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GRASWURZELREVOLUTION/1640: Losurdo widersprechen


graswurzelrevolution 416, Februar 2017
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

diskussion
Losurdo widersprechen

Eine gewaltfrei-anarchistische Auseinandersetzung mit Domenico Losurdos Buch "Gewaltlosigkeit. Eine Gegengeschichte", Argument Verlag, Hamburg 2015

von Johann Bauer


"Dogmatismus ist gerade diese Unfähigkeit, auf sich selbst die Regeln anzuwenden, die man für die anderen geltend macht." (S. 249)

Bevor wir uns mit Losurdos Kritik der Gewaltlosigkeit auseinandersetzen, eine Vorbemerkung: Wir brauchen keine persönlichen Helden, die gegen jede Kritik immunisiert werden müssen. Jeder Mensch ist von seiner Umgebung, Erziehung, seinem Lesestoff usw. geprägt, so dass es gar nicht verwunderlich ist, wenn sogar abstoßende Züge auch bei Gewaltlosen, AnarchistInnen, SozialistInnen, FeministInnen zu finden sind. Und manchmal sind wir uns gar uneinig, welche Züge das sind. Wir müssen auch nicht vergangene oder aktuelle Bewegungen kritiklos bejubeln und ihre dunklen Seiten verdrängen. Dabei lernen wir nichts, sondern machen uns selbst dumm. Wir sind nicht materiell interessiert, leben nicht von den Zinsen, die Marx' "Kapital" noch immer trägt und sind nicht Funktionäre einer Organisation. Wir sind nicht einmal Bestandteil eines "Publish or perish"-Apparats. Losurdo hat also alle Chancen uns zu überzeugen - wenn er denn überzeugt.


Woher kommen wir?

Wir haben zwar noch keine umfassende Geschichte der Gewaltlosigkeit, nun aber immerhin eine "Gegengeschichte", die zumindest ein Anstoß Sein kann, wieder einmal darüber nachzudenken, woher wir kommen und wohin wir gehen.

Der Verfasser, Präsident der internationalen Hegel-Gesellschaft, Philosophie-Professor in Urbino, ist keiner der Marxisten, die sich nach 1989 auf den jungen und humanistischen Marx oder die strenge Logik ökonomischer Ableitungen zurückgezogen hätten, den "Arbeiterbewegungsmarxismus" weit von sich weisend. Für ihn ist Kommunismus weiterhin "die wirkliche Bewegung" und er will deren Schattenseiten (Stalin!) erhellen, indem er sie historisch relativiert: Auch das Bürgertum hat zahllose Verbrechen, nicht nur in den Kolonien begangen und liberale politische Formen erst nach jahrzehntelangen erbitterten Auseinandersetzungen mit den ausgeschlossenen Klassen zugelassen. Die politischen Formen der Demokratie bilden einen Kampfplatz, es wurde mit vielen Rückschritten um rechtliche und institutionelle Garantien gerungen. Diese historische Perspektive will er auch auf den Kommunismus angewandt wissen: Dieser wird über viele Irrtümer, Katastrophen, Spaltungen erst seine Form finden. Für seine theoretische Orientierung ist dabei Gramsci wichtig, für seine praktische Deng Xiaoping (1).

Die "sozialistische Modernisierung" des in Losurdos Perspektive von Einkreisung bedrohten Chinas ist für ihn die Zukunft. In orthodox-marxistischer Manier ist Kommunismus gebunden an die "Entwicklung der Produktivkräfte".

Letztlich verharrt er auf einem Standpunkt, der in den siebziger Jahren verbreitet war, auch bei Liberalen, wonach zwar viele Details unschön waren unter Lenin, Trotzki, Stalin, aber im Ergebnis doch Russland zu einer industrialisierten Weltmacht aufgestiegen sei, die Produktivkräfte zu entwickeln setze eben oft Zwang voraus.

Ich werde den Eindruck nicht los, dass es für seine Kritik der Gewaltlosigkeit auch biographische Gründe geben kann, aber es ist auch klar, dass im Rahmen seines ideologischen Projekts der Kampf um die gewaltlosen Strömungen der Emanzipationsbewegungen einen hohen Stellenwert haben muss: Als Alternative zum staatlich-industrialistisch konzipierten "Sozialismus" sieht er sie als Gefahr, als Waffe des Imperialismus gegen "das große asiatische Land", wie er China immer nennt. Als antimilitaristische Hilfstruppe, die die Kriege des Imperiums bekämpft, könnten sie dem Marxismus-Leninismus gute Dienste tun. Wir sind also immer noch in den Siebziger Jahren; letztlich gab es diese Auseinandersetzung bereits als die War Resisters' International 1972 ein "Manifest für gewaltlose Revolution" diskutierte.

Losurdos Programm der Entmythologisierung der Gewaltlosigkeit ist ein Gang durch die Geschichte, der keineswegs widerspruchsfrei ist und vieles suggeriert, öfters gar in regelrechte Verschwörungstheorien ausmündet, wo bei den Gewaltlosen jeder Konflikt-Splitter gesucht wird, während bei den Bolschewisten die dicksten Balken des Irrsinns ausgeklammert oder verharmlost werden. Der "Partei Lenins" wird gehuldigt, in jedem Vergleich triumphiert diese über die Gewaltlosen wenn nicht die Gewaltlosen wie Hilfstruppen dieser Partei (oder sonst des Imperialismus!) vereinnahmt werden.

