Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRASWURZELREVOLUTION/1198: Die israelischen "Indignados" zwischen den Fronten des Krieges


graswurzelrevolution 361, September 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

"Die Führer sind immer noch Hohlköpfe"

Die israelischen "Indignados" zwischen den Fronten des Krieges


Im Juli und August 2011 fanden in Israel Protestcamps und Massendemos gegen die Austeritätspolitik* der Regierung Netanjahu statt. Die Proteste hatten nach Meinungsumfragen die Zustimmung von rund 80 Prozent der Bevölkerung. Nun sieht sich diese Bewegung dem neu aufflammenden Krieg gegenüber.
(GWR-Red.)


Nach langer Zeit der Erstarrung definieren sich große Teile der israelischen Bevölkerung nicht mehr nur über den äußeren Feind - insofern ähneln die Proteste den arabischen Aufständen in den Nachbarländern im Nahen Osten. Nach den abwehrenden Regierungserklärungen Israels zu den arabischen Aufständen ist es diese Bewegung der Sozialproteste, die durch ihre eigene Praxis eine Art Solidarität bekundet und die eine Kritik an der eigenen, nationalen Regierung zum Ausdruck bringt. Schätzungsweise ein Siebtel der Bevölkerung, gleich welcher Partei, geht auf die Straße, campiert wie in Madrid oder Kairo in der Innenstadt, und ist es leid, nicht mal eine Wohnung oder einen Kindergartenplatz bezahlen zu können. Der Mittelstand ist kriegsmüde geworden. Ähnlich wie in Spanien oder Griechenland, ist er in seiner materiellen Existenz bedroht.

Das ehemals "sozialistische" Land (Augustin Souchy) wurde durch den riesigen Militärapparat über Jahrzehnte hinweg zunehmend in soziale Bedrängnis gebracht. Die Proteste des israelischen Mittelstandes könnten nun die Perspektive eröffnen, Israel in eine zivilere Gesellschaft zu tragen, was der gesamten Region zu gute käme. Wenn ein Teil der Protestierenden dabei, wie auch bei den arabischen Aufständen, anfangs noch Europa als Vorbild im Auge gehabt hatte, so dürfte dieses Vorbild angesichts des aktuell krisengeschüttelten Europa schnell verblassen, wodurch Nordafrika, die arabischen Staaten und Israel auf sich selbst zurückgeworfen wären und einen neuen, eigenen Weg zur Unabhängigkeit finden müssten.


David Grossman: Eine Innenansicht der Bewegung

Der weltweit bekannte israelische Schriftsteller David Grossman, letztjähriger Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, gab am 5. August, dem Vorabend einer weiteren Massendemonstration, in einem Artikel in der Tageszeitung "Yediot Aharonot" der Stimmung unter den Protestierenden Ausdruck und sprach von "Tausenden von Menschen, die ihre Stimmen seit Jahren nicht mehr erhoben haben, die jede Hoffnung auf Veränderung aufgegeben hatten, die sich in ihren Problemen und ihrer Verzweiflung eingeschlossen hatten". (1)

David Grossman ist schon lange in der israelischen Friedensbewegung aktiv und protestierte gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete nach 1967 - aber er zählt keineswegs zu deren radikalen Mitgliedern, fühlt sich real durch palästinensische Attentäter bedroht, rechtfertigt die Existenz der israelischen Armee, die jedoch seiner Ansicht nach von einem Mittel der Verteidigung zu einem gesellschaftlichen Ziel an sich geworden sei.

Die von ihm empfundene Bedrohung durch palästinensische Gewalt hat er literarisch und in Interviews plastisch dargestellt, dabei aber auch immer beschrieben, wie sich der permanente Kriegszustand negativ auf das eigene Bewusstsein auswirkt: "Ich erinnere mich daran, wie wir uns verhalten haben in der Zeit, als die Selbstmordattentate in den Straßen und den Bussen waren. Wenn man einen Bus bestieg, sagte man sich: der da ist mit uns, und der da gegen uns. Wir betrachteten besonders die Hände der Menschen, und ihre Hemden, um zu sehen, ob sie irgendwas drunter trugen... Diese Zeit war extrem, aber wir leben so im Prinzip die ganze Zeit, das ist schrecklich, diese Situation entmenschlicht uns." (2)

Grossman hat im Libanonkrieg 2006 seinen Sohn Uri verloren, eine Rakete traf den Panzer, in dem er fuhr, und tötete alle vier Insassen. Gleichzeitig hat er zusammen mit anderen Schriftstellern einen öffentlichen Appell an die Regierung für einen Waffenstillstand im Libanonkrieg lanciert. Grossmans 2011 in Israel erschienener Roman "Falling out of Time" - der wohl bald ins Deutsche übersetzt werden wird - beschreibt detailliert die "unerbittliche Gravitationskraft", die einen Vater nach dem Verlust seines Sohnes gefangen nimmt. Trotzdem - oder gerade deshalb - hat sich Grossman bereits vor den Protesten im Juli jeden Freitag wöchentlich bei einer Mahnwache an die Seite jüdischer und arabischer BürgerInnen gestellt, die gegen die israelische Besetzung von Sheikh Jarrah, eines Jerusalemer Stadtviertels, protestieren.

