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GRASWURZELREVOLUTION/1310: Das scheinbar unlösbare Krisen-Rätsel


graswurzelrevolution 376, Februar 2013
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Anti-Kapitalismus
Das scheinbar unlösbare Krisen-Rätsel
Von den Grenzen der spätkapitalistischen Natur

Von Nicolai Hagedorn (Blockupy Kassel)



Die weltweite so genannte Verschuldungskrise ist nicht zu stoppen. Trotz aller Anstrengungen der bürgerlichen Eliten im Verein mit den politisch Handelnden, aus den Krisenverläufen schlau zu werden und den Niedergang durch Sparprogramme und Niedrigzinsen aufzuhalten, wachsen die Schuldenberge weiter. Nur der gewünschte realwirtschaftliche Effekt will sich nicht einstellen. Das ist bei näherer Betrachtung kein Wunder.


Ohne sich jemals als Kandidat einer Volksabstimmung gestellt zu haben, wurde Mario Monti im Dezember 2011, gefördert von Staatspräsident Napolitano und Vorgänger Berlusconi, von einer Parlamentsmehrheit zum italienischen Ministerpräsident gewählt und übernahm dazu noch das Wirtschaftsministerium.

Die Technokraten-Regierung um Ex-Goldman Sachs-Banker Monti organisierte seitdem als Antwort auf die so genannte Staatsschuldenkrise einen weiteren neoliberalen Reformschwung: Seit Ende 2011 wurde das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 erhöht, Personal im Öffentlichen Dienst abgebaut, die Renten gekürzt (Aussetzung des Inflationsausgleiches), der Kündigungsschutz gelockert, eine Luxus- und eine Immobiliensteuer eingeführt. Letztere trifft viele DurchschnittsverdienerInnen, da Immobilienbesitz in Italien besonders in der Mittelschicht verbreitet ist. (Die Kirchen sind übrigens von der Steuer ausgenommen.)

Das italienische Finanzministerium kommentierte laut Konrad-Adenauer-Stiftung die Wirkungen der Reformen im Februar 2011 euphorisch. Es habe "bereits berechnet, dass die von der Regierung Monti beschlossenen Reformen über die nächsten Jahre das Wirtschaftswachstum um bis zu 11 Prozent, die Einkommen um bis zu 12 Prozent und die Beschäftigung um bis zu 8 Prozent steigen lassen sollen. Sollte sich eine entsprechende Entwicklung abzeichnen, wäre dies mit Sicherheit das Signal für deutlich sinkende Kreditzinsen auch bei den langfristigen italienischen Titeln."


Die Rechnung geht nicht auf

Ein Blick auf die Zahlen macht deutlich, wie vollumfänglich hier die Rechnung der italienischen Regierungsbürokraten blamiert ist. Im Oktober 2012, ein knappes Jahr nach Einleitung des Reformprozesses, stieg die italienische Staatsverschuldung erstmals über 2 Billionen Euro, der Verschuldungsgrad liegt Ende 2012 bei beeindruckenden 129, 2 % des italienischen BIP, die Industrieproduktion bewegt sich auf dem Niveau der späten 1980er Jahre: "Mit einem industriellen Output und damit mit dem Output handelbarer Waren und Güter auf einem Niveau von Mitte 1987 lassen sich auch die italienischen Schuldenpyramiden nicht tragen", beschreibt der Wirtschaftsblogger Steffen Bogs (querschuesse.de) die ernüchternde Realität.

Gleichzeitig stieg die Arbeitslosenquote in Italien auf über 11 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit bis Oktober 2012 sogar auf ein neues Allzeithoch von 36,5 Prozent.

Von einer wirtschaftlichen Erholung kann also nicht die Rede sein. Und dennoch: Die Rendite, die Italien zahlen muss, um sich am Kapitalmarkt neues Geld zu leihen, ist bei 10jährigen Anlagen von 6,8% im November 2011 auf 4,85% im November 2012 gefallen.

Das wunderliche Betragen des "automatischen Subjekts" bleibt für den Politikbetrieb rätselhaft, weshalb dieser jenes unentwegt und überall auftretende Phänomen schon lange nicht mehr ernsthaft zu analysieren versucht und stattdessen die sinkenden Zinsen pauschal auf das "Vertrauen" der Finanzmärkte zurückführt. Vertrauen in Monti, in den prognostizierten Aufschwung, in die baldige Wirkung der Reformen, in gehacktes Basilikum - ist eigentlich egal.

