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GRASWURZELREVOLUTION/1617: Die Zukunft programmieren - Akzelerationismus und digitale Emanzipation


graswurzelrevolution Nr. 414, Dezember 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Die Zukunft programmieren
Der Akzelerationismus und die digitale Emanzipation

von Simon Schaupp


Linke diskutieren wieder über Technik. Das Bündnis ...umsGanze! veranstaltet in diesen Tagen eine Konferenz zu Digitalisierung und Kommunismus, in vielen linken Zeitschriften ist eine Debatte darüber entflammt, ob der Computer uns in die Hölle oder ins Paradies führen wird. Einer der wichtigsten Bezugspunkte ist dabei die politische Theorie des neuen Akzelerationismus (von engl. acceleration, dt. Beschleunigung).    


Dieser wird hauptsächlich mit den beiden jungen Sozialwissenschaftlern Nick Srnicek und Alex Williams assoziiert, die in den Feuilletons mit ihrem technikeuphorischen Programm Furore machen. Kaum dass sie ihr erstes Buch (1) geschrieben haben, wollen sie nun "die wichtigste Trennlinie innerhalb der zeitgenössischen Linken" ziehen, wie es in ihrem Beschleunigungsmanifest (2) heißt. Die Trennlinie soll verlaufen zwischen den VertreterInnen der alten Linken auf der einen Seite, die sie hauptsächlich durch einen "folkloristischen Lokalismus" und "grenzenlosen Horizontalismus" charakterisiert sehen, und auf der anderen Seite ihnen selbst, den Akzelerationisten.

Aber was wollen diese Aktzelerationisten eigentlich?

Im Wesentlichen geht es ihnen darum, eine Emanzipationsperspektive zu entwickeln, die sich positiv auf die Errungenschaften der Moderne bezieht, anstatt diese mit dem Kapitalismus gleichzusetzen. Das heißt, die Linke soll ihren "technologischen Analphabetismus" überwinden und sich die technologischen Entwicklungen des Kapitalismus zunutze machen, anstatt diese zu verteufeln. Insbesondere beziehen die Akzelerationisten sich dabei auf digitale Technologien wie Big-Data-Analysen oder Soziale Netzwerke, aber auch auf Produktionsautomatisierung in allen Formen. Von letzterer erhoffen sie sich eine Überwindung der Arbeit. Da menschliche Arbeit die Wertbasis des Kapitalismus bildet, rechnen sie im Zuge ihrer potentiell vollständigen Automatisierung mit einem drastischen Absinken der Profitrate. Dadurch soll kapitalistische Produktion unattraktiv werden und der High-Tech-Kapitalismus in einen "vollautomatisierten Luxuskommunismus" umschwingen. Solche Spekulationen über die Zukunft gehören ebenfalls zu den wichtigsten Punkten ihres Programms. Denn ein zentrales Problem der aktuellen Linken sehen sie darin, dass ihr jeder Begriff der Zukunft abhanden gekommen sei. Stattdessen beschränke sich die Linke auf Abwehrkämpfe und glaube selbst nicht mehr daran, dass sie die Verhältnisse grundlegend ändern könne.

In diesen Punkten liefert der Akzelerationismus wichtige Denkanstöße. Er kann beispielsweise der linken Debatte um die Digitalisierung dazu verhelfen, eine Perspektive zur Aneignung digitaler Produktionsmittel zu entwickeln, anstatt beim bürgerlichen Feuilleton abzuschreiben. Denn dieser hat wenig mehr zu bieten als oberflächliche Forderungen nach Datenschutz, die meist nicht über die Frage hinausgehen, was "wir" (Deutschen) gegen "die" (US-amerikanische) Überwachung tun können; oder eine ebenso oberflächliche Euphorie über die angebliche Demokratisierung des Orients durch Facebook und Twitter. Die linke Diskussion dreht sich vor allem um die Abwehr von Überwachung und Kontrolle und mündet oft in Empfehlungen zum Rückzug aus den gängigen digitalen Kommunikationsmedien. Angesichts der immer dreister werdenden Überwachung durch Staat und Konzerne ist das zwar verständlich und hat fraglos seine Berechtigung. Interessant wäre aber auch eine Debatte über die emanzipativen Potentiale digitaler Technologien, die leider weitgehend außer Mode gekommen ist. Dabei gäbe es dafür interessante historische Bezugspunkte wie z. B. das Projekt Cybersyn im sozialistischen Chile der frühen 1970er Jahre, das auch oft von den Akzelerationisten zitiert wird.

Projekt Cybersyn

Dabei versuchte Allendes Volksfront-Regierung ihre Vision eines demokratischen Sozialismus, in dem Planwirtschaft mit ArbeiterInnen-Selbstorganisation verbunden werden sollte, materiell in ihrem Wirtschaftssteuerungs-System zu verankern.

