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GRASWURZELREVOLUTION/1167: Der Fall von Abdallah Abu Rahmah


graswurzelrevolution 357, März 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Der Fall von Abdallah Abu Rahmah
Die Kriminalisierung des gewaltfreien palästinensischen Basiswiderstands und seiner UnterstützerInnen

Von Bridget Chappell


Seit Jahren bekämpft der israelische Sicherheitsapparat den gegen Besatzung, Barriere und Siedlungsbau gerichteten gewaltfreien palästinensischen Basiswiderstand. Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Taktiken angewandt. Eine dieser Taktiken war es seit jeher, den Widerstand zu kriminalisieren und an AktivistInnen ein Exempel zu statuieren, indem man sie längere Zeit inhaftiert, durch Gerichtsverfahren auslaugt Und finanziell ruiniert.
Bridget Chappell, die lange Zeit als Koordinatorin der gewaltfreien Aktionsgruppe International Solidarity Movement in den besetzten Gebieten aktiv war - bis sie selbst Anfang 2010 von der israelischen Armee in ihrer Wohnung in Ramallah verhaftet, eingesperrt und schließlich, nach längerem Rechtsstreit, von einem Gericht zum Verlassen des Landes gezwungen wurde - analysiert für die Graswurzelrevolution den Fall des palästinensischen Aktivisten und politischen Gefangenen Abdallah Abu Rahmah aus Bil'in, das beispielhaft ist für die Kriminalisierung dieser gewaltfreien Protestbewegung mit dem Ziel, diese zu zerschlagen. (Red.)   


Die Inhaftierung von Abdallah Abu Rahmah ist ein gutes Beispiel für das Unbehagen, das gewaltfreier Basiswiderstand der israelischen Armee, dem Sicherheitsapparat und dem Justizsystem bereitet. Rahmah ist Koordinator des Bil'in Popular Committee Against the Wall and Settlements und wurde im August 2010 von einem israelischen Militärgericht der "Anstiftung zur Gewalt" für schuldig befunden, nachdem er bereits neun Monate lang ohne Anklage im Ofer Militärgefängnis inhaftiert war. Dort befindet er sich bis heute.

Eine genauere Betrachtung seines Falls offenbart die beeindruckende Geschichte vom gewaltfreien Engagement eines Mannes, der versucht, sein durch die Barriere, die Israel im Westjordanland baut, bereits zur Hälfte annektiertes Dorf zu schützen. Die Geschichte zeigt auch die Bedrohung auf, die dieses Engagement für die israelische Besatzung darstellt.


Gezielte Verhaftungen

In den sechs Jahren des Protests der palästinensischen Gemeinde Bil'in gegen die Separationsbarriere spielte Rahmah eine zentrale Rolle. Er trug dazu bei, dass das Dorf Bekanntheit erlangte und zum Synonym für den gewaltfreien, gemeinsamen Widerstand von PalästinenserInnen, Israelis und internationalen AktivistInnen wurde. Da er der Koordinator des örtlichen Popular Committees war, avancierte er auch zum Gesicht des Widerstands. Dazu beigetragen hat auch das Gerichtsverfahren, das die Gemeinde Bil'in in Montreal gegen zwei kanadische Firmen lancierte, die daran beteiligt waren, seit 2009 illegale jüdische Siedlungen auf dem Land von Bil'in zu errichten. Im Jahr 2008 trat Rahmah eine Reise durch Frankreich an, um über die Aktivitäten seiner Gemeinde zu informieren.

Als die Razzien und Hausdurchsuchungen der israelischen Armee im Sommer 2009 immer häufiger wurden und mehr als 30 AktivistInnen, die verdächtigt wurden, an Demonstrationen beteiligt gewesen zu sein, verhaftet wurden, entschlossen sich Rahmah und seine Familie dazu, sich eine Wohnung im nahe gelegenen Ramallah zu mieten.

