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GRASWURZELREVOLUTION/1160: 30 Jahre Radio Libertaire - über die Sendung "Chroniques Rebelles"


graswurzelrevolution 356, Februar 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

ANARCHISMUS
"Weil es so schön anarchistisch bei uns zugeht"
30 Jahre Radio Libertaire. Christiane Passevant über ihre Sendung "Chroniques Rebelles"

Von Jorinde Reznikoff / KP Flügel


Seit 30 Jahren sendet Radio Libertaire in Paris. Wir gratulieren den Pariser GenossInnen herzlich und präsentieren ein Interview, das Mitglieder des Freien Sender Kombinat Hamburg mit Christiane Passevant für die GWR geführt haben (GWR-Red.).


Freie Radios gibt es in Europa seit Mitte der 70er Jahre als Resultat der politischen Kämpfe alternativ-emanzipatorischer Bewegungen um Gegen-Öffentlichkeiten. Beispielhafte Vorreiter-Projekte sind Radio Alice aus Bologna oder Radio Libertaire aus Paris. Letztgenannter Radio-Sender bezieht sich nicht auf eine Pluralität unterschiedlicher linkspolitischer Ansätze, sondern explizit auf den Anarchismus. Denn die Sendelizenz liegt bei der Fédération Anarchiste, dem bedeutendsten Zusammenschluss libertärer Gruppen in Frankreich.

Als Sendende beim Freien Sender Kombinat Hamburg, einem selbstverwalteten nichtkommerziellen Radioprojekt, interessiert uns natürlich der inhaltliche Austausch mit anderen ähnlichen Medienprojekten. In Paris trafen wir Christiane Passevant, die bei Radio Libertaire die Sendung "Chroniques Rebelles" redaktionell verantwortet. Mit ihr sprachen wir über ihre redaktionellen Intentionen und Erfahrungen.

"Bei Radio Libertaire engagieren sich ungefähr 200 Menschen als ehrenamtliche Verantwortliche für die Redaktion, Moderation oder für die technischen Abläufe der Sendungen", sagt Christiane Passevant. Selbst moderiert sie ihre Sendung "Chroniques Rebelles" jeden Samstag von 13.30 bis 15.30 Uhr. "Für die Sendungen sind allein die Sendenden verantwortlich. Die Fédération Anarchiste ist der Lizenznehmer, was aber nicht heißt, dass sich der Sender als deren bloßes Verlautbarungsorgan versteht. Vielmehr ist ein breites Spektrum von Menschen, die sich unterschiedlichsten libertären Organisationen bzw. Positionen politisch nahe fühlen, im Sender engagiert."

Christiane Passevant verweist dabei auf die anarcho-syndikalistische CNT und auf feministisch orientierte Redakteurinnen, die eigene Sendungen gestalten.


Radio Libertaire wurde 1981 auf dem Höhepunkt einer Bewegung gegründet, die das staatliche Rundfunkmonopol nicht länger hinnehmen wollte

"In den Achtzigern gab es noch viel mehr freie Radios, aber viele von denen haben sich zu kommerziellen Sendern entwickelt", erzählt Christiane Passevant. "Radio Libertaire ist heute leider eines der letzten verbliebenen nicht-kommerziellen Radios. Es gibt bei uns ein Sekretariat, das auf dem jährlich stattfindenden Kongress der Fédération Anarchiste gewählt wird. Auch treffen sich jährlich Hörerinnen und Hörer, die zahlende Fördermitglieder sind. Denn Radio Libertaire ist ein Sender, der sich ausschließlich selbst finanziert. Es gibt also keine Werbung! Das heißt aber auch, dass es viele finanzielle Probleme gibt. Die hat es schon immer gegeben und dennoch hat es das Radio tatsächlich geschafft zu überleben. Wahrscheinlich, weil es so schön anarchistisch bei uns zugeht...!" Hauptberuflich arbeitet Christiane als Film-Cutterin, ist also an perfektionistisches Arbeiten gewöhnt. "Bei Radio Libertaire wird darauf überhaupt kein Wert gelegt, noch ist es überhaupt möglich, da einfach die technischen Mittel fehlen."

Christiane Passevant ist seit gut zwanzig Jahren dabei. Zuerst produzierte sie vereinzelte Beiträge im Rahmen der Sendung "Chroniques Syndicales", vornehmlich zu internationalen Themen rund um den Mittelmeerraum. Die Idee zu "Chroniques Rebelles" entstand 1991. "Ich hatte damals Israel und Palästina bereist, kam dort in Kontakt mit antizionistischen Israelis und mit Palästinensern und konnte sehr viele Gespräche und Interviews führen. Als ich wieder nach Paris zurückkam, entstand die Idee, das Material für eine eigene Sendung zu verwenden. Ich erhielt viel Unterstützung von Leuten aus dem Sender oder aus situationistischen Zusammenhängen und aus der Gruppe Socialisme ou Barbarie sowie aus dem Verlag Edition Spartacus."