Dafür ließen sie den britischen Kybernetiker Stafford Beer einfliegen, der zusammen mit chilenischen IngenieurInnen und ÖkonomInnen eine computerbasierte Wirtschaftssteuerung entwickelte: Die großen Fabriken Chiles wurden dabei über mehrere Zwischenschritte mit einem IBM 360/50 Mainframe (einem der ersten industriell verfügbaren Computer überhaupt) im Wirtschaftsministerium in Santiago verbunden. Dort fand auf Grundlage von digitalen Prognosen die grobe ökonomische Planung statt, während die Fabriken ihre Produktion relativ autonom gestalten konnten. Bei Produktionsproblemen bekamen die jeweiligen Stellen sofort ein Feedback durch das Computersystem. Wenn das Problem nicht innerhalb einer bestimmten Zeit gelöst werden konnte, wurde es an die nächsthöhere Ebene weitergegeben. So sollte die Produktionsplanung als zirkulärer Prozess von "unten" nach "oben" gestaltet werden. Außerdem sollte die Produktion durch digitales Feedback direkt an den Konsum gekoppelt werden. Dabei sollte unmittelbar registriert werden, was verbraucht wird, damit entsprechend produziert werden kann und nicht irgendein ZK entscheiden muss, wie viele Hosen die Bevölkerung in den nächsten Jahren tragen darf. Politisch interessant ist daran vor allem, dass die Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage durch ein dynamisches System ersetzt werden sollten, das nicht auf das Preissystem angewiesen ist. Das Projekt wurde teilweise tatsächlich realisiert und schien auch zu funktionieren, eine selbstorganisierte Planwirtschaft konnte jedoch schon deshalb nicht realisiert werden, weil die Faschisten unter Pinochet dem Experiment mit dem Militärputsch am 11. September 1973 ein jähes Ende bereiteten.

Ähnliche Pläne einer kybernetischen Wirtschaftssteuerung wurden auch in der Sowjetunion entwickelt. Dort scheiterten sie aber bezeichnender Weise am Widerstand derjenigen Bürokraten, die dadurch ihre Pöstchen verloren hätten.

Vor dem Hintergrund solcher historischen Episoden lässt sich gemäß dem akzelerationistischen Imperativ der Spekulation fragen: Wenn schon in den 1970er Jahren etwas Derartiges möglich war, was wäre dann erst beim heutigen Entwicklungsstand von Informationstechnologie und Produktionsautomatisierung möglich? Zumindest auf der Ebene der Produktionsmittel waren die Bedingungen für einen "vollautomatisierten Luxuskommunismus" nie besser!

Utopielosigkeit?

Politisch stellt sich allerdings die Frage, wie diese Potentiale genutzt werden können. Der Akzelerationismus bleibt hier um konkrete Antworten verlegen und ergeht sich stattdessen in sprachlich fulminant vorgetragenen Worthülsen. Einzig das Grundeinkommen, das die Übel der Arbeitslosigkeit im Kapitalismus abfedern könne, wird als konkrete Übergangsstrategie vorgeschlagen. Ob das ausreicht, ist äußerst zweifelhaft, zumal durch die Wegrationalisierung der Arbeit als Wertbasis des Kapitalismus eine starke Inflation zu erwarten wäre, die als allererstes dem Grundeinkommen seine Kaufkraft nähme. Selbstorganisation und direkte Aktion wird von den Akzelerationisten dagegen als Teil des "folkloristischen Lokalismus" abgestempelt, in der eine "Fetischisierung von Offenheit, Horizontalität und Inklusion" zum Ausdruck komme. Diese "folk politics" seien tendenziell rückwärtsgewandt und primitivistisch und werden mit Lenin als "linke Kindereien" diffamiert. Als neue Alternative werden dann die Staats- und Parteivisionen desselben zitiert, als sei darüber noch nie diskutiert worden. Zusammen mit der angeblichen Rückwärtsgewandtheit wird dann auch die Utopielosigkeit der Linken den Antiautoritären in die Schuhe geschoben. In diesen Punkten liegt der Akzelerationismus jedoch falsch.

In Bezug auf die Utopielosigkeit trifft sogar das Gegenteil der akzelerationistischen Unterstellung zu: Es ist nicht der Antiautoritarismus, sondern die Organisationslogik starr hierarchischer (Partei)-Organisationen, die dazu führt, dass die eigentliche Utopie zugunsten von Macht- und Selbsterhalt aus dem Blick verloren wird und sich die Organisation mit zunehmender Größe immer mehr um sich selbst dreht. Diese Tendenz kann bei jeder linken Partei nachverfolgt werden. Auch der Vorteil der von den Akzelerationisten so viel beschworenen Informationstechnologie liegt doch wesentlich darin, dass sie nichthierarchische Kommunikation und Organisation materiell wesentlich erleichtert. Das zeigen das Beispiel des Projekts Cybersyn, aber auch unabhängige Medienplattformen wie indymedia und viele andere. Selbstorganisation ist also kein Fetisch oder stilles Dogma, sondern ein expliziter und zentraler Bestandteil antiautoritärer Theorie. Es gibt gute Gründe dafür, nicht von einer autoritären Partei regiert werden zu wollen. Was im Paradigma der Selbstorganisation zum Ausdruck kommt ist keine Rückwärtsgewandtheit, sondern ein nicht-ökonomistisches Emanzipationsverständnis: Selbstorganisation ist eine notwendige, aber selbstverständlich keine hinreichende Bedingung für gesellschaftliche Emanzipation.