Die damals noch existente Financial Times Deutschland kommentierte stellvertretend für den publizistischen Mainstream: "Italien hat sich frisches Geld geliehen - zu recht günstigen Konditionen. Der stabile Zinssatz zeigt, dass Investoren das Land unter der Regierung Monti auf dem richtigen Kurs wähnen." Niemand, der bei Sinnen ist, könnte sich angesichts der tatsächlichen realwirtschaftlichen Entwicklung mit einer solchen Erklärung zufriedengeben.


Konkurrenz, Geld und Wert

Um zu verstehen, wie sich die Finanzsphäre so vollkommen von der Realwirtschaft emanzipieren konnte, ist zunächst die kapitalistische Funktionsweise an sich zu betrachten. Diese besteht keineswegs nur in der Produktion von Gebrauchsgütern für einen Markt, auf dem dann nach einem mehr oder minder "intelligenten" Verfahren die Möglichkeit besteht, die Produkte zu tauschen.

Das Wesen des Kapitals ist nicht bestimmt durch Produktion und Austausch von Waren, sondern durch die Bedingtheit aller Akteure durch die Konkurrenz: "Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innere Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innere Tendenz als äußere Notwendigkeit." (Marx, Grundrisse)

Wenn das so ist, wird auch klar, warum es unmöglich ist, die empirischen Phänomene mit positivistischen Interpretationen zu erklären, denn der von der Konkurrenz bestimmte Prozess, der diese Phänomene determiniert, ist empirisch unsichtbar und vollzieht sich auf der Ebene des Gesamtkapitals.

Es muss also hinter den Erscheinungen eine Bewegung geben, die zwar nicht empirisch messbar, aber dennoch logisch darstellbar ist: "Sie (die Konkurrenz, N.H.) ist nur negativ verstanden worden, d.h. als Negation von Monopolen, Korporation, gesetzlichen Regularien etc. Als Negation der feudalen Produktion. Sie muß aber doch auch etwas für sich sein, da bloß 0 leere Negation ist."

Der Schlüssel zum Verständnis liegt darin, dass der Selbstzweck der Kapitalverwertung auf der Ebene des Einzelunternehmers, nämlich aus Geld mehr Geld zu machen, die Existenz eines Konkurrenzraumes auf gesamtkapitalistischer Ebene zur Bedingung hat.

Erst die Tatsache, dass andere den Teil des gesamtkapitalistischen Mehrwerts, den das einzelne Kapital ergattern will, auch auf sich ziehen wollen, zwingt das Einzelkapital dazu, effizienter, produktiver zu sein als möglichst viele andere.

Wert und Mehrwert entspringen aber ausschließlich menschlicher Arbeit, die Gesamtmehrwertmasse entspricht also der Gesamtsumme aller Mehrwertarbeit auf gesamtkapitalistischer Ebene. Und um die wird konkurriert. Wert drückt sich dabei zwar in der Geldform aus, aber für das Kapital geht es nicht um "das Geld", sondern allein um den Wert. Die Kapitalisten kämpfen nicht um einen Anteil an der Geldmenge, sondern um einen möglichst großen Anteil an der Gesamtmehrwertmasse, dargestellt in Geld. Dieser theoretische Unterschied öffnet das Verständnis für die Bewegungen des Kapitals.

Die Verwissenschaftlichung der Produktion durch Fließbandfertigung, Robotik, Mikroelektronik und Medientechnik hat den "menschlichen Faktor" in einem solchen Ausmaß aus dem Produktionsprozess eliminiert, dass eine Steigerung der Gesamtmehrwertmasse immer schwieriger wird.

Der kapitalistische Player ist also gezwungen, wenn er reüssieren will, sich seiner eigenen "Spielgrundlage" langfristig zu berauben.

Lange konnte diese Tendenz durch äußere und/oder innere Kapitalexpansion (Kapitalisierung neuer Weltregionen bzw. Erschließung bisher unerschlossener Bereiche der Reproduktion) überkompensiert werden. Um im Bild zu bleiben: Der Wirt konnte wachsen bzw. der Parasit fand noch nicht entdeckte Stellen, die er sich einverleiben konnte; seitdem der Wirt, im konkreten Fall der gesamte Planet aber durchkapitalisiert ist, kommt dieser notwendige Kompensationsmechanismus an sein unüberwindbares Ende: " Dann schlägt der relative Fall der Profitrate in einen absoluten Fall der gesellschaftlichen Mehrwert- und damit Profitmasse um und damit die vermeintlich ewige Verwertung des Werts in seine historische Entwertung." (Kurz 2012)


Der letzte Trick und des Rätsels Nichtlösung

Der letzte Ausweg aus der Ausweglosigkeit besteht nun seit den 1980er Jahren in einem gewissermaßen "schlauen" Trick: Es wird eine sich ausdehnende Gesamtwertmasse simuliert. Der Wert stellt sich im Kapitalismus im Geldmedium dar und dieses kann gedruckt oder auf andere Art "aus dem Nichts geschaffen" werden, wodurch sich eine simulierte Gesamtwertmasse virtuell theoretisch ins Unendliche ausweiten lässt. (Der so genannte Neoliberalismus ist so gesehen die politische Organisationsform dieses Tricks.)