Diebe wurde schließlich am 10. Dezember 2009 - am Internationalen Tag der Menschenrechte und ein Jahr, nachdem Rahmah in Berlin von der Internationalen Liga für Menschenrechte die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen bekam (1) - von Militärjeeps umstellt.

Es wurde ihm noch erlaubt, sich von seiner Frau und seinen Kindern zu verabschieden, dann wurde er in das Ofer Militärgefängnis gebracht, dem größten Militärgefängnis im Westjordanland.


Haft und Gerichtsverfahren

Er verbrachte fast neun Monate im Gefängnis, bevor er am 24. August 2010 in zwei von vier Anklagepunkten für schuldig befunden wurde. Während er von den Anklagepunkten, er habe Steine geworfen Und: Waffen besessen, frei gesprochen wurde, befand das Gericht ihn in den Punkten "Anstiftung zur Gewalt" und "Organisation illegaler Demonstrationen" für schuldig.

Die "Waffen", deren Besitz man ihm anlasten wollte, waren Hunderte von gebrauchten Tränengaskanistern und Patronenhülsen, die er auf den Feldern von Bil'in eingesammelt hatte, um die Gewalt des Militärs veranschaulichen zu können, mit der die DemonstrantInnen jeden Freitag konfrontiert werden.

Als "illegale Demonstration" wird unter israelischem Militärrecht jede Ansammlung von mehr als zehn Menschen verstanden, wenn es dafür keine Bewilligung der Armee gibt, was wiederum soviel heißt wie: es gibt de facto keine Möglichkeit, legal zu demonstrieren. Trotzdem zu demonstrieren, ist ein klassischer Akt des zivilen Ungehorsams, ein wichtiger Bestandteil im Repertoire jeder gewaltfreien Revolte wie jene gegen die Barriere im Westjordanland.

Es wurde verschiedenes versucht, um den Anklagepunkt "Anstiftung zur Gewalt" plausibel erscheinen zu lassen. So wurden z.B. Zeugenaussagen gegen Rahmah von verhafteten jugendlichen DemonstrantInnen vorgelegt, die unter höchst dubiosen Umständen bei Verhören zustande kamen. (2) Schlussendlich wurde er zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt. (3)

Bei seinem letzten Termin vor Gericht, am 11. Januar 2011, wurde seine Strafe nochmals um drei Monate verlängert. Er entging nur knapp einer Verlängerung um ein ganzes Jahr, die von der Staatsanwaltschaft gefordert wurde. Die Haftstrafe wurde bereits an ihrem ursprünglichen Ende am 18. November 2010 verlängert, als die Staatsanwaltschaft - vor einem zum Bersten vollen Gerichtssaal mit palästinensischen, israelischen und internationalen UnterstützerInnen, DiplomatInnen aus sieben europäischen Staaten, der UNESCO und Human Rights Watch - offen die politische Motivation für die Verlängerung der Haftstrafe preisgab. So hieß es in der Erklärung, dass "dies als Abschreckung dienen soll, nicht nur für Abu Rahmah selbst, sondern auch für all jene, die seinem Beispiel folgen wollen".


"Anstiftung zur Gewalt"

Am 30. Juni 2010 wurde ein weiterer Aktivist aus Bil'in, Adeeb Abu Rahmah, in den selben Anklagepunkten wie Abdallah schuldig gesprochen. Es sind der Diskurs und die Taktiken, die bei diesen beiden Fällen zur Anwendung kamen, die diese so außergewöhnlich machen. Eine derartige Offenheit von Seiten des israelischen Staates über seine Motive, wie man es in diesen Fällen erlebt hat, mag ungewöhnlich erscheinen.

Der Staat hat sich in diesen Fällen nicht einmal mehr die Mühe gemacht, die tatsächlichen Motive, die der Inhaftierung dieser Aktivisten zugrunde liegen, zu verschleiern. Es ist für palästinensische AktivistInnen zum Standard geworden, für Vergehen verhaftet und vor Gericht gestellt zu werden, die es für die Staatsanwaltschaft vor Gericht möglichst unkompliziert machen, diese aufrechtzuerhalten, sei es nun die "Teilnahme an illegalen Demonstrationen" oder "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation".