Losurdo behandelt durchaus Krisen und Probleme, die auch uns seit langem beschäftigen, besonders das Problem, dass im 20. Jahrhundert militarisierte Bewegungen und Kriegsideologien exzessive Gewalt mit der Begründung rechtfertigen, "die Geißel der Gewalt ein für alle Mal ausrotten zu wollen" (S. 11). Diesen Ausgangspunkt teile ich; hier entsteht die Frage nach den Alternativen.

Eher am Ende des Buches, nach vielen einseitigen Darstellungen und Auslassungen und Messen mit zweierlei Maß, kommt der für mich stärkste Teil des Buches: Losurdo unterscheidet (S. 243ff.) drei "Großerzählungen", die im 20. Jahrhundert "aufeinandergeprallt sind" und letztlich alle den "ewigen Frieden" versprachen: Liberalismus, Bolschewismus und Gewaltlosigkeit. Das finde ich durchaus bemerkenswert und eine für Marxisten ungewöhnliche Perspektive: Gewaltlosigkeit wird nicht allein als Wahl der Mittel begriffen, sondern als eine neben Liberalismus und "der Partei Lenins" auftretende eigenständige Konzeption. Und das ist richtig und darum geht es.


Nun gibt es für uns noch eine "Großerzählung", die Losurdo aber nicht anerkannt: Den Anarchismus

Natürlich hat der Anarchismus immer wieder Tendenzen gezeigt sich als eigentümlich freie Spielart des Liberalismus darzustellen, besonders nach Niederlagen sich mit temporären autonomen Zonen zufrieden zu geben und individualistischer Lebensstil sein zu wollen. Oder er hat etwa Lenins theoretisches Angebot in "Staat und Revolution" angenommen und die "Vereinigung des Proletariats im Bolschewismus" akzeptiert, ein theoretisches Angebot, das darauf zielte, die russische KP international auszudehnen; und da konnten neben den Pazifisten des Ersten Weltkriegs nur die bereits vor 1914 links von der Sozialdemokratie organisierten Gruppen der Syndikalisten und Anarchisten Zielgruppe sein. Diese waren natürlich von der russischen Revolution begeistert, hatten zunächst oft keine genauen Kenntnisse Vor allem gab es (in Deutschland etwa durch den "Genossen Thomas") reichlich materielle Unterstützung für die entsprechenden politischen Positionen, soviel historischer Materialismus war selten. Erst durch die maßgeblich Von der FAUD (Freien Arbeitet Union Deutschlands) vorbereitete Gründung einer anarchosyndikalistischen Internationale konnte dieser Prozeß aufgehalten werden. Dass es einen antiautoritären Sozialismus gibt, der im 20. Jahrhundert mehrfach in direkter Konfrontation mit dem marxistisch-leninistischen unterlegen ist, wird bei Losurdo nicht erörtert, so wenig wie die zahlreichen Ansätze einer Synthese gerade von antiautoritärem Sozialismus und Gewaltlosigkeit.

Seit dem Erscheinen von Losurdos Buch Anfang 2015 war oft die Verlagswerbung zu lesen: "Beeindruckend in seiner Materialfülle, lehrreich in seinen Verknüpfungen, bietet dieses Buch einen großen historischen Überblick." Hier sei zunächst diesem Urteil widersprochen: Es fehlen nicht nur grundlegende und weit verbreitete Bücher wie die Werke von Peter Brock und viele andere zur Geschichte der Gewaltfreiheit, ganz besonders fehlt der gesamte bedeutende Beitrag von AnarchistInnen und SyndikalistInnen und die einschlägige Literatur.(2) Namen wie Clara Wichmann, Gustav Landauer, Pierre Ramus, Fritz Oerter, Bart de Ligt, Arthur Lehning, Franz Kobler oder Olga Misar sucht man vergeblich, und damit die gesamte Tradition, die seine "Lesart" der Geschichte von Gewaltlosigkeit in Frage stellt (3).

Der Anarchismus tritt bei Losurdo gelegentlich als das auf, was als Rest noch im Marxismus zu beobachten ist und in seiner Sichtweise unbedingt überwunden werden muss: Ein utopisch-millenarischer Glaube an die sofortige Aufhebung aller Widersprüche, die aus nationalen Unterschieden, verschiedenen Sprachen und Kulturen, Stadt und Land, geographischer Lage, Arbeitsteilung usw. notwendig resultieren Die brutalen Seiten der marxistisch-leninistischen Staatenwelt reduziert er tendenziell auf solche Widersprüche bzw. die utopistische Behandlung dieser Differenzen, etwa in Russland ab 1917 oder in der chinesischen Kulturrevolution.