Nur entsteht so kein (Mehr-)Wert, denn dafür müsste ja massenhaft menschliche Arbeit angewandt werden. Was entsteht, ist "Geld ohne Wert". (Vgl. Kurz 2012)

Dabei wurde ein Volumen an Eigentumstiteln in Form von Derivaten generiert, das mittlerweile dem 15fachen des Weltsozialprodukts entspricht.

Daran und an den Leitzinssätzen in den kapitalistischen Zentren, die nahe Null verharren, aber kein Wachstum auslösen, das den Staaten erlauben würde, ausreichend Kapital abzuschöpfen, um die Staatsschulden zurückzuzahlen, ist abzulesen, dass das Simulieren von Wert ein Fake und dieser "Wert" innerhalb der Realwirtschaft überhaupt nicht mehr zu realisieren ist.

Gleichzeitig gelangt der simulierte, fiktive Wert in Form von "Geld ohne Wert" in die Sphäre der akkumulationsunfähigen Warenproduktion und hält diese am Laufen, Etwa durch die Bereitstellung für Privatkredite, Kapitalerhöhungen von Aktiengesellschaften oder Staatsanleihenkäufe.

Die Finanzmärkte sind demnach nicht das Problem (wie ja noch immer manche selbst ernannten Kapitalismuskritiker glauben), sie halten vielmehr die realwirtschaftliche Produktion überhaupt noch am Leben. Die verantwortlichen Politiker müssen deshalb alles tun, um die massenhafte Liquiditätsflutung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Rückzahlung der Schulden zu garantieren. Deshalb ist auch das italienische Finanzministerium so scharf auf sinkende Kreditzinsen. Und Angela Merkel auf Sparprogramme.

Aus dieser Perspektive erscheinen auch die merkwürdigen Krisenentwicklungen nicht mehr rätselhaft.

Die Kreditzinsen Italiens sind gesunken, weil es Ende 2012 ausreichend Liquidität und Rettungsschirme gab, die die relativ hohe Rendite auf die italienischen Staatsanleihen absicherten.

Damit Kurse sinken oder fallen, muss nur ein großer Teil der Fondsmanager und anderer Spekulanten der Meinung sein, ein bestimmter Titel sei so sicher in der Rückzahlung, dass die Aussicht auf eine hohe Rendite größer ist als das Risiko des Zahlungsausfalls. Sinkende Renditen sind also Ausdruck einer veränderten Relation, nämlich des Verhältnisses der durchschnittlichen Investoreneinschätzung von Renditeaussicht zu Ausfallrisiko.

Diese beiden Größen hängen aber direkt voneinander ab: Die Renditeaussicht steigt mit dem Ausfallrisiko und andersherum und damit ist dann auch klar, warum die Zinsen auf Staatsanleihen trotz sich eintrübender Aussichten durchaus sinken können. Erscheint nämlich, wie im Fall Italien, eine Rückzahlung relativ sicher (durch Rettungsschirme) und ist für den angenommen Sicherheitsgrad die je aktuelle Rendite hoch genug, wird der Titel gekauft, bis sich eine andere Einschätzung einstellt.

So gesehen ist das Kalkül der Regierungen erst einmal durchaus aufgegangen, denn durch die gesunkenen Kreditzinsen kann Italien frisches Geld aus dem Pool fiktiven Kapitals entnehmen.

Dieses Geld ist aber im Grunde "wertlos", da es in Wahrheit ja keinen tatsächlich geschaffenen Wert repräsentiert, sondern nur einen weiteren Berg von Forderungen, die irgendwann fällig werden.

Ausschlaggebend war also nicht das Vertrauen der Finanzmärkte in die Regierung Monti oder die wirtschaftliche Entwicklung Italiens, sondern einzig die Absicherung der Spekulation durch die Rettungsschirme. Diese sind aber aus einem bestimmten Grund an Sparbedingungen geknüpft: Durch das volkswirtschaftliche Sparen erhöht sich die Wettbewerbsfähigkeit, also eine relative Größe.