Adeeb und Abdallah Rahmahs Fälle sind jedoch die ersten, wo die "Anstiftung zur Gewalt" der vorrangige Anklagepunkt war, denn dieser Vorwurf wurde bei früheren Prozessen, aufgrund der Tatsache, dass er recht vage ist, eher als zweitrangiger Anklagepunkt behandelt.


Wird die erfolgreiche Verurteilung von Abdallah Abu Rahmah die Voraussetzung dafür schaffen, wie Israel in Zukunft die nächste Generation palästinensischer AktivistInnen zum Schweigen bringen wird?

Es scheint so, als ob die Anklage zuerst an dem weniger bekannten Adeeb "ausprobiert" wurde, der am 10. Juli 2009 verhaftet wurde. Aufgrund der erfolgreichen Verurteilung von Adeeb ging der Staatsapparat vermutlich davon aus, dass auch die Verurteilung des Popular Committee Koordinators Abdallah wegen "Anstiftung zur Gewalt" erfolgreich sein würde.


Der Anklagepunkt "Anstiftung zur Gewalt" ist derart dehnbar, dass er nur eine äußerst vage Beweislage erfordert, um ihn aufrechterhalten zu können.

Sollte sich dies einmal als eine Standard-Anklage gegen unliebsame AktivistInnen etablieren, so könnte sich dieser Anklagepunkt zu einem effektiven Instrument machen lassen, um den gewaltfreien Widerstand kriminalisieren zu können. Schon während der Ersten Intifada suchten die Kommandanten des Militärs - die unvorbereitet mit diesem neuen Basiswiderstand konfrontiert wurden - nach Wegen, wie man diese Taktiken des Widerstands kriminalisieren konnte, ohne dabei die eigene Praxis der gewalttätigen Aufrechterhaltung der Besatzung aufzugeben.

Das Aufkommen des neuen gemeinsamen Basiswiderstands von Gemeinden wie Bil'in, Ni'lin, Budrus und des Ostjerusalemer Viertels Sheikh Jarrah lässt die israelischen Kommandanten und Gesetzgeber heute erneut etwas ratlos zurück.

Nicht mit bewaffneten KämpferInnen, sondern mit gewaltfrei protestierenden AktivistInnen zu tun zu haben, die Anliegen Ausdruck verleihen, die weithin nachvollziehbar sind, ist eine immense Herausforderung für eine Armee, die von sich beansprucht, die "ethischste Armee der Welt" zu sein. Dass sich diese Armee trotzdem dazu entschließt, derartige Demonstrationen konsequent niederzuschießen, niederzuknüppeln und deren OrganisatorInnen unter recht zweifelhaften Umständen hinter Gitter zu bringen, kratzt nachhaltig am selbstauferlegten Image.


Umfangreiche Repression

Abdallah Abu Rahmah ist nicht der einzige palästinensische Aktivist, der in jüngster Zeit Ziel von Repressalien war. Der Leiter der Stop The Wall Kampagne, Jamal Juma, und der Jugendkoordinator aus Jayyous, Mohammad Othman, wurden im Januar 2010 bzw. Oktober 2009 verhaftet.

Othman wurde 75 Tage lang aufgrund seines Engagements in einer Kampagne verhört, die Demonstrationen in der Gemeinde Jayyous im Westjordanland organisierte. In den letzten Jahren kam es zu einer Vielzahl von weiteren Verhaftungen von Mitgliedern der Popular Committees der Gemeinden Ni'lin, Al-Ma'sara und Nablus. Den OrganisatorInnen der wöchentlichen Demonstrationen in Nabi Saleh wurden von der israelischen Armee Abrissbescheide für ihre Häuser zugestellt.


In den letzten zwei Jahren eskalierte die Repression gegen palästinensische AktivistInnen.

