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GRASWURZELREVOLUTION/1307: Anarchie heute


graswurzelrevolution 375, Januar 2013
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Anarchie heute
Aus gegebenen Anlass der vierzigjährigen Existenz der Zeitschrift "graswurzelrevolution"

Von Wolf-Dieter Narr



"Anarchie ist machbar, Frau Nachbar!" lautete die humorige Devise der 'Instandbesetzerbewegung' in West-Berlin 1979/1980. Sie wurde 1981 vom Senat der "freien" Stadt, geführt vom regierenden bürgermeisterlichen Tandem Richard von Weizsäcker und Innensenator Heinrich Lummer in repressiver Toleranz zerschlagen und kooptiert in einem.


Seitdem gibt es in Berlin und anderwärts immer erneute Versuche von Gruppen auf der Suche nach Kritik herrschender Verhältnisse auf Landinseln der Selbstbestimmung in bürokratie- und polizeifreien Umhausungen. Diese Beunruhigung herrschender Versessenheit reicht bis zur gegenwärtigen Bewegung von unten mit dem Namen "Occupy".

Sie wird sich nie lokal, staatsregional und überstaatlich global kirre und irre machen lassen. Sie wird im Sinne von Selbst- und kollektiver Mitbestimmung, verbunden mit Formen gegenseitiger Hilfe, wellenförmig allmendehaftes Land gewinnen. Und sie wird gegen sicherheitsgewaltiges Eigentum verlieren.

Sie dürfte jedoch an den zerfressenen Ufern ozeanisch kapitalistischer polizeimilitärundrechtgewaltkräftig unterschiedlicher und doch im Kern einheitlicher Herrschaftsformen anhaltend vegetieren. Und so wichtig die menschenrechtsradikalen Occupymeuten als die Spurenelemente menschenmöglicher Gesellung in Freiheit und Gleichheit für einzelne Personen, für weltweit verstreute Gruppen, ja die realer Utopie bedürftigen Menschen insgesamt sind, werden sie immer erneut entstehen. Sie werden vorübergehen und wieder werden! Jedoch lässt sich ebenso wenig in allemal tödlich verführerischer Geschichtsphilosophie als messianischem Ersatzglauben annehmen, der herrschaftsfreie Tag werde kommen. Er rechtfertige dann alle Opfer.

Um mit dem überaus geliebten, oft besuchten Ernst Bloch zu reden, die Zeit wird ausbleiben, da es auf Erden geben wird, was es noch niemals gab: Heimat. Scheitern und Tod wesen immer. Mit Bloch abwandelnd zu reden: das Prinzip Hoffnung ereignet sich als docta - gelernt gelehrte und indocta, als stultus spes. Also als törichte Erwartung.


Warum aber verhält es sich so?

Warum lohnt es sich gerade deswegen, unablässig für eine "moral economy" (vgl. E.P. Thompson und viele andere bis zur Wiederbelebung des Allmende-Gedankens und zerstreuter Wirklichkeit heute) einzutreten? Und damit verbunden, eine "moral polities", also mit Christian Sigrist u. a. gesprochen, eine regulierte Anarchie, materiell begründet.


Warum lohnt es, den anarchischen Grundton zu summen und der anarchischen Grundform, das sperrige, das oppositionelle, das Gutes schaffende und saltolustige Leben zu widmen?

Was bringt es, Bilder mengend, sich von dieser musikalisch organisatorischen Hefe mit immer neuen Backwerken durchdringen zu lassen?

(Wenn es mir als altem Reptil gelingt, die Konturen gegenwärtiger, überschaubar zukünftiger anarchischer Notwendigkeiten und Chancen holzchnittähnlich zu schraffieren, dann soll dies übers Jahr, zusammen mit Freundinnen und Freunden geschehen. Das ist ein Versprechen. Es mag nicht nur an meiner Senilität scheitern.)