Phantastischen Beschreibungen des Kommunismus wie in Marx/Engels' "Deutscher Ideologie" wirft er vor, sich um die Notwendigkeiten der Produktion nicht zu scheren und allgemeinen Müßiggang und Aufhebung der Arbeitsteilung und der Notwendigkeit der Arbeit zu propagieren, was zu der falschen Kritik an jeder Rationalisierungsmaßnahme geführt habe, hier werde der Kapitalismus restauriert. Auch Bebel und Trotzki werden kritisiert, wenn sie messianische und utopische Vorstellungen eines Kommunismus entwerfen, der ohne Rechtsnormen auskommt und alle Widersprüche gelöst hat. Der Utopismus schlägt Heilmittel vor, die die Lage noch verschlimmern: "Der Marxismus verflacht so zum Anarchismus und stellt sich gewissermaßen als Religion dar."(4)

Losurdo ist für rechtliche Garantien, funktionierende Staatlichkeit mit verläßlichen Institutionen, für die Anerkennung nationaler Staaten und gegen den Führungsanspruch einzelner kommunistischer Staaten, einen abnehmenden Grad von Repression gegen kulturelle und religiöse Traditionen, gegen einen "abstrakten und aggressiven 'Internationalismus'"(5).

Dass die "kommunistischen" Staaten so lange ein ganz anderes Gesicht zeigten, geht für ihn wesentlich auf Interventionen und Embargopolitik des Imperialismus zurück: "Die Geschichte der Machtausübung unter Lenin und Stalin ist kein Kapitel, dessen sich Kommunisten vor allem schämen müßten."(6)

Wo andere "Verrat" schreien und vom "Scheitern" des Kommunismus reden, sieht er die Notwendigkeit eines Lernprozesses, der weiter voranschreitet von der Utopie zur Wissenschaft, die Reste utopischer und messianischer Konzepte überwindet.

Auch im hier besprochenen Buch:

"Obwohl sie sich auf eine gemeinsame Ideologie beriefen, sind die Länder des 'sozialistischen Lagers', in schweren Konflikten und regelrechten Kriegen aneinandergeraten" (S. 247). Und das ist nicht zufällig so: "Der Erfolg in einem großen Befreiungskampf hatte das Gefühl für die eigene staatliche, nationale und kulturelle Identität überheblicher und emphatischer werden lassen; auch daher erklären sich die Zusammenstöße zwischen Jugoslawien und der UdSSR." (S. 247). Vollständig unbegreiflich ist bei dieser lehrreichen "Materialfülle", dass ein Buch, in dem genau das: Krieg zwischen "sozialistischen" Staaten, bereits 1974 diskutiert wurde (und es wurde nicht nur in diesem Buch, sondern in unseren Gruppen diskutiert. Vor 40 Jahren!) bei Losurdo wieder fehlt: Egbert Jahns Begründung des "Zivilismus", immer noch lesenswert und in vielen Aspekten, wenn schon marxistisch, besser als Losurdo.(7)


Die Friedensgesellschaften

Seit Kants Schrift zum ewigen Frieden existiert die Hoffnung, Republiken würden sich nicht bekriegen.

Losurdo leistet in der Kritik liberaler Überzeugungen einiges: Die "Großerzählung" Wilsons, dass die allgemeine Verbreitung von Demokratie den Frieden sichere, die derzeit wirkmächtigste der drei Großerzählungen auf dem Gebiet der internationalen Politik, wird widerlegt: Natürlich führen Demokratien Kriege, auch gegeneinander, historisch haben sie die Kriege gerade intensiviert und etwa in der Verfolgung der "Indianer" exterministisch erweitert. (Übrigens: Als Bart De Ligt Gandhis Haltung zum Ersten Weltkrieg in seinen Briefen an ihn kritisierte, fürchtete er einen Krieg zwischen den USA und England. Der ganze Briefwechsel entstand aus Sorge um die industrialisierten Kriege der Zukunft und zu deren Bekämpfung.) Es war der Krieg zwischen den USA und England zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der "in den USA die Bildung der ersten Gesellschaften, die sich zur Gewaltlosigkeit bekannten und sich vornahmen, mit der individuellen Bekehrung zu einem höheren moralischen Prinzip das von der politischen Veränderung verfehlte Ziel zu erreichen" (S. 245) veranlasste. So erklärt sich Losurdos Entscheidung, die Geschichte der Gewaltlosigkeit mit diesen gegen Krieg und Sklaverei gerichteten Gesellschaften beginnen zu lassen.

Schon im ersten Kapitel über den christlichen Abolitionismus und Pazifismus in den USA wird deutlich, dass die Friedensgesellschaften einen Zusammenhang zwischen gewalttätiger Außen- und Innenpolitik hergestellt hatten, wurde doch auch die Sklaverei durch das Kriegsrecht legitimiert. Natürlich kann es zwischen den pazifistischen und abolitionistischen Zielsetzungen zu Konflikten kommen, wenn die Sklaverei mit Gewalt beseitigt werden soll. Dies wird gelegentlich von PazifistInnen als "kein Krieg", bloße "Polizeiaktion" gerechtfertigt. Aufstände und gewaltsamer Widerstand der Unterdrückten können natürlich auch mit den Zielen der pazifistischen Gesellschaften in Konflikt geraten. Wenn die überzeugten Pazifisten wie etwa William L. Garrison dann bei aller Ablehnung der Gewalt klar zum Ausdruck bringen, dass sie eher den Sklaven als den Sklavenhaltern den Sieg wünschen, macht Losurdo daraus eine Art Selbstwiderlegung der Gewaltlosigkeit (blieben sie "neutral", machte er daraus Kapitulation vor der herrschenden Gewalt). Dennoch weist er dabei auf tatsächliche Probleme hin, etwa dass es einen Übergang zur Gewaltanwendung geben kann (!), bei dem der "theologische Furor" (S. 27) oder die Selbstinstrumentalisierung als "Werkzeug Gottes" den Gottesstreiter legitimiert (wir denken hier an den Mystiker Thomas Müntzer, aber das ist nur ein Beispiel aus dem Christentum). Natürlich kann es das ebenso geben wie die Rechtfertigung von Gewaltanwendung als "kleineres Übel", bei Losurdo am Beispiel von Angelina Grimké dargestellt, die aus der Quäker-Tradition kam und das Ende der Sklaverei notfalls durch einen Krieg erhoffte. Aus meiner Sicht übertreibt Losurdo aber solche, bis heute immer wiederkehrende Konflikte, um den uns nur allzu bekannten Satz stark zu machen, es gäbe eigentlich nur die Wahl zwischen verschiedenen Formen und sozialen Trägern der Gewalt: herrschende" Gewalt oder revolutionäre Gewalt. Gewaltlosigkeit wäre demnach also nur eine (wirkmächtige) Illusion. Für "seine" Partei erkennt er, dass es gesellschaftliche Situationen gibt, die nicht vorhersehbar waren oder dass es tatsächliche Dilemma-Situationen geben kann; bei den Gewaltlosen soll damit aber "Scheitern" oder Selbstwiderlegung suggeriert werden.