Zur neuen Sozialbewegung seit Juli meint Grossman nun, dass hier viele BürgerInnen, die zum ersten Mal überhaupt demonstrierten, mit jugendlichen AktivistInnen zusammen agieren würden. Er fragt sich selbstkritisch: "Diese Menschenmenge, ähnelt sie wirklich derjenigen, die wir in Tunesien, in Ägypten, in Syrien oder in Griechenland gesehen haben? Wo sind wir dann bis jetzt gewesen? Wie konnten wir zulassen, dass all das geschieht? Wie haben wir nur in Ruhe leben können mit einer Regierung, die wir gewählt haben und die unser Gesundheits- und unser Bildungssystem in einen Luxus-Service verwandelt hat? Warum haben wir nicht schon protestiert, als das Finanzministerium die streikenden SozialarbeiterInnen entlassen hat und - bereits davor - die Zuwendungen für Behinderte, die Überlebenden des Holocaust, die Alten und die Rentner gekürzt hat? Wie konnte es dazu kommen, dass wir die ganzen Jahre über die Armen in ein Leben der Entwürdigung gedrängt haben, die sich mit Hilfe von Suppenküchen und humanitären Organisationen durchschlagen mussten? Wie haben wir es zulassen können, dass ausländische ArbeiterInnen von denen ausgebeutet werden, die sie zu SklavInnen reduzieren, die sexuelle Sklaverei mit inbegriffen?"

Grossman sieht nun in den Sozialprotesten eine Chance, "eine Möglichkeit der Annäherung zwischen verschiedenen Segmenten der israelischen Gesellschaft zu schaffen, die seit Generationen nicht mehr miteinander ins Gespräch gekommen sind: Religiöse und Säkulare, AraberInnen und Juden/Jüdinnen, Angehörige verschiedener und getrennter sozialer Klassen".

Es sei natürlich einfach, diese Bewegung zu kritisieren, Grossman meint aber, "dass derjenige, der die Herzen der Demonstrierenden schlagen hört - nicht nur auf dem Boulevard Rothschild in Tel-Aviv, sondern auch diejenigen der Armenviertel im Süden der Stadt und die in Jerusalem, Ashdod, Haifa und Beit Shean - verstehen wird, warum sich ein Fenster zu einer anderen Zukunft geöffnet hat. Die Zeit für ein solches Ereignis ist gekommen - und zur allgemeinen Überraschung steht ein wirkliches Engagement für die Sache dahinter. Vielleicht war es das, was eine junge Frau meinte, die sich mir während der Demo in Jerusalem näherte und zu mir sagte: 'Sehen Sie nur: Die Führer sind immer noch Hohlköpfe, aber die Bevölkerung nicht mehr!" (3)


Der Krieg als Retter der Regierung

Wie ein Geschenk aus heiterem Himmel muss es die solcherart innenpolitisch entlegitimierte israelische Regierung empfunden haben, dass auf dem Höhepunkt der Sozialproteste im eigenen Land der Terroranschlag von rund 20 palästinensischen bewaffneten Kämpfern am 18.8.2011 sieben Israelis auf der Straße Nr. 12 bei Eilat in der Nähe der ägyptischen Grenze tötete - und dadurch die jahrzehntelang erprobten und bewährten Mechanismen des Krieges, die immer auch eine innenpolitisch herrschaftsstabilisierende Funktion haben, wieder einschnappen konnten. Es kam nicht nur zu Gefechten zwischen den palästinensischen Kämpfern und der israelischen Armee, sondern auch zur Verfolgungsjagd an der Grenze, wodurch fünf ägyptische Grenzbeamte durch die israelische Armee getötet wurden. Das nützte auch dem ägyptischen Militärrat, der schnell das sich bietende Angebot annahm, durch das Schüren neuer Spannungen mit Israel von der innenpolitischen Repression gegen neuerliche Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo wegen des zu langsam vorankommenden Demokratisierungsprozesses abzulenken.