Sollte der "vollautomatische Luxuskommunismus" irgendwann kommen, dann als Resultat sozialer Kämpfe. Selbstorganisation ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass diese Kämpfe geführt werden können. Denn während es keine Anzeichen dafür gibt, dass es sich lohnt, auf den technologisch vermittelten Fortschritt zu warten, gibt es zahllose Beispiele in der Geschichte, die zeigen, dass soziale Kämpfe das Leben wesentlich verbessern können.

Es gibt weder historische noch logische Gründe dafür, dass bei einem Crash des Kapitalismus quasi automatisch aus dem Nichts eine kommunistische Gesellschaft erscheint. Mit dieser Annahme wärmt der Akzelerationismus den überkommen geglaubten Irrglauben des alten Fortschrittsmarxismus auf, bei dem sich die Geschichte aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte zwangsläufig auf den Kommunismus zubewegt. Dem liegt ein ökonomistisches Gesellschaftsverständnis zugrunde, das mit einer messianischen Mystifizierung von Fortschritt und kapitalistischer Krise vermengt wird. Im Hinblick auf diese Mystifizierung kann dem Akzelerationismus aus antiautoritärer Perspektive also entgegengehalten werden: Selber Fetischismus!

Von der Email zur Gespensterwelt

Ebenso verhält es sich in Hinblick auf Technologie: Entscheidend ist schlussendlich nicht, was die Technologie alles kann, denn sie wird die Revolution nicht machen. Hier sind sich die akzelerationistische Position der Technikeuphorie und die des Technikpessimismus sehr ähnlich: Beiden liegt eine falsche Vorstellung des Verhältnisses von Technik und Gesellschaft zugrunde. Das wird z.B. an der 35. Ausgabe der marxistischen Zeitschrift lunapark21 mit dem sprechenden Titel "Digitalisierung, Big Data Monopole, ZERSTÖRUNG" deutlich. Dort wird die Digitalisierung, von Google bis Wikipedia, als eine Art Apokalypse dargestellt, illustriert ihr Horror mit Bildern wie Munchs Schrei. Computer werden nur als "Herrschaftsmaschinen" geführt, die krank und dumm machen - und die logische Konsequenz der Emailkommunikation ist für Autor Werner Seppmann eine "Gespensterwelt". Dieser Position liegt, ebenso wie der Technikeuphorie, eine Fetischisierung der Technik zugrunde. Letztere wird zu einem der Gesellschaft gegenüber autonomen Agenten stilisiert, im Akzelerationismus als "Ursprung der Freiheit" und bei Seppmann und anderen als "Herrschaftsmaschine". Der Unterschied besteht dann vor allem zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgewandtheit der beiden Ideologien. Die Entscheidung zwischen beidenwird jedoch zur reinen Geschmacksfrage.

Es ist für die Linke an der Zeit, den romantischen Bauernhof Vergangenheit sein zu lassen und sich Gedanken darüber zu machen, wie die heutigen technologischen Entwicklungen für emanzipatorische Bestrebungen genutzt werden können. Das gilt es aber im Einzelfall abzuwägen und nicht allgemein zu postulieren. Auch bei den Akzelerationisten kann diesbezüglich eine Ausdifferenzierung der Thesen beobachtet werden. So werden gegenüber dem akzelerationistischen Manifest und einigen anderen kürzeren Pamphleten im neuen Buch von Srnicek und Williams ("Inventing the Future") einige provokante Thesen deutlich relativiert.

Der Leninismus wird dort richtigerweise eher als angestaubte Ideologie denn als zukunftsweisende Alternative verhandelt und die nebulösen Imperative der Beschleunigung werden ersetzt durch konkretere strategische Vorschläge. So wird eine "organisationale Ökologie" für die Linke gefordert, ein Ineinandergreifen von Partei, Gewerkschaft und Bewegung, wobei linken Think Tanks eine zentrale Rolle zukommen soll. Denn "ohne einen gleichzeitigen Wandel in den hegemonialen Vorstellungen der Gesellschaft werden neue Technologien stets innerhalb der Grenzen des Kapitalismus entwickelt werden und alte Technologien werden den kapitalistischen Werten verhaftet bleiben." (3)

Es bleibt also spannend, wie sich der Akzelerationismus weiter entwickeln wird, und insbesondere, ob es ihm gelingt, von einer akademischen zu einer politischen Bewegung zu werden. Schon jetzt kann er jedenfalls interessante Denkanstöße liefern, die in einer linken Debatte nicht einfach zugunsten eines grenzenlosen Technikpessimismus ignoriert werden können.


Anmerkungen

Der Soziologe Simon Schaupp ist Autor des soeben im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Buches "Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus".

(1) Nick Srnicek / Alex Williams: Inventing the Future. Postcapitalism and a World without Work, Verso Books 2015, S. 153

(2) http://akzelerationismus.de/beschleunigungsmanifest.pdf

(3) ebd.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 414, Dezember 2016, S. 18
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2016

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