Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GRASWURZELREVOLUTION/1813: Stichworte zum Postanarchismus - Konsum


graswurzelrevolution Nr. 433, November 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Konsum
Mehr Moral, mehr Politik. Stichworte zum Postanarchismus 8

von Oskar Lubin


Auf der Interrail-Rückreise landeten wir von Athen und Belgrad kommend an einem österreichischen See. Auf unserer Tour hatten wir auch eine Aussteigerkommune auf einer griechischen Insel besucht. Vor der Rückkehr in den Alltag und dem Beginn unseres nachschulischen Zeitalters überlegten wir, was wir selbst tun könnten, um unserem Unmut über den gesellschaftlichen Status Quo Ausdruck zu verleihen.


Irgendwie, irgendwo musste man doch anfangen. Griechenland kam nicht in Frage (zu weit, zu heiß, zu eskapistisch). Der Fleischkonsum in den westlichen Industrieländern trug wegen der Verfütterung des Getreides an Tiere zum Verhungern von Menschen bei. Bei der Herstellung von Weißblechdosen werden enorme Mengen Wasser verschwendet. Solche Sachen wussten wir. Unsere Schlafsäcke hatten wir auf einem Spielplatz an der Uferpromenade ausgerollt und beschlossen, ab jetzt kein Fleisch mehr zu essen und kein Bier oder sonstwas mehr aus Dosen zu trinken. Das war 1990. Seitdem habe ich kein Stück Fleisch oder Fisch mehr gegessen und das Dosenbier selbst abgelehnt, als ich bei einem Punkkonzert deshalb als Snob beschimpft wurde. Aber hat das überhaupt was gebracht? Konsumverzicht oder bewusster Konsum ist ein umstrittenes Thema in der