Israels Verteidigungsminister Ehud Barak, der militärische Nachrichtendienst (Aman) sowie die "Allgemeine Sicherheit" (Shabak) zielten sofort auf die Herkunft der Täter aus Gaza und entfachen Luftbombardements auf das Gebiet Gazas, bei denen nach Nachrichtenmeldungen sowohl das Flüchtlingscamp Al-Nusseirat als auch eines der bevölkerungsreichsten Stadtviertel Gazas, Zeitoun, getroffen wurden. Aus Gaza wurden wiederum Raketen auf israelisches Territorium abgefeuert und haben ebenfalls Menschen getötet und verletzt. (4)

Israel gibt drei Organisationen aus Gaza die Schuld an den Attentaten: der Hamas, die sich bereits distanziert hatte; den "Komitees des Volkswiderstands", deren sechs wichtigste Führer nach israelischen Angaben sofort nach dem Attentat "liquidiert" worden seien; und der "Islamischen Armee" von Mountaz Darmoush, einer mehrere Tausend Mann zählenden Miliz aus Gaza.

Dass die Attentate vielleicht tatsächlich von Gaza ausgegangen sind, dafür gibt es einen realen Hinweis: Ein Aktivist der Islamischen Armee "wurde von ägyptischen Soldaten am Rand der israelischen Grenze überrascht. Der Kamikaze, der zweifellos dem Kommando angehörte, das am Donnerstag innerhalb des hebräischen Staates operierte, hat daraufhin seinen Sprenggürtel gezündet und drei Ägypter mit in den Tod gerissen." Kein Grund jedoch - aus emanzipatorischer Sicht -, dafür ganz Gaza in Sippenhaft zu nehmen und kollektiv zu bestrafen. (5)

Und so fährt der Krieg mit seiner absurden Kettenreaktion von Angriff und Gegenangriff fort - und will dabei vor allem die innenpolitischen Aufstände und Sozialbewegungen gegen die jeweils eigenen Regierungen unterdrücken. Gerade auch die palästinensischen bewaffneten Kämpfer zeigten hierbei nicht die geringste Sensibilität und Solidarität mit den Sozialprotesten in Israel, die sie ja als zumindest potentiell gleichgerichtete Bewegung analog der arabischen Aufstände wahrnehmen könnten, sondern sie tragen mit ihren Attentaten blind dazu bei, dass diese gerade entstandene Flamme der Sozialbewegung durch den Druck des Krieges wieder ausgeblasen werden könnte. Gerade im Zeitpunkt dieses Attentats zeigt sich die Abkoppelung des bewaffneten palästinensischen Kampfes von jeder emanzipatorischen Perspektive und seines Verfangenseins in autoritärem Denken. Er ist nichts anderes mehr als die fünfte Kolonne des Status Quo.

Vorläufig hat sich die israelische Sozialbewegung dem Druck der Kriegsmechanismen noch nicht gebeugt. Nachdem die große Demonstration am 20. August 2011 in Tel Aviv erst abgesagt werden sollte, fand sie dann als Schweigemarsch mit tausendfacher Beteiligung trotzdem statt. Es wird die Stärke und wirkliche Grundierung der sozialen Bewegung auf den Prüfstand stellen, inwiefern sie die aktuelle Bedrohung durch den Krieg überlebt und ob sie mit demselben Elan daraus hervorgehen kann.

Slipperman

(Ein Dank an Jochen Knoblauch für die Anregung zu diesem Artikel und einige seiner Ideen, die in die Einleitung des Texts übernommen wurden)


Anmerkungen:

* "Austerität (engl. austerity, von lat. austeritas "Enthaltsamkeit", "strenge Einfachheit" ist ein Fremdwort für "Strenge" oder "Sparsamkeit", das heute vor allem in ökonomischen Zusammenhängen gebraucht wird und dann eine staatliche Sparpolitik bezeichnet, die durch Drosselung laufender Ausgaben im öffentlichen und privaten Bereich, sprich durch strenge Führung des öffentlichen Haushaltes bei gleichzeitiger Politik der Einschränkung des Massenkonsums, in Zeiten ökonomischer Krisen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation herbeiführen soll."
(Wikipedia)

(1): David Grossman, zit. nach Libération, 20.8., S. 5.

(2): zit. nach Libération, ebenda, S. 4.

(3): Alle vorausgehenden Zitate Grossmans nach Libération, ebenda, S. 5.

(4): Serge Dumont: La riposte éclair d'Israël contre Gaza, in: Libération, 20.8., S. 2f.

(5): Ebenda, S. 3.


*


Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 361, September 2011, S. 12
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2011