti imperii des Gegners zu eigen gemacht hat, angefangen bei dem höchst gefürchteten Ausdruck "ins Feld ziehen" und damit natürlich die "Truppe".

Die Sprache und die Vorstellungskraft dieser "Linken" endet damit, denen des Cavalieres zu gleichen, so dass auf bestimmte Art die Träume des letzteren legitimiert werden (ein Italien, das eine Art post-fellinianische Wiedererweckung der Bordelle von damals, mit einem Schleier aus Pailetten, nackten Ärschen, bervorquellenden Brüsten, stets; zuvorkommenden verständigen Mädchen und wenig geschäftigen Kupplern und Ränkeschmieden, die ganz gewiss damit beschäftigt sind, rumzugammeln und sich gute Geschäfte mit der jeweiligen Hausdame zu überlegen). Die Vorstellungswelt und die Sprache der Rechten und der Linken treffen sich in einem Spiel aus ungefähren Überlagerungen. Der Lebensstil ist letztlich derselbe. Es ist jener, der an den Abenden in Porta a Porta28 zu Gast bei Vespa, der eine Art Zeremonienmeister oder oberster Kammerherr des berlusconianischen Italiens ist, bestätigt wird. Frau Bertinotti (29) ist ästhetisch nicht von Frau Almirante (30) zu unterscheiden. Die Linke gibt es also nicht, weil sie nicht als anders wahrzunehmen ist.

Sie ist nicht als solche zu sehen, auch weil sie - die arme Träumerin - denkt, sie könnte gewinnen, indem sie "das Zentrum erobert", indem sie die "Moderaten" für sich gewinnt. Nun, selbst davon abgesehen, dass zwanzig Jahre Berlusconismus (z.B. das Geschrei von Sgarbi (31)) den Moderatismus aus dem Panorama der Italienischen Rechten getilgt haben; warum sollte der berühmte Moderate zwischen dem Original (dem Cavaliere, oder Sgarbi) und der Kopie (z.B. Vittorio Cecchi Gori), das gefälschte Stück wählen? Es ist stets besser, sich für das Original zu entscheiden, dass uns mehr Garantien liefert. Der "Moderate", nehmen wir einen katholischen Integralisten, hat einen zu guten Riecher und vor allem zu viel Disziplin, um eher die Binetti (32) als die Carfagna (33) zu wählen. Er wird es zulassen, dass die Binetti, wenn auch widerwillig, die von der anderen Seite wählen. An dem geschrienen und böswilligen Müll der Rechten kann die gutmenschliche Ambiguität der Linken (Sag ich's oder sag ich nichts?...) keinen Kratzer machen. Im Gegenteil, sie exaltiert sie, macht sie noch sichtbarer, noch: sicherer.

Aber es gibt noch einen, sagen wir, "anthropologischen" Grund. Bis zu einem Zeitpunkt, den wir beinahe aus Gewohnheit in das Licht des goldenen Zeitalters kleiden (die "Erste Republik"), bestand die Rechte aus grauen Figuren, Honoratioren, die in eine hölzerne Sprache eingegipst waren, fern ab von den Wünschen der Leute und daher unverständlich für diese.

Es waren Persönlichkeiten wie Fanfani (34), Rumor (35), Piccione (36), Gullotti (37), ewig in altmodische Zweireiher gezwängt und mit schweren Dienstwagen unterwegs. Sie sprachen, wenn sie sprachen, in einem Jargon für Eingeweihte (die "parallelen Kovergenzen"). Sie fürchteten das Rampenlicht und vielleicht auch das Tageslicht. Gullotti, so scheint mir, hat nie eine öffentliche Rede gehalten. Die Linke bestand hingegen noch aus Gewerkschaftern, die die Arbeit in der Fabrik und auf dem Feld kannten, oder aber aus Politikern, die den Gestank des Knastes kannten und sich mit einem Du an jeden richten konnten, ohne diesen dabei notwendigerweise einzuschüchtern, sondern mit ihm vielmehr in der Gemeinsamkeit und Komplizenschaft des Lebens und des Schicksals kommunizieren konnten.

Ihre Sprache war schneidend, ein bisschen wie Peppone, aber gerade deshalb drang sie direkt ins Herz der Wählerinnen und Wähler. Sie war naiv, aber effektiv.

All das endet Ende der siebziger Jahre, Wasserscheide der neuen italienischen Geschichte. Die Rollen und Menschentypen kehren sich um. Die Linke besteht nun immer mehr aus einer Klasse von Führungskadern, die in den Schulen der Partei groß geworden sind; sie sind Produkte aus dem Treibhaus, Männer der "Kurie", nicht "Dorfpriester". Von der Straße wissen sie wenig oder nichts. Es ist nun ihre Sprache, die hölzern ist. Es ist ihr Lebensstil, der nun entfernt von dem einfachen Leben des Angestellten, des Arbeiters und der Hausfrau ist. Aber die Rechte - mag man einwerfen - hat die vielleicht einen Lebensstil, der näher und einfacher ist?

Nein, sicher nicht. Aber diese Rechte ist nun nicht mehr die von früher, die christdemokratische Kaste. Es sind reine Geschäftemacher, sie kommen nicht mehr aus der FUCI (38) oder den ACLI (39). Sie sind Straßenräuber. Jetzt muss der Taschendieb, der Betrüger, um seine Arbeit zu machen, unter den Leuten sein, er muss sich ihnen annähern, mit ihnen reden, er muss sie kennen, er muss sie sogar berühren und betasten, denn sonst kann er seine Hand nicht mehr in ihre Taschen stecken und bis an die Geldbörse kommen.