Gandhi

Gandhi zu entmythologisieren gehört sicher zu den großen Ansprüchen Losurdos. Warum nur fällt mir immer dabei ein, was Marx etwa in "Über die britische Herrschaft in Indien" und ähnlichen Schriften (MEW 9, S. 133) schrieb oder welche "völkerpsychologischen" Themen sich bei den "Klassikern" finden? Über die Soziale Revolution hat er sich nicht oft geäußert, aber hier:

"Gewiß war schnödester Eigennutz die einzige Triebfeder Englands, als es eine soziale Revolution in Indien auslöste, und die Art, wie es seine Interessen durchsetzte, war stupid. Aber nicht das ist hier die Frage. Die Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewußte Werkzeug der Geschichte, indem es diese Revolution zuwege brachte."

Das kam mir immer in den Kopf, als ich bei Losurdo die Passagen über den Kolonialismus las. Gut beschreibt er die Brutalitäten. Die Frage an Hegelianer und Marxisten wäre aber, ob man diese geschichtsphilosophisch rechtfertigen kann.

Gandhis Kontakte in England zu vegetarischen und theosophischen Gruppen, die im Osten eine Alternative zur Gewalttätigkeit der Kolonialherrschaft suchen, ist in der Tat prägend. Gandhi wird als loyaler Bürger beschrieben, der immer wieder Freiwillige für die Kriege Englands wirbt, zuerst im Burenkrieg Sanitäter, dann während des Zulukrieges in Natal, dann im Ersten Weltkrieg, obwohl er sich bewusst war, dass Teilnahme am Krieg niemals mit Ahimsa vereinbar war. Er hielt es jedoch für eine Loyalitätspflicht und versprach sich - wie viele Unterdrückte und Reformgruppen in dieser Zeit -, dass durch mehr Rechte belohnt würde, wer "in der Stunde der Not" zum Empire stünde. Das alles ist lange bekannt, wurde bereits in der Weimarer Republik diskutiert (8), Gandhi musste später diese Entscheidungen oft begründen und etwa in seinem Briefwechsel mit Bart de Ligt rechtfertigen. Bei Losurdo werden Gandhis Aussagen dazu zu einer Kriegsideologie zusammengefasst: Die Freiwilligen sollen lernen, ihre Todesfurcht abzulegen, Tapferkeit, Disziplin, Männlichkeit. Zu alldem wäre viel zu sagen, der Unterstellung einer kriegerischen Männlichkeit bei Gandhi könnte zum Beispiel mit Ashis Nandy im Gegenteil eine mit den patriarchalen Werten des Kolonialismus unvereinbare Androgynität entgegengesetzt werden, weshalb die Gandhi'sche Unabhängigkeitsbewegung gerade auch mit der ersten Frauenbewegung Indiens zusammen fiel.(9)

Es stimmt aber, dass Gandhi Satyagraha oft dagegen verteidigt hat, nur aus Feigheit und als "passiver" Widerstand ausgeübt zu werden, heroische Tugenden waren ihm wichtig. Ein Krieger kann leichter gewaltlos agieren als ein Feigling. Er vertritt hier eine bestimmte Psychologie, die genauer zu behandeln wäre. Und die in der Gandhi-Literatur bekannt ist (man denke nur an den Text "Für Pazifisten", wo Gandhi die Unterschiede zwischen Satyagraha und dem westlichen Pazifismus herausstellt) und seit langem auch nicht unangefochten blieb (Bart de Ligt). Vielleicht hilft als Hinweis Gandhis Satz (CW 17, S. 159), den ich gefunden habe, als ich Losurdos Zitate überprüft habe: "Jesus hatte die Macht, seine Feinde sofort zu Staub zu verwandeln, hat aber darauf verzichtet und es vorgezogen, für sie aus Liebe ermordet zu werden." Man muss also mächtig sein, um auf Gewalt zu verzichten, aber auch die gewaltlosen Konfrontationen durchzustehen. Wir dürfen gerne anderer Meinung sein als Gandhi, aber wir sollten versuchen zu verstehen. Gandhi sprach nicht ohne Grund von seinen "Experimenten mit, der Wahrheit", er war sich vieler Probleme und Widersprüche bewusst, vor allem war er selbst von Ahimsa ebenso wie von Tolstois Lehren überzeugt, er agierte aber öffentlich als ein Führer und Sprachrohr der nationalen Bewegung, was Zwänge, Kompromisse, Rücksichtnahmen und Konflikte bedeutete, immer Kampf an zwei Fronten mindestens: Es war notwendig gegenüber den Briten eine "indische" Position zu erarbeiten (schwer genug, die Spaltungen waren real und wurden Von den Briten nach Kräften gefördert, auch Gewaltlosigkeit war zu keinem Zeitpunkt "alternativlos", selbst wenn das viele Leute heute glauben, die eine einheitliche Bewegung zu sehen meinen). Innerhalb und gegen die nationale Bewegung mussten die Reformprogramme und Gewaltlosigkeit durchgesetzt werden. Würde Losurdo nicht mit zweierlei Maß messen, so sollte er für diese Problematik das größte Verständnis haben.