In ihrer ersten Sendung 1992 ging es um die Geschichte des Erdöls. "Denn der Kampf ums Erdöl ist der Schlüssel zum Verständnis vieler Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Dann interessiert mich die Entwicklung im Mittelmeerraum. Die Sendungen sind konzeptionell sehr breit angelegt. Immerhin haben wir 2 Stunden Zeit, um Themen, die bei anderen Medien kaum Berücksichtigung finden, tiefgehend zu erörtern. Das programmatische Credo von Radio Libertaire lautet: Ni Dieu, Ni Maitre (Kein Gott, kein Herr). Wir sind ein völlig autonomes Radio - ohne Werbung, ohne Tabus, ohne Zensur. Ich versuche, die Sendung sehr offen zu halten, um den Kreis der Hörerinnen und Hörer immer mehr zu erweitern. Alles was gegenläufig ist, kann seinen Platz in der Sendung finden. Ein Thema kann aus unterschiedlichen Blickwinkeln kontrovers und auch polemisch erörtert werden, solange eine Diskussion auf gegenseitigem Respekt beruht.

Wenn ich eines nicht mag, dann den von wem auch immer verordneten Konsens. Ich habe keine persönlichen Ambitionen, die über die Sendung hinausgehen. Ich fühle mich nur dem Radio gegenüber verpflichtet. Daher heißt die Sendung auch Chroniques Rebelles auf Radio Libertaire. Und ich respektiere gleichermaßen das Radioprojekt als politisches und die Fédération Anarchiste, welche mir die redaktionelle Freiheit geben, die Sendung zu machen."

Christiane Passevant ist zufrieden, wenn sie ihr Publikum dazu bringen kann, sich mit dem in der Sendung behandelten Thema noch weiter und intensiver zu beschäftigen, wenn sie Anregungen geben kann, sei es über ein Buch, einen Film, ein Theaterstück, einen Arbeitskampf, eine Demonstration... "Natürlich immer in einem anarchistischen Kontext. Anarchie bedeutet dabei für mich eine gesellschaftliche Ordnung ohne Herrschaftsstrukturen."

Ihre Sendung basiert auf intensiv geführten Gesprächen. Die eingeladenen Gäste haben die Möglichkeit, sich ausführlich zu äußern. "Im Rahmen einer zweistündigen Sendung bleibt viel Zeit, ein Thema zu beleuchten und unterschiedliche Positionen zu diskutieren. Die Ausdrucksfreiheit ist die Grundlage für beide Seiten. Es kommen auch viele Musiker, von Rappern bis zu Serge Utgé Royo, dem anarchistischen Chansonier. Man muss eine Grundlage schaffen, auf der die eingeladenen Gäste zu mir ein Vertrauen aufbauen und die Studiosituation vergessen können. Denn nur so können sie sich wirklich frei äußern - offener als in den öffentlich-rechtlichen Sendern."

Die Frage, ob die Sarkozy-Regierung durch eine andere Machtoption seitens der politischen Linken um die Sozialisten abgelöst werden sollte, ist für sie nicht weiter relevant. Christiane Passevant setzt keine Hoffnung in die etablierten politischen Parteien.

"Man muss den Widerstand überall selbst organisieren, da wo man arbeitet und wohnt, auf allen Ebenen, auch was das eigene persönliche Leben betrifft, man muss als unabdingbare Basis der Veränderung vor allem an sich selbst arbeiten." Christiane Passevant hält die derzeitige politische Rechte, ihre Ideen und Ziele für rechtsextrem bis faschistisch in lediglich weniger ängstigender Verpackung.

"Die Angst der Menschen um ihre Arbeit, ihre Autos, ihre Häuschen wird massiv instrumentalisiert durch den Sicherheitsaktionismus der Regierung, der die Leute alles schlucken lässt. Natürlich ist ihre Angst vor Gewalt verständlich. Aber man muss verstehen, woher diese Gewalt kommt! Und man muss selbst aktiv werden, eine andere Wahl haben wir nicht."

Diese Problematik wird in der Sendung am 5. Februar 2011 vertiefend diskutiert. Dann ist der aus dem US-Bundesstaat Montana stammende und seit Jahrzehnten in Frankreich lehrende Politologe und Soziologe Larry Portis eingeladen, sein gerade erschienenes Buch "Qu'est-ce que le fascisme?" vorzustellen. Eine präzise Bestimmung des inflationär verbrauchten Begriffs des "Faschismus" als einer Form von totalitärer - politischer Kontrolle, die in kapitalistischen Gesellschaften als Antwort auf eine ökonomische Krise auftaucht, erscheint uns dringend geboten.


Eine internationale. libertäre Informationplattform:
www.divergences.be

Nicht zuletzt aufgrund ihrer vielfältigen journalistischen Interessen und Kontakte hat Christiane Passevant 2006 mit Pierre Sommermeyer und Ronald Creagh die Internetseite Divergences.be ins Leben gerufen, die sich als internationale, libertäre Informationsplattform begreift und oft auch (übersetzte) Beiträge aus der Graswurzelrevolution übernimmt. An dem Projekt ist auch GWR-Gründungsmitglied Wolfgang Hertle aus Hamburg beteiligt.

Christiane Passevant: "Vom Inhalt und Verfahren her verläuft es ähnlich wie bei meiner Radiosendung, also veröffentliche ich Themen nach dem Schneeballprinzip: ein Thema, eine Begegnung ergeben zahlreiche weitere. Außerdem fotografiere ich sehr gern..."


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, 356, Februar 2011, S. 11
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2011