Hier und heute will ich nur mir einigen thesenförmig verdichteten, in ihren Voraussetzungen und Folgen noch nicht ausgeführten Behauptungen und Richtungsweisern, einige Eck- und Zielpunkte eines nötigen Versuchs nennen. Alle, die kritisch lesen, möchte ich heute schon auffordern, so die Lust in ihnen aufsteigt, die immer Einfälle gebiert, sich am Vorstellungs- oder Phantasieunternehmen, Anarchie 2012 ff., mit Anregungen, Hinweisen, Teilausarbeitungen zu beteiligen. FreundInnen wie Simone Weil und ich werden versuchen nichts, mit kritischen Augen, als Lumpensammler, wenn die Lumpen Wärme hergeben und nicht herrschaftsmuffeln, nichts anarchisch Goldkörniges zu übersehen.

Anarchistinnen und Anarchisten sollten der Gefahr, sich selbst überschätzender Arroganz gewärtig sein. Gerade weil sie die verbreitete blutige Arroganz der Macht scheuen, der etablierten Herrschaften über alles mit ihren human abgründigen Folgen. Opfer fallen und fielen hier, vor andrem Menschenopfer unerhört. (Damit sich auch Goethes "Braut von Korinth" anarchisch wende).


I.

Gedankenfreiheit, Freiheit der anders Denkenden, E-Manzipation, sich aus den erniedrigenden und fesselnden Händen aller Herrschenden und Herrschaften zu wenden, das ist die Devise. Vom tyrannisch herrschenden pater familias angefangen bis zu den Imperatoren und Imperien der Moderne, die herrschaftstüchtig, neuerdings virtuell in alle Seelenstübchen reichen. Von den ersten Menschen, von denen wir wissen, hallt sie. Staatsfeinde, richtiger Herrschaftsfeinde hat Pierre Clastre die Hirten- und Jägergesellschaften genannt.

In Subversive Art bestand, meinem vor über zwanzig Jahren verstorbenen engen Freund, Stanley Diamond, gesprochen, ereignete sich ein Gutteil ihres gewohnheitsgeleiteten, nicht staatlichen Gesetzen qua Gewaltmonopol gehorchenden Tuns. Der Trickster, das Verständnis der Ambivalenz allen menschlichen Seins wie die nomoi agraphoi, die ungeschriebenen Gesetze Antigones, fungierten als Leitfiguren, Leitmuster. Und sei es tragisch angeeignet. Primitive Gesellschaften sind nicht rückwärtsromantisch in gänzlich anderer, durch Riesenabstracta beherrschten Zeit, konfliktfrei und gleichsam fehlerlos vorzustellen. Als malte Gaugin. Bedeutsam in search of the primitive (St. Diamond) und in search of modernity mit einem menschlichen Antlitz ist es vielmehr, dass das Humanum aller Zeiten und Orte sich in einem trächtigen Wort zusammenfassen lässt: Herrschaftsfreiheit.


II.

Der negativ dialektische Vorwurf unserer Zeit besteht in der vielfältigen Durchherrschaftlichung des von Menschen bewohnten Globus und soweit raumgriffig ihre herrschaftliche Reichweite hinlangt.

Die Art dieser Verherrschaftlichung, ihre kapitalistisch technologischen Instrumente, sind in ihrer Konstitution, ihrer Wirksamkeit und ihren humanen Nutzen wie Kosten, und sei es nur grob und exemplarisch, auf den seinerseits nicht kognitiv herrschaftlichen, sondern dialektischen Begriff zu bringen. Lehrer der Lehrer: Theodor W. Adorno: Eines der hauptsächlichen Probleme, mit der kapitalistischen Vergesellschaftungsform in all ihre verschiedenen Ländern und Riten in ansteigender Dauer konfrontiert ist, dass der global kapitalistisch, hilfsscherifsweise etatistisch besetzte Raum, dass die human bewohnbare Erde mit ihren nötigen Konsumenten, dass die neuen Anlageräume auszugehen drohen.

Damit drohen Grenzen des systemisch nicht sättigbaren Hungers nach Mehrwert, vereinfacht gesprochen des Profit.

Nicht zufällig lautet Innovation das Zauberwort. Es kapitalverhext alle gesellschaftlichen Bereiche und Tätigkeiten, die wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen an erster Stelle. Nicht grundlos hat man deswegen von einem 'introvertierten Imperialismus' gesprochen. Ihm korrespondiert der von Sheldon Wolin hinsichtlich der USA Bushs und seiner Nachfolger genannte "inverted totalitarianism".