Eine "Entlarvungs"-Strategie geht bei Gandhi schon deshalb fehl, weil er ein öffentliches Leben führte, in mancher Hinsicht "laut dachte", bereit war, sich zu korrigieren, wenn ihn bessere Argumente überzeugten, Fehler sogar eher aus didaktischen Gründen hervorhob (auch in der "Autobiographie", die ja nicht als Buch geschrieben wurde, sondern entstand als Fortsetzungs-Serie für Navajivan).


Ein Ohrwurm

Hermeneutik ersetzt Losurdo durch das penetrante Herumreiten auf Gandhis Selbstbezichtigung als "Hauptrekrutierer" für das Empire, immer wieder wird diese Melodie angespielt, ein wahrer Ohrwurm - und falsch. Bei Fanon würde man solche Ansätze als Befreiungsversuch aus der unterwürfigen Psyche der Kolonisierten behandeln, bei Gandhi ist es natürlich - sogar wo Losurdo ihn versteht - Anpassung an die imperialistische Ideologie: "In der damaligen kolonialen Ideologie wurden die unterworfenen Völker, die farbigen Völker, für unfähig gehalten, sich selbständig staatlich zu organisieren, und zusätzlich als ängstlich und feige rassisiert" (S. 45). Genau deshalb und weil ja viele Inder an Gewaltlosigkeit nicht glaubten, sollten sie die Fähigkeiten zur Gewaltanwendung lernen - um sich schließlich dagegen zu entscheiden. Auch wenn uns das als Pazifisten nicht gefällt gibt es ja solche historischen Erfahrungen: Die schwarzen Soldaten der US-Armee, die vielfältigen Diskriminierungen unterlagen, erlebten plötzlich 1945 im besetzten Deutschland ihre Macht, nicht wenige schlossen sich später der Bürgerrechtsbewegung an und gehörten zu deren Kadern: ("Wer gegen die Nazis gekämpft hatte, ließ sich daheim weniger bieten".(10)

Häufig sind bei Losurdo auch Diffamierungen um drei Ecken, die mit leichter Distanzierung kolportiert werden: "Vielleicht ist es übertrieben zu behaupten, dass der junge Gandhi als ein 'wenn auch liberaler Befürworter der Rassentrennung', letztlich als 'Vorläufer der Apartheid' auftrat. Tatsache bleibt, dass er keineswegs die Rassenpyramide infrage stellen wollte, sondern lediglich gegen die Einordnung seines Volkes auf einem niedrigen Niveau zu protestieren gedachte." (S. 45)

Bei Gandhi existiert, wie bei allen Unterdrückten zuerst, tatsächlich der Wille, kooptiert zu werden. Erst wenn der Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit oft genug enttäuscht wurde, kommt es zum Bruch. Außerdem vollziehen Bewusstseinsprozesse sich nicht mit linearer Konsequenz, sondern in Sprüngen und unter manchmal merkwürdigen Bewegungen: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritt zurück. Zumal, wenn wie im Falle Gandhis auch Losurdo den späteren Gandhi anders beurteilt, kann das kaum für zusammenfassende Urteile wie das folgende genügen: "Es fehlt nicht nur ein Plan für die allgemeine Emanzipation, sondern auch jede Kritik an der kolonialen Herrschaft und der Gewalt schlechthin" (S. 47). Absurd!


Ist ganz Indien gewaltlos?

Sicherlich gibt es in Gandhis Schriften und Reden Passagen, die die indische Kultur wegen ihrer Gewaltlosigkeit als überlegen und überlebend beschreiben, vor der Verwestlichung warnen - und daneben Reden und Schriften, die gerade die gewalttätigen Züge Indiens benennen oder aber auch positiv an Krieger-Traditionen anschließen sollen, je nach Kontext. Losurdos Schrift beschreibt auch zutreffend die Tendenz unterdrückter Gruppen, sich als moralisch überlegen und Träger einer besseren Kultur darzustellen, unterstellt dabei aber, dass diese auch von uns längst beobachtete Tendenz eine angeblich behauptete absolute Originalität der indischen Bewegung widerlegt (S. 55). Gandhis scheinbare Widersprüchlichkeit löst sich auf, wenn man einen Satz sagt, den er auch gesagt hat: Indien hat eine ungebrochene Tradition der Gewaltlosigkeit, aber niemals ist das ganze Land tatsächlich gewaltlos gewesen. So what?


