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GRASWURZELREVOLUTION/1376: Französische Anarchafeministinnen gegen das System der Prostitution


graswurzelrevolution 386, Februar 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Anarchafeministinnen gegen das System der Prostitution

EIN BERICHT AUS FRANKREICH



Im Mai 2009 erschien in Frankreich das Buch "Anarchisme, Feminisme contre le système prostitutionnel" (Anarchismus, Feminismus gegen das System der Prostitution) in den Pariser Éditions du Monde libertaire. (1) An der Publikation arbeiteten rund 20 Aktivistinnen innerhalb und außerhalb der Frauenkommission der Fédération anarchiste mit; Hélène Hernandez und Élisabeth Claude führten die Diskussionen und Beiträge als Koordinationsredakteurinnen des Buches zusammen. Die beteiligten französischen Anarchafeministinnen wenden sich klar gegen Gesetzesverschärfungen für Prostituierte (Abolition statt Prohibition), sie wenden sich aber ebenso prinzipiell gegen die ihrer Meinung nach im Rahmen der kapitalistischen Globalisierung zu betrachtende, legale und über Geld regulierte Prostitution.


Weder das eine noch das andere führe zu einer Utopie freier Sexualität und Liebe im Rahmen einer libertär-sozialistischen Gesellschaft. Sie fordern das anarchistische Milieu auf, ihren "Kampf für eine Welt ohne Prostitution" (S. 112) zu unterstützen.

Sie definieren die Prostitution als kapitalistisches ebenso wie patriarchales Herrschafts- und Gewaltverhältnis. Was die Prostitution charakterisiere, sei "einerseits die Bezahlung, andererseits die Praxis, die der Prostituteur (die Bezeichnungen 'Freier' oder 'Kunde' werden überwiegend abgelehnt; d.A.) der sich prostituierenden Person auferlegt, schließlich auch der Wiederholungscharakter dieser Praxis" (S. 21).

Sie zählen die üblichen Praxen auf: "Penetration, Fellatio, Analsex, sadomasochistische Dominanz während welcher der Kunde gepeitscht oder festgebunden wird, aber auch 'Sexspiele' mit Exkrementen, golden shower (das Urinieren auf die andere Person), 'Perlenschmuck' oder 'Perlengesicht' bei der Ejakulation des Kunden um den Hals oder auf das Gesicht der sich prostituierenden Person" (S. 21).


Ein Gewalt- und Herrschaftsverhältnis

Zur Gewalt innerhalb des Prostitutionsmilieus schreibt das Kollektiv, dass einige Prostituierte "unter dem Deckmantel der Suche nach Respekt und Respektabilität Gewalttaten leugnen, die sie während des Prostitutionsverhältnisses erfahren." (S.25)

Wie äußert sich Gewalt in der Prostitution nach Meinung des Kollektivs? "Das Alltagsleben einer Prostituierten ist gekennzeichnet durch permanenten Stress und Angst: Angst vor dem 'gewaltsamen Kunden' oder dem 'manisch verrückten Kunden', Angst vor der Polizei und Angst vor dem Zuhälter, Angst vor Blicken oder Worten." (S. 26) Physische Gewalt, so die Anarchafeministinnen, komme immer wieder vor, auch wenn sie überdeckt wird: "Der Konsum von Alkohol oder Drogen, um die Situation zu überstehen oder zu vergessen, führt zu starken Abhängigkeiten." (S. 26) Physische führe zu psychischer Gewalt: "Depressionen, Angstzustände und Schwierigkeiten, auf Gefühlen, gegenseitigem Vertrauen und Gleichheit basierende zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen." Das bewirke eine Trennung von Körper und Geist: "Aufgrund der wiederholten, nicht auf Begierde basierenden Sexualakte entsteht eine Empfindungslosigkeit gegenüber Schmerz zunächst im exponiertesten Bereich, der Genitalsphäre. Diese reagiert tendenziell nur noch reflexhaft. Derselbe Prozess ergreift schließlich den gesamten Körper, auch wenn sich die Person emotionale Beziehungen wünscht." (S. 26-27) Die Feministin Judith Trinquart nennt diesen Vorgang "Entkörperlichung". (S. 27)

Gewalt erfahren die sich prostituierenden Personen nach Analyse der Anarchafeministinnen aber bereits in ihrer Kindheit: Inzest, Vergewaltigungen in der Familie gehen einer Zukunft als Prostituierte oft voraus.

Das Kollektiv gibt hier einen prozentualen Rahmen von 50-80% der Prostituierten an, wobei Zahlenangaben im gesamten Bereich der Prostitution immer mit Vorsicht zu behandeln sind.

Im Rahmen der modernen Sexindustrie und des Frauenhandels spricht das Kollektiv bereits von einem nicht seltenen Einstiegsalter von 14-jährigen Mädchen, weshalb es in diesem Bereich der Prostitution auch von Kindesmissbrauch und Gewalt gegen Kinder spricht. (S. 34)


Krieg und historisch-soziale Entwicklung der modernen Sexindustrie

Nach ihrer Gewaltanalyse konzentrieren sich die Anarchafeministinnen auf die soziologische und historische Entwicklung der Prostitution und stellen sie sowohl in den Zusammenhang des Frauenhandels wie des Antimilitarismus: "Die industrielle Entwicklung des Sexhandels hat vor vierzig Jahren in den Ländern Südostasiens begonnen, mit dem Krieg der amerikanischen Armee in Vietnam. Seit mehr als zehn Jahren hat diese Entwicklung die osteuropäischen Länder erreicht, mit dem Krieg der NATO in Bosnien-Herzegowina." (S. 35)

In Frankreich ist der Frauenhandel besonders aus Afrika verbreitet, vor allem aus Kamerun und Nigeria. In diesen Ländern werden kleine Mädchen bereits in der Familie auf die Prostitution in Europa vorbereitet. Die Prostitution wird für sie zu einem familiären Gefängnis: Frauenhändler und Zuhälter sind fast durchgängig nahe oder entfernte Familienmitglieder. (S. 30f.)