Zugleich besteht das kapitalistische Dilemma, das von Elmar Altvater und anderen seit längerem thematisiert wird. Es besteht in den "Grenzen des Wachstums". Wenn nicht heute, so scheinen solche bald morgen erreicht zu sein: in der komplexen Umwelt des Menschen.

Sie ist immer zugleich wie "die Natur" seine "In-Welt"; im Energiehaushalt; in Sachen Wasser, Boden, damit der Ernährung und anderen sog. Rohstoffen; und nicht zuletzt in der Masse Mensch. Sie zählt nun über 7 Milliarden. Sie wird hochkapitalistisch technologisch zugleich von einer Welt von Slums großrandig durchzogen (vgl. Mike Davis; siehe auch zu Problemen des "Menschenmülls", ein Begriff aus dem neuen Wörterbuch des Unmenschen, Zygmunt Baumans "Verworfenes Leben").

Diese Phänomene und Aspekte weisen auf eine der zentralen Aufgaben, m. E. die zentrale Aufgabe der Gegenwart und erkenntlichen Zukunft: auf die im Rahmen des globalen Kapitalismus/Etatismus gestellte - indes für andere, gar herrschaftsarme oder realutopisch herrschaftsfreie gesellschaftliche Möglichkeiten ungleich mehr gegebene zentrale Problem: wie sollte, könnte, müsste der menschengemachte und Menschen machende Globus politisch, ökonomisch und kulturell organisiert werden?

Wie sind Gesellschaften und ihre Politik im Zusammenhang der zerklüftet ungleichen Globalisierung und ihres erreichten Stands, der Globalität möglich?


III.

Anarchische Aussagen und Handlungen dieser Qualität gibt das Wort aus dem Griechischen: anarchisch und Anarchie, sprachlich gekennzeichnet durch das Alpha privativum der Vorsilbe. Die, das a (alpha) vorweg besagt die Abwesenheit des mit dem Wortstamm Gemeinten (in nicht indogermanischen Sprachgruppen dürften analoge Wortverhalte angenommen werden. Ich habe es nicht untersucht. Es lohnte wohl!).

Also: nicht herrschend/herrschaftslos, Nicht-Herrschaft/Herrschaftsfreiheit. Wie das positive Andere statt herrschaftlich aussähe und zu benennen wäre, bleibt offen. Seit dem Voranfang der Menschenrechte hallt der Ruf nach Freiheit und ihm zugeordneten sozialen, nicht knechtisch/mägdlich arbeitsteilig unterdrückenden Gegebenheiten. An erster Stelle Gleichheit ist zu benennen. Man kann beobachten, dass historisch früh, von allemal herrschaftsdienlichen "Intellektuellen" zumal, Zustände des weitgehend starren "Oben" und "Unten" wie selbstverständlich, wie (quasi-)natürlich ausgegeben worden sind. Gegen anarchische Vorkommnisse, Proteste, Versuche wurde darum wie gegen eine allgemeine Gefahr an sich argumentiert und Herrschaft rationalisiert.

In durchherrschten Zeiten der sogenannt zivilisatorischen Moderne versteht es sich wie von selbst - bis zum gerade korruptiös gedüngten "Verfassungsschutz", den staatsherrschaftsdienlichen Militär-, Polizei- und Geheimdiensten samt ihrem Fundament und Schutzgegenstand, dem sogenannten Rechts- (und Verfassungs)Staat -, alles Anarchische potentiell mit Chaotischem, dies wiederum potentiell mit Kriminellem und schlussendlich mit Terroristischem, auf Revolte und Revolution gewaltig Erpichten zu identifizieren. Seit der europäisch angelsächsischen Frühmoderne wird darum das legitimatorische Banner der Staaten entrollt; Und flattert in Fahnen. Es klirrt im täglich ver- und durch staateten Wind.

Staatliche Gewalt, deren "Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" (Weber), sei institutionell und aktuell notwendig. Anders sei eine intern friedliche Gesellschaft nicht zu exerzieren. Anders chaotisiere 'der Mob'. Das nicht zu bändigende Menschentier von unten zeige aufmüpfig und unberechenbar seine Krallen. Seine Wut und seine Begierden zum Haben schlügen nicht kontrollierbar zu.