Tolstoi-Gandhi: Verbindung oder Gegensatz?

Um die gut belegte Verbindung Tolstoi-Gandhi zu attackieren, kommt Losurdo sogar zu diesem grotesken Gegensatz der beiden: "das Modell des jungen Gandhi ist das mächtige britische imperiale "Heer; das Modell des Autors von 'Krieg und Frieden' sind die Partisanenabteilungen der Bauern." (S. 56). Tolstoi wird übrigens von Losurdo überraschend positiv als Kritiker des Militarismus gewürdigt. Die Verbindung Gandhis zu Tolstoi war aber nicht mit dem Autor von "Krieg und Frieden", sondern mit dem Autor von "Das Königreich Gottes ist in Euch" oder anderer sozialkritischer und religiöser Schriften entstanden.

Für Losurdo ist der Unterschied zwischen Gandhi und der sozialistischen Bewegung, deren politische Kämpfe normalerweise unbewaffnet geführt werden, gerade der, dass die Sozialisten den Krieg als Verrohung kritisierten, während ihn "zumindest der frühe Gandhi als ein wesentliches Moment der Formung der Persönlichkeit und des männlichen Reifungsprozesses ansah" (S. 63). Bei Gandhi sei im Unterschied zu den europäischen Sozialisten kein antimilitaristisches Engagement feststellbar, möglicherweise wegen seines Abstands zu den Zentren des Wettrüstens. Oder weil der Militarismus mit dem Industrialismus eine unauflösliche Einheit bildet und deshalb nicht besonders behandelt wird (S. 64).

Losurdo kritisiert Georges Sorel für dessen "Verherrlichung der Gewalt" (S. 79), verschweigt aber, dass dessen Ausgangspunkt gerade die "Krise des Marxismus" war, er sich angesichts einer nicht mehr heroischen Bourgeoisie um die ausbleibende Entwicklung der Produktivkräfte als Voraussetzung des Sozialismus (genau Losurdos Thema) sorgte und Ende seines Lebens nicht nur Mussolini, sondern mehr noch Lenin lobte. Viele SozialistInnen kritisierten den Krieg keineswegs als "Verrohung". Sie redeten von ihren Versammlungen als "Heerschau", kannten "Parteisoldaten" usw.

Es ließe sich genau umgekehrt behaupten, dass es viel zu viele Prägungen und Niederschläge des Militärs im Sozialismus gab.


Aber Lenin!

Nachdem Gandhi ins Zwielicht verbracht wurde, muss wo viel Schatten ist auch Licht sein: natürlich die Bolschewiki (und ehrlich: Während des Weltkriegs sind sie mir sympathischer als nach der Revolution). Der folgende Passus befasst sich also mit demjenigen Teil des Buches, der dank des Vorabdrucks in der "jungen Welt" (11) eine enorme Netz-Karriere erlebte, gerade deshalb soll hier etwas genauer die Quellenlage angesehen werden.

Gegen Kautsky und Plechanow gerichtet beschreibt Lenin, dass sogar "kleinbürgerliche christliche Demokraten", "gottgläubige Philister" nicht so chauvinistisch und opportunistisch sind wie Sozialdemokraten. Besonders hatte es Lenin ein Text angetan, in dem es heißt: "(...) wenn der Bruder den Bruder im Waffenrock erkennt, könnte noch sehr Unerwartetes eintreten, könnten sich die Waffen gegen die Kriegshetzer wenden, könnten die plötzlich einig gewordenen Völker den aufgezwungenen Hass vergessen" (Lenin zit. nach Losurdo, S. 85).

Der "akribisch recherchierende" (so die Werbung auf dem Buchumschlag) Losurdo nimmt es gerne auf. In dem Kapitel über Gandhi und die Bolschewiki bejaht er - wie wir - zunächst die Verbrüderung der Krieger/Arbeitenden an den Fronten zu Weihnachten 1914.

Schauen wir uns seine Quellen etwas genauer an. Auf Seite 84 behauptet Losurdo: "Zur Bestätigung seiner Analyse zitiert Lenin ungekürzt die Erklärung Züricher christlicher Kreise." Von "ungekürzt" kann keine Rede sein, und wer sind eigentlich diese Christen genau?

Was da bei Lenin ("Werke", Bd. 21, S. 82) als "Gesellschaft biederer Pfäfflein" diffamiert wird und Losurdo offenbar nicht weiter interessiert, ist die Zeitschrift "Neue Wege" (12), herausgegeben von den religiösen Sozialisten um Leonhard Ragaz, später ein wichtiges Zentrum der Gandhi-Rezeption im Europa der Zwischenkriegszeit, beeinflusst von Anarchisten wie Gustav Landauer. Fritz Oerter hatte Verbindungen zu der Gruppe. Verfasser des zitierten Textes ist Ulrich Wilhelm Zürcher, der u.a. mit Fritz Brupbacher und Max Tobler die sozialistische Zeitschrift "Polis" herausgegeben hatte (gut möglich, dass Lenin das bekannt war, soviel zur sozialistischen Ethik, aber ihm war ja jeder "Pfaffe", der nicht Marxpfaffe war).