Die durch die kapitalistische Globalisierung und Deregulierung profitabler und größer werdende Dimension des Frauenhandels und der Zwangsprostitution (auch hier gibt es Probleme der prozentualen Erfassung, außerdem einen großen Grau- und Übergangsbereich) führt im französischen Sprachraum zu einer rassistischen Hierarchie unter Prostituierten: Weiße Prostituierte können sich einzelnen Praktiken (u.a. Weglassen des Präservativs) verweigern, die dann in der Hierarchie weiter unten stehenden Ostasiatinnen, Osteuropäerinnen und Afrikanerinnen akzeptieren müssen.

Es habe sich, so die Anarchafeministinnen, "eine Konkurrenz und eine Hierarchie unter den Prostituierten entwickelt: die afrikanischen Prostituierten sind oft die Ärmsten und diejenigen, die die schlimmsten und schmutzigsten Wünsche erfüllen oder ohne Präservativ auskommen müssen." (S. 20)

Im weiteren Verlauf des Buches gibt das Kollektiv einen Überblick über Studien und Umfragen zu den Prostituteuren. Im Zusammenhang mit der libertären Utopie der Kostenlosigkeit von Sexualität und der freien Liebe decken die Anarchafeministinnen dabei einen strukturellen Widerspruch auf: Die sich prostituierende Person simuliere nur Erregung, während sich der Prostituteur "echte" Erregung wünscht, halluziniert oder einfordert. Sobald er die Simulation bemerkt, reagiert er enttäuscht. Dieser Widerspruch sei ein strukturelles Motiv für eine Tendenz zu patriarchaler Gewalt in der Prostitution. Zum Schluss argumentieren die Anarchafeministinnen mit dem Sozialanarchismus Bakunins gegen Behauptungen eines Teils von Prostituierten, sie würden ihre Praxis als frei und selbstbestimmt verstehen. Mit Bakunins Postulat, ein Mensch sei nicht frei, solange andere unfrei seien, bestehen die Anarchafeministinnen darauf, eine Haltung egozentrischer Berufs- oder Interessendurchsetzung auf der Basis eines Bereichs von Personen zu kritisieren, der im System der Prostitution Gewalt erfährt oder sich selbst als unfrei empfindet.


Die Survivor-Organisationen

Die Anarchafeministinnen solidarisieren sich in ihrem Buch mit sog. "Survivor"-Organisationen, die im Rahmen der internationalen abolitionistischen Bewegung entstanden sind.

Am 17. Oktober 2005 haben Vertreterinnen der abolitionistischen Bewegung, die bisher hauptsächlich gegen Frauenhandel aktiv waren (Coalition Against Trafficking in Women), aus den Ländern Belgien, Dänemark, Süd-Korea, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ein "Survivors of Prostitution and Trafficking Manifesto" (Manifest der Überlebenden der Prostitution und des Frauenhandels) veröffentlicht. (2) Das Manifest war der Anlass für die Gründung vieler "Survivor"-Gruppen Ex-Prostituierter auf internationaler Ebene. Nur Frauen, die aus der Prostitution herausgefunden haben, sind von den vielfältigen personellen Abhängigkeiten oder beruflich-existentiell-kommerziellen Zwängen befreit, um wirklich frei sprechen zu können.

Hier wird deshalb auf Seite 7 ein Text von Rosen Hicher, einer Sprecherin der französischen Selbsthilfeorganisation Ex-Prostituierter "Les Survivantes de la prostitution" abgedruckt, welcher den Schwerpunkt auf diese grundsätzliche Kritik der Prostitution legt. Der französische Zweig der Survivors hat sich aus der seit 1937 bestehenden abolitionistischen Organisation Mouvement du nid France (Bewegung 'Nest' oder 'Liebesnest' Frankreich) entwickelt und wurde am 8. Juni 2013 gegründet.

Das Mouvement du nid wiederum ist eine Hufs-, Begleit- und Ausstiegsorganisation für Prostituierte, die heute jährlich mit ca. 6000 Prostituierten in Frankreich zusammenarbeitet. Ihr rein feministischer, nicht-anarchistischer Charakter hat allerdings dazu geführt, dass sie die Ende 2013 vom französischen Parlament beschlossene Gesetzgebung zur Belangung von Prostituteuren unterstützt hat.

Snowman


Anmerkungen:

(1): Ca. 120 S., zu bestellen über: Éditions du Monde libertaire; 145 rue Amelot, 75011 Paris/France oder über Mail:
editions@federation-anarchiste.org

(2): http://site.nomas.org/survivors-of-prostitution-and-trafficking-manifesto/

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Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 386, Februar 2014, S. 7-8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2014