IV.

Sei's im Moment, wie ihm wolle. Anarchie, der doch wie die Kinder alle Menschen mit potentiell aufrechtem Gang in Körper und Geist zugetan sein müssten, hat quer über den unterschiedstiefen Globus, insbesondere im zivilisatorischen Abendland und seinem Westen, weder eine gute "Presse", sprich einen ihm zugetanen öffentlichen Raum, noch Chancen, sich über versteckte, polizeibeäugte Nischen hinaus selbst zu organisieren.

Damit Herrschaftsfreiheit erprobt werde. Anarchie ist machbar Herr angstbesetzter Nachbar. Oder fürchten sie die anderen nur wie sich selbst? Anarchie war, ist und bleibt, so gesehen, utopisch. Also raumlos. Der Raum wird ihr nachdrücklich verweigert, frische Luft zu genießen, um vielleicht zu zeigen, was in ihr in Sachen friedlicher Organisation gegenseitiger Hilfe steckt, der allgemeinen Beziehung zu anderen Menschen und ihren Gaben.

Oder, im negativen Fall, dass sie zum Scheitern aus angebbaren Gründen verdammt sei. (Ich lasse im Moment den sog. individualistischen, den mit Max Stirner verbundenen Anarchismus außer acht. Widersprüchlich, wie er gesellschaftsorganisatorisch ist, sind doch Stirnersche Argumente wichtig zu beachten. Vor allem gegen alle Kollektivduselei.). Die allemal in herrschenden Mauern stattfindende Existenz von Anarchisten und ihren Äußerungen, ihr verfolgungenreiches Ausgesetztsein erklärt jedenfalls zu einem erheblichen Teil, warum eine anarchische Archäologie fündig wie sie wäre, stimulierend, bedrückend, voll der Übungen in der "Gymnastik der Einbildungskraft" (Simone Weil), in Sachen des Hauptthemas, das ich heutigen Nöten gemäß aufgetischt habe, wenig einbrächte. Sie erklärt auch, warum es zu einer Tradition von Anarchismen nur rar, wie im Schweizer Jura oder in katalanischen Gefilden gekommen ist.

Vor allem wird einsichtig, wie und warum das Thema "Anarchie und Gewalt" eine solche zeit- und ortweise Bedeutung gewonnen hat. Der glühend siedende Herrschaftskessel konnte nur gewaltförmig platzen.

So wenig kollektive Gewalt progressiv als Befreiungsinstrument, historisch erfahren und infolge des Habitus der Menschen gerechtfertigt werden kann, hier irrte der nach wie vor faszinierende Frantz Fanon in seinem Le Damme de Terre, so sehr belegt sie die Zwangs- und Gewaltfolgen herrschaftlicher Unterdrückung und Demütigung.


V.

Dennoch wäre die Ernte an Anregungen und organisatorisch einfallsreichen Versatzstücken nicht gering, hielte man sich genügend lange und eindringlich in der anarchischen Schatzkammer auf.

Beatmete sie mit heißem Atem der Gegenwart, eröffnete sie sich dem überaus bedürftigen Gegenwartsleben voll vergangener, unterdrückter und ermordeter Traditionsstücke und ihrer Personen. Der Reichtum wüchse im wahren Sinne bergehoch und menschenvoll, nähme man aus anarchischer Perspektive - von schlimmen vergangenen Versäumnissen, Missverständnissen und tödlichen Kämpfen beeindruckt, ohne die verstaubten Verengungen fortzusetzen - die Fülle der Einsichten wahr, baute sie ein, baute sie um, die aus den Tiefen und Weiten sozialistischer und kommunistischer Tradition zu gewinnen sind.