Wer den Artikel "Züricher christlicher Kreise" liest, findet darin manches, was Losurdo (und Lenin) bekämpf(t)en: Der Erste Weltkrieg wird als Zivilisationsbruch erfahren, der über das innere Wesen einer scharf kritisierten materialistischen "Pyrotechnikzivilisation" Auskunft gibt. In Zürchers Furor für Kultur und "geistige Werte" kommt auch der Satz vor als hätte er geahnt, dass 100 Jahre später ihn ein Gramsci-Jünger lesen (vielmehr nicht lesen!) würde: "Um die Hegemonie kämpfen auch die Neger in Afrika, selbst die Bestien des Urwalds", (aus heutiger Sicht rassistisch, aber wie oft habe ich gestaunt, was Sozialisten und Freidenker in ihrem evolutionistischen Wahn schreiben). Nach dem positiven Bezug auf Buddha und Christus (also die Lehrer der "Achsenzeit") folgt die Spekulation, vielleicht sei das Leben auf dem "irren traurigen Erdenstern" nur ein "Übergangsstadium" (so wie später der "real existierende" Sozialismus?), während in "unbekannten Welträumen" noch Aufgaben für die Menschen warteten.

Kurz vor dem bei Lenin wie Losurdo so beliebten Zitat gewinnt Zürcher dem Krieg doch noch eine positive Aussicht ab: "(...) dass das blutige Russland (...) niedergerungen wird, dass fremde Waffengewalt und die siegreiche Revolution im Innern den Zar und seine Großfürsten wegfegen werden. Ein solches Resultat könnte einen fast mit dem Weltenunglück versöhnen, wenn nicht eben alles andere noch wäre." Der Artikel preist noch die Schweiz als mögliche Zukunft eines sozialen und republikanischen Europas und schließt mit der Hoffnung, dass "mit den Waffen des Geistes" (S. 353) gekämpft werde.

Losurdo bestreitet, dass die Differenz zwischen Gandhi und Lenin die Gewaltfrage ist, was man nur grotesk nennen kann, wenn man das Vorgehen beider vergleicht. Die "Dichotomie Kooptation/Emanzipation" sei entscheidend, Gandhi wollte "auf Kosten anderer", so Losurdo, "die rassische Pyramide als solche und die ihr innewohnende Logik von Ausschluß und Diskriminierung nicht infrage" (S. 87) stellen. Erst die Oktoberrevolution 1917 und die kommunistische Agitation in den Kolonien sowie das Massaker von Amritsar 1919 veranlassten ihn nach Losurdos Darstellung, seine Haltung zu verändern, hin zu einer universalistischen Konzeption der Gleichheit aller Menschen (S. 90).

Die antikoloniale Revolution in Asien wird nun von den Parteien Gandhis und Lenins angeführt. Gewaltlosigkeit wird als "begrenzte Nötigung" (Losurdo verwischt die Grenzen zur Gewalt und schreibt das den Aktionen selbst zu) und als "Technik, um moralische Empörung hervorzurufen" (S. 95ff.) beschrieben. Der "militante utopische Pazifismus" (wie Egbert Jahn das S. 134 in seinem Buch genannt hat) sucht die Konfrontation Unbewaffneter mit der Staatsgewalt, die das eigene Lager "zusammenschweißen und moralisch stärken", "das gegnerische Lager in Misskredit bringen, isolieren, zersetzen und in die Krise stürzen soll" (Losurdo, S. 97). Das ist für Losurdo die entscheidende Erfindung Gandhis.

Losurdo diskutiert einige Aspekte, die tatsächlich in der Gandhi-Begeisterung neuer sozialer Bewegungen sonst kaum eine Rolle spielten: Wie gehen soziale Bewegungen damit um, dass der Kampf große Opfer fordern kann, wie gehen sie mit dem Tod um? Ich glaube, er hat recht mit der Beschreibung: "In der Partei Lenins wird die Opferbereitschaft von der Überzeugung befeuert, in Übereinstimmung mit dem unaufhaltsamen Lauf der Geschichte zu handeln; in der Partei Gandhis von der Überzeugung, göttlichen Beistand zu genießen" (S. 100). Offene Fragen für AgnostikerInnen: Erzeugt der Kampf den Glauben, und sei es den an den Lauf der Geschichte, weil er sonst nicht auszuhalten ist?

Losurdo sind Aspekte selbstverständlich, die für uns vom anarchistischen Standpunkt gerade" hochproblematisch und der Emanzipation gefährlich sind: "Parteien, deren Aktivisten Verfolgung und Tod herausfordern sollen, brauchen eine unerschütterliche und energische Führung" (S. 103).

Demokratischer Zentralismus oder religiöses Charisma sind die angebotenen Alternativen. In der antikolonialen Perspektive nähern sich für Losurdo die Parteien Lenins und Gandhis an (dazu könnte man wieder die kritischen Positionen Bart de Ligts heranziehen), der große Unterschied bleibt Gandhis Kritik der Industriegesellschaft, seine Kultur der Anspruchslosigkeit und der Askese.

"Im Gegensatz zu den geläufigen Mythen ist also die Partei Lenins viel 'westlicher' als die Partei Gandhis" (S. 109; Losurdo favorisiert Nehru, den Brahmanen mit salonbolschewistischen Neigungen). Aber wessen geläufige Mythen sind das?