Solange sich die Gesamtmehrwertmasse vergrößert, steht steigende Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich für Wachstum. Bei schrumpfender Wertmasse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene geht diese Rechnung aber nicht mehr auf, weil auch relative Verbesserung bei schrumpfender Rechnungsgrundlage langfristig tendenziell absolute Verluste bedeuten. Der Versuch, die Volkswirtschaften, die schlechterdings nicht mehr ausreichend Wert "produzieren" können, durch Sparprogramme wieder wettbewerbsfähig zu machen, ist langfristig daher unsinnig.

Nur die neuerliche massenhafte Anwendung wertschöpfender menschlicher Arbeit könnte die Tendenz der schrumpfenden Wertmasse umkehren.

Die Produktionsprozesse sind aber mittlerweile so automatisiert, dass dies nicht mehr möglich ist - das ist ja das Problem! Vor diesem Hintergrund bleibt völlig schleierhaft, wie ein Sparprogramm eine neue Akkumulationsrunde auslösen soll, die nur dann nachhaltig sein könnte, wenn sie nicht getrieben wäre von simuliertem, also fiktivem Wert, kurz: neuen Schulden.

Ein Zusammensparen der Volkswirtschaften verstärkt die Schrumpfungstendenz vielmehr, sodass die gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit letztlich nicht die gewünschte Wirkung entfalten kann.


Die Rettung: Tausendmilliarden Euro

In einem Interview im Handelsblatt verkündete der Chef der Vermögensberatungsfirma PSM, Langen v.d. Goltz, den einzigen innerhalb der kapitalistischen Kategorien noch denkbaren Lösungsweg: "Die EZB muss EU-Staatsanleihen in Höhe von circa drei bis vier Tausendmilliarden Euro aufkaufen. Diese Anleihen können dann bei nicht Rückzahlbarkeit auf dreißig bis vierzig Jahre zinslos verlängert werden, bis sie schließlich wertlos werden. Durch diesen Bilanztrick kommt es zu einem faktischen Schuldenerlass. Das ist die einzige Möglichkeit, den Staatsbankrott zu verhindern, quasi die beste unter allen anderen schlechten Lösungsvorschlägen." Das Interview erschien am 7.12.2012, ist also kein Aprilscherz.

Und im Grunde genommen hat v.d.Goltz ja Recht: Außer der Produktion fiktiven Kapitals in astronomischen Größenordnungen bleibt tatsächliche nichts mehr übrig, um das Kapitalverwertungsspiel noch aufrechtzuerhalten.

Der brave Anlageberatungschef stellt zu Recht fest: "Mit Sparen lassen sich die Probleme nicht lösen, die Schulden wachsen trotzdem weiter.

Wachstum ohne neue Schulden gibt es nicht. Unser gesamtes Wirtschafts- und Geldsystem ist auf immer höheren Schulden aufgebaut. Würden Autos, Immobilien und Maschinen nicht auf Kredit gekauft, breche (sic!) unser Wirtschaftssystem zusammen und ein weiteres Heer von Millionen Arbeitslosen." (sic!)

Tja, und deshalb: "An eine Rückzahlung der Schulden ist niemals mehr zu denken. Die Steuereinnahmen decken gerade mal die laufenden Kosten, doch der Schuldenberg wächst unaufhörlich weiter. Stellt man sich die Weltwirtschaft als überschuldete Firma vor, gibt es nur drei Möglichkeiten, entweder die Firma wächst, indem sie neue Schulden macht, sie geht Bankrott (sic!), wenn sie die Schulden nicht mehr bedienen kann oder sie macht einen Vergleich mit den Gläubigern." (1)

Mit welchen Extraterrestrischen der Herr v.d.Goltz da einen Vergleich machen will oder wie so ein Weltbankrott aussieht, darauf darf man gespannt sein.


Anmerkung:
(1) Orthografie und Grammatik der Zitate spiegeln den Hund, auf den der deutsche Qualitätsjournalismus à la Handelsblatt gekommen ist. Das Interview ist nachzulesen unter:
http://www.handelsblatt.com/finanzen/boerse-maerkte/anlagestrategie/eckart-langen-v-d-goltz-es-muss-etwas-passieren-das-bislang-undenkbar-erschien/7474810-2.html

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Quelle:
graswurzelrevolution, 41. Jahrgang, Nr. 376 Februar 2013, S. 16-17
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2013