So abgebrochen, stumpf, sozialistisch kommunistisch mitverantwortet massenmörderisch, sie erst wieder mit Hilfe einer anderen, nicht vergesslichen Emanzipation gegenwärtig rück zu gewinnen wäre. Ohne den Brüder- und Schwesternkampf zwischen AnarchistInnen, SozialistInnen und KommunistInnen durchdringend aufzuheben, sprich zu negieren und aufzubewahren in einem, wäre keine anarchische Konzeption heute tragsam zu gewinnen und keine Position anders als attitüdenhaft zu beziehen, anarchisch mitten in herrschaftsvoller Gesellschaft zu leben. Wie sollte die ohnehin nur vorläufig und experimentell beantwortbare "organisatorische Frage" anders ein vernünftiges, radikal herrschaftskritisches Echo erhalten können?


Wie sind Gesellschaft, Ökonomie, Kultur und Politik heute anders als im Furor kapitalistischer Durchherrschung des Globus zu gewinnen?

Nötig ist es, dazu alle Kraft an Vorstellungen zusammenzunehmen, die Menschen auf der herrschaftsfeindlichen Spur geäußert haben, so viel wenigstens, wie überhaupt von einer kleinen Gruppe von Menschen aufgenommen und verarbeitet werden kann. Eine anarchische Erkenntnis und eine damit verbundene Praxis bleiben. Sie sind nicht zu übersteigen.

Dass Ziele und Mittel, je und je durcheinander pervertierbar, immer und immer strikt herrschaftskritisch durchleuchtet, ausgelüftet und offenäugig gebracht werden müssen Kein Charme eines Ziels, kein Enthusiasmus einer Aktion, kein Fest einer Revolte, dürfen momentan, und sei's im schönsten Rausch, irgendwelche Kollateralschäden an Menschen, auch meist an Meschen prägenden Dingen in Kauf nehmen lassen. Kein Nutzen kann so groß sein, dass er kollektive, beispielsweise staatliche Gewaltmittel, auch nur vorübergehend zu gebrauchen, legitimieren könnte. In diesem Sinne ist Gewaltfreiheit mitten in herrschaftsverrückter Gesellschaft ebenso unabdingbar wie schwierig.


VI.

Die Organisationsfrage ist vor allem hinsichtlich von drei Grundproblemen zusammenhängend zu beantworten. Konventionell ausgedrückt: der Ökonomie, der Politik und dem Mittel der Gewalt, das nicht selten in Zielen ersatzreich enthalten ist. Unerhört erschwert haben sich alle organisatorischen Probleme durch die Phänomene dynamisch sich fortsetzender Globalisierung und schon erreichter Globalität.

Damit hängt eng das vielfach übersehene oder technologisch als lösbar angesehene Problem der enormen Größenordnungen zusammen. Nicht nur sind diese selbst über frühere bürokratische Monstra hinaus zu Riesenquanten und ihre Gleichzeitigkeit aufgeblähten Größen von Menschen besetzten Einrichtungen nicht mehr zu begreifen, geschweige denn zu steuern oder gar zu verantworten.

Der Weltgeldmarkt und seine abstrakt konkrete Wirkung bis hinunter zu den zur Minispekulation verführt genötigten wachsenden Armen bietet ein treffliches Exempel einer Sequenz von Geldspinnweben neben- und übereinander.

Sie bestimmen schon deswegen unser Verhalten, weil auch die angeblich zuständigen Instanzen von den säkularen Geldtheologen, den Ökonomen, zu schweigen, nur so tun, als verstünden sie ihr Stange-im-Nebel-legitimatorisch-schwingendes Geschäft. Weltweite Zusammenhänge und Verkehrwege gibt es schon lange. Mutmaßlich seit Menschengedenken. So berührten Bewegungen von menschlichen Kollektiven schon früh alle Erdteile und verbanden sie auch in ihrer Separation.

Seit Beginn weltweiter Expansion kapitalistischer Vergesellschaftung und der mit ihr verbundenen Verstaatung der Welt mit ihren ungeheuren Kosten und negativen Effekten, seit der economics and politics of scale und ihrem letzten Wachstumsring und der letzten Durchdringungsintensität seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, bedeuten fast alle unübersehbaren, durch die gewachsenen Geschwindigkeiten vermehrten Quantitäten Menschen und Gesellschaften verändernde qualitative Sprünge. Darüber ist nicht zu lamentieren oder kulturkritisch depressiv zu stapeln. Wohl aber kommt es darauf an - oder vorsichtiger im von mir geliebten verlangenden, allemal prekären Konjunktiv -, wohl aber käme es darauf, das grundhumane anarchische Motiv, mit all den Kenntnissen und Phantasien zu verbinden, die rund um es und gegen es er- und gefunden worden sind, die zentralen Fragen der organisatorischen Sphinx mit ihrer existentiellen Bedeutung Stück um Stück, experimentell, von unten nach verändert oben zu beantworten. Und sei es nur, der Anfang allen Anfangs im eigenen Bewusstsein und Habitus.