Das Interesse an Gandhi dürfte sich in Wirklichkeit seit Jahrzehnten gerade aus der Ablehnung des westlichen wie stalinistischen Industrialisierungsweges nähren. Es ist gerade die antibürokratische Kritik der "Megamaschine", die eine gandhianische Alternative attraktiv findet.


Der nächste Teil dieser Auseinandersetzung mit Losurdo erscheint in einer der kommenden Ausgaben der GWR und betrifft u.a. Losurdos Kritik an Martin Luther King und weiteren weltweiten gewaltlosen Bewegungen.


Anmerkungen:

(1) Was Gramsci von den AnarchistInnen gelernt hat, will ich hier nicht diskutieren, aber ob es genügt, mit folgender Argumentation China auf dem Weg zum Kommunismus zu wähnen ist doch sehr fragwürdig: "Die Macht hat weiterhin die Kommunistische Partei inne, die in ihrem Statut und in ihren Dokumenten erklärt, sich am Marxismus-Leninismus zu orientieren und auf dem Weg zum Sozialismus und zum Kommunismus vorangehen zu wollen." Oder schlägt hier der dialektische Materialismus in reinsten Idealismus um, gar in pure Schriftgläubigkeit? (Zitat aus: Losurdo, Domenico: Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute. Essen 2009, S. 180)

(2) In Kürze erscheint im Buchverlag Graswurzelrevolution eine einführende Geschichte von Sebastian Kalicha: Gewaltfreier Anarchismus und anarchistischer Pazifismus. Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung. Eine interessante Frage ist, warum Losurdos Darstellung nach den amerikanischen und französischen Revolutionen beginnt. Natürlich kann man das vertreten. Es wäre aber ebenso gut begründbar, eine in ihrer Materialfülle beeindruckende und lehrreiche Geschichte der Gewaltfreiheit schon mit der "Achsenzeit" beginnen zu lassen, mit den Jaina und Buddhisten, den Taoisten, den frühen Christen. Warum nicht die Franziskaner, die "Wiedertäufer", die böhmischen Brüder, die vielen gewaltkritischen Bewegungen der frühen Neuzeit einschließen in eine solche Darstellung? Oder man könnte mit Etienne de la Boetie die Befreiung von freiwilliger Knechtschaft begründen, die Gehorsamsverweigerung. Andererseits: Es sind über Gewaltlosigkeit, Sozialismus, Anarchismus schon viele Bücher auf einer weit schmaleren Materielbasis veröffentlicht werden.

(3) Besonders Gernot Jochheim: Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und soziale Verteidigung. Zur Entwicklung der Gewaltfreiheitstheorie der europäischen antimilitaristischen und sozialistischen Bewegung 1890-1940, unter besonderer Berücksichtigung der der Niederlande 1890-1940, Assen/Amsterdam/Frankfurt/M. 1977.

(4) Losurdo, Domenico: Flucht aus der Geschichte? S. 101

(5) Losurdo, Domenico: Flucht aus der Geschichte? S. 48

(6) Losurdo, Domenico: Flucht aus der Geschichte? S. 38

(7) Egbert Jahn: Kommunismus - und was dann? Zur Bürokratisierung und Militarisierung des Systems der Nationalstaaten, Reinbek 1974.

(8) Beate Jahns Dissertation: Politik und Moral: Gandhi als Herausforderung für die Weimarer Republik. Kassel 1991 wäre noch zu ergänzen. Gandhis Werke sind im Netz: www.gandhiserve.org/e/cmwg/cmwg.htm. Die Fragen, ob es berechtigt war, in den Kriegen des Empire Rekrutierungskampagnen zu unternehmen, sind etwa auch in Mahatma Gandhi: Für Pazifisten, Münster 1996, S. 42ff. und vielen anderen Stellen behandelt. Für uns wichtig: Bartolf, Christian (Hg.): Der Atem meines Lebens. Der Dialog von Mahatma Gandhi (Indien) und Bart de Ligt (Niederlande) über Krieg und Frieden. Berlin: Gandhi-Informations-Zentrum, 2000. Die Einleitung von Christian Bartolf ist englisch. Leicht im Internet aufzufinden, sie stützt sich auf den Aufsatz von Peter Brock: Gandhi's Nonviolance and his war service in: Gandhi Marg 23.1981,2 S. 601-616, ebenso erschienen in: Peace & change 7.1981, 1/2, S. 71-84

(9) Vgl. Ashis Nandy: Der Intimfeind. Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus. Mit einer Einleitung: Zur Rezeption von M.K. Gandhis libertärem Anti-Kolonialismus, Nettersheim 2008.

(10) www.sueddeutsche.de/politik/schwarze-us-soldaten-im-zweiten-weltkrieg-apartheid-in-uniform-1.2302949-2
Der Dokumentarfilm "Wir konnten überall hingehen" zeigt die kognitiven Dissonanzen der rassistisch unterdrückten Sieger-Soldaten sehr anschaulich.

(11) Vgl. www.jungewelt.de/2015/01-03/020.php

(12) Vgl. Neue Wege 8 (1914), 9, S. 345ff. Später wurde durch Vermittlung von Shingo Shibata noch einmal der Leserkreis der "Neuen Wege" darauf hingewiesen, dass auch Lenin einst die Zeitschrift gelesen hatte; vgl. Neue Wege 60/1966), 1, S. 16ff.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 46. Jahrgang, Nr. 416, Februar 2017, S. 20 - 22
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2017

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