Es wurde auch versucht, an israelischen und internationalen AktivistInnen Exempel zu statuieren. In der ersten Hälfte des Jahres 2010 kam es zu zahlreichen illegalen nächtlichen Razzien der israelischen Armee in den Büroräumlichkeiten der Stop The Wall Kampagne im Westjordanland sowie des International Solidarity Movements. Bei diesen Aktionen wurden zahlreiche internationale AktivistInnen von der Armee verhaftet und es wurde im weiteren Verlauf versucht, sie abzuschieben. Neue Gesetze wurden verabschiedet, welche die Null-Toleranz-Linie des Staates unterstrichen und genau festlegten, was AusländerInnen in den von Israel kontrollierten Gebieten dürfen und was nicht.

Dies inkludierte die Überarbeitung der Regulationen für die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen für die ausländischen MitarbeiterInnen diverser NGOs sowie die berüchtigte Militäranordnung 1650, die es Israel erlaubt, "Eindringlinge" in die besetzten Gebiete (also jene, die sich dort aufhalten ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Armee-Kommandanten) abzuschieben. Die israelische Staatsanwaltschaft versuchte letztes Jahr, mehrere AktivistInnen des International Solidarity Movements unter Berufung auf frühere Versionen dieses unfassbaren Gesetzes abzuschieben.

Anarchists Against the Wall nach wie vor unter Beschuss

Auch israelische AktivistInnen, vor allem von der Gruppe Anarchists Against the Wall, sind nach wie vor von derartigen Repressalien betroffen. (4) Der israelische Anarchist Jonathan Pollak wurde am 27. Dezember 2010 zu drei Monaten Haft aufgrund seiner Teilnahme an einer im Januar 2008 stattgefundenen Critical Mass Fahrraddemo gegen die Belagerung des Gazastreifens verurteilt.

Von den rund 30 AktivistInnen, die an dieser Demo teilnahmen, wurde Pollak, als eines der bekanntesten Gesichter der israelischen AktivistInnenszene, von der Polizei gezielt herausgegriffen. Diese Verhaftung wiederum machte eine Bewährungsstrafe schlagend, zu der er nach Anti-Mauer-Protesten verurteilt wurde. (5)

Bei der Urteilsverkündung sagte Pollak: "Ich kann keine Reue empfinden [...]. Wenn Euer Ehren sich dazu entschließen sollte, meine Bewährungsstrafe schlagend werden zu lassen, dann werde ich mit erhobenem Haupt ins Gefängnis gehen. Ich denke, es ist das Justizsystem an sich, dass seinen Blick abwendet angesichts der Leiden, die es den Menschen im Gazastreifen zufügt, ebenso wie es seinen Blick tagtäglich abwendet, wenn es mit den Realitäten der Besatzung konfrontiert wird."


Übersetzung aus dem Englischen von Sebastian Kalicha



Anmerkungen:

(1) Siehe: Wolfram Beyer: AnarchistInnen aus Israel mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille geehrt", in: Graswurzelrevolution Nr. 335, Januar 2009

(2) Die Jugendlichen wurden über Tage hinweg verhört, geschlagen, eingeschüchtert und unter Druck gesetzt, bis sie letztendlich Aussagen tätigten, die gegen Rahmah verwendet werden konnten.

(3) Dies führte u.a. auch zu scharfen Reaktionen von einigen EU-DiplomatInnen, dem spanischen Parlament, dem Anti-Apartheid-Aktivisten Desmond Tutu und vielen anderen.

(4) AATW veröffentlichten kürzlich erneut einen eindringlichen Spendenaufruf, da ihre Schulden, resultierend aus den zahlreichen gegen AATW-AktivistInnen geführten Gerichtsverfahren, erneut besorgniserregend sind. Nähere Infos und Spendenmöglichkeiten finden sich auf
www.awalls.org

(5) Siehe: Sebastian Kalicha: "Es wird nicht meine letzte Verurteilung gewesen sein". Schuldsprüche gegen 11 israelische AnarchistInnen vor einem israelischen Gericht", in: Graswurzelrevolution Nr. 318, April 2007


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, 357, März 2011, S. 15
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
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Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2011