Der Hausierer, der Verkäufer von kaputten Töpfen und nutzlosen Enzyklopädien, muss von Tür zu Tür gehen, mit der Hausherrin plaudern, ihr zuzwinkern, die Wünsche anheizen. Dies ist nun der Mann, der anthropologische Typus, der Rechten.

Es ist ER, der zu den Menschen spricht, denn um sie zu berauben, muss er sie ködern, sie hereinlegen. Auf der anderen Seite ist sein Rivale, der ihn aufhalten sollte, der Mann der Linken, er hat seine Ausbildung aus der Schule der Frattocchie (40) und nicht von den Plätzen, oder den Tanzlokalen oder den Zusammentreffen der Rentner am Sonntag. Er kann schöne "Analysen" erstellen, spricht ein gewähltes Italienisch. Er brüllt nicht, wird nicht laut und hat sich auf den Korridoren von Botteghe Oscure (41) und der Piazza del Gesù aufgehalten (42). Er hält sich für den Politiker, für intelligent, ja sogar für den Besten. Er weiß es noch nicht (er hat Gramsci und Don Sturzio (43)), aber er wird uns alle - oh weh auch uns - ins Desaster führen.


Teil 3 erscheint im November in der GWR 353

Übersetzung aus dem Italienischen: Lars Röhm


Anmerkungen des Übersetzers:

(24) Italienischer Mitte-links Politiker und Unternehmer der Film- und Fernsehindustrie. Er wurde 2001 verhaftet, da größere Mengen Kokain in seiner römischen Wohnung gefunden wurden.

(25) Anspielung auf die République Parthénopéanne (Januar - Juni 1799), die König Ferdinand IV. von Neapel ins sizilianische Exil zwang. Kardinal Ruffo folgte ihm damals und organisierte verschiedene Aufstände gegen das französische Regime.

(26) Politische Strategie der PCI unter Berlinguer (1973) zur Tolerierung der demokratischen Parteien im Parlament (und umgekehrt), um Italien vor einer autoritären Wende zu bewahren. Dies führte zur Duldung der Regierung der Nationalen Solidarität unter Andreotti 1978. Ziel war es, Italien sowohl gegen Links- als auch Rechtsradikalismus zu schützen.

(27) Partito Democratico - Demokratische Partei.

(28) Polit-Talkshow auf RAI 1.

(29) Fausto Bertinotti: Politiker, Gewerkschafter und langjähriger Sekretär der PRC (Partito della Rifondaziona Comunista).

(30) Giorgio Almirante: Politiker und Gründer des MSI (Movimento Sociale Italiano). Das MSI entstand aus Veteranen der Repubblica Sociale Mussolinis. Nachfolger Almirantes wurde der heutige Präsident der Deputiertenkammer, Gianfranco Fini. "Niemand wird jemanden, der nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist, einen Faschisten nennen können", sollen Almirantes Worte bei der Amtsübergabe des MSI-Vorsitzes an Fini gewesen sein.

(31) Vittorio Sgarbi: Kunstkritiker und Politiker, der sich im Fernsehen selbst gerne als schreihälsigen "Polemiker" inszeniert. In seiner Politischen Laufbahn hat er sämtliche politischen Strömungen Italiens - von der PCI bis zum MSI - durchlaufen. Lange Zeit war er jedoch in Berlusconis Forza Italia aktiv.

(32) Paola Binetti: Parlamentarierin der Unione di Centro, Geldgeberin von Opus Dei, die dementsprechend für extrem konservative Positionen steht und oft wegen homophober Äußerungen in der Kritik stand.

(33) Mara Carfagna: Ex-Showgirl und Politikerin aus dem Lager Berlusconis. Ministerin für Gleichstellung, die oft wegen des konservativen Familienbildes und homophoben Äußerungen in der Kritik stand.

(34) Amintore Fanfani: ehemaliger Parteichef der Democrazia Christiana.

(35) Mariano Rumor: Politiker der DC.

(36) Paolo Piccione: Sizilianischer Politiker.

(37) Antonio Pietro Gullotti: Christdemokrat aus Sizilien.

(38) Federazione Universitaria Cattolica Italiana: Katholische Studentenverbindung.

(39) Associazioni Cristiane de Lavoratori Italiani: Christliche Arbeitervereine. Entstanden entsprechend der katholischen Soziallehre, die es katholischen Arbeitern gestattete, sich Gewerkschaften anzuschließen, wenn sie im Gegenzug begleitend Vereine zur Erziehung in katholischer Religion und Moral gründeten. Die ACLI bildeten 1944 einen der Grundsteine für den Pakt zur gewerkschaftlichen Einheit mit Sozialisten und Kommunisten (Pakt von Rom), der die Gründung der CGIL - damals als Einheitsgewerkschaft - vorbereitete.

(40) Berühmte Kaderschule der PCI und kommunistischer Thinktank in der Nähe von Rom.

(41) Siehe Note 17.

(42) Früherer Sitz der Parteizentrale der Christdemokraten in Rom.

(43) Priester, Gründer der Italienischen Volkspartei (PPI 1919-26) und Begründer des Populismus.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil 1 dieses Artikels siehe unter:
SCHATTENBLICK -> INFOPOOL -> MEDIEN -> ALTERNATIV-PRESSE  
GRASWURZELREVOLUTION/1112: Italien im Jahre Null - Teil 1


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 352, Oktober 2010, S. 15
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2010