VII.

"Meine Definition von Politik: die Erfüllung der ungesteigerten Menschenhaftigkeit" formulierte Walter Benjamin in seiner Schrift "Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz".

Dass ihn das nazistisch gewordene Deutschland in Portbou, an der französisch-spanischen Grenze, überm Berg schon in Spanien, aber noch nicht "Transit"-sicher in Lissabon 1940 in den Tod getrieben haben, ist zur Interpretation des trefflichen Satzes nicht erforderlich.

Es sollte indes, anarchisch besonders jeder Person und ihres Schicksals, so möglich, kümmervoll bewusst, nicht vergessen werden. Doch welche Bestimmung des politischen Ziels. Die Menschen sollen durch ihre politisch (ökonomisch und kulturell) gewählt gebauten Organisationsformen die Chance erhalten, ihre Möglichkeiten zu entwickeln: ihre Menschhaftigkeit. Sie sollen aber nicht durch Leistungsmittel, Konkurrenzanreize, Ausbeutungsmittel oder alle Formen von Doping "gesteigert" werden. Das ist ein ebenso radikales wie im besten Sinne konservatives Ziel.

Um die in Menschen steckenden Möglichkeiten, wenn es gesellschaftlich gut steht, im Leben auszuwickeln - das ist die Aufgabe, nicht eine formierende, Selbstständigkeit aufhebende Leistungsversportlichung oder - umgekehrt - eine Marginalisierung im Fadenkreuz nicht selbst- und mitbestimmter Abhängigkeiten.

Mit dieser Benjaminschen Politikbestimmung im anarchischen Kopf, in Herz und Verhalten ist an das heranzugehen, was nun mehrfach hölzern und einem sozialwissenschaftlichen Jargonausdruck verwandt, Organisationsfrage genannt worden ist. Menschen sind gesellige Wesen, auch wenn sie sich von aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhängen distanzieren oder sie primär beengend und repressiv erfahren.

Nur wenn es ihnen gelingt als in diesem Sinne politische Wesen, sich mit anderen so zusammenzutun, dass sie wechselseitig, in nicht karriereförmig abgekapselter Arbeitsteilung ihre gemeinsamen Probleme angehen, werden von klein und kommunal unten auch Anstrengungen möglich, die mehr Menschen vermittelt aufeinander bezogen erfordern.

Und sofort entsteht abgeschottete, hierarchisch geordnete Arbeits- und Funktionsteilung mit entsprechenden Folgen in ungleichen Rangordnungen.

Platon hat Anfang des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung mit gutem Grund Herrschaft mit der Arbeitsteilung zusammen gesehen. Wenn man weiterdenkt und heutige Gigantomanien bedenkt, wird einsichtig, welche schier unübersteigbaren Hindernisse aufgetürmt sind. Dabei habe ich noch gar nicht die heute vielfach geltenden, die sog. repräsentative Demokratie betreffende, verbreitete Ohnmacht der überall etablierten Herrschaft(en) behandelt, die darum umso sicherheitserpichter und sicherheitsängstlicher pseudohandeln. Das alles jedoch macht anarchisches Denken und in den weichhart gegebenen Grenzen nicht unnötiger als zuvor.

Im Gegenteil. Nur selbst - und situationsbewusste Sisyphoi haben indes eine Chance. Der Anderen wegen wird jede Anstrengung umso wichtiger, damit sie wenigstens diese Chance ergreifen können.


Zum Autor:
Wolf-Dieter Narr (* 13.03.1937) lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin. Er ist Mitgründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Siehe Interview in GWR 371, GWR 372, GWR 373.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 41. Jahrgang, Nr. 375, Januar 2013, S. 16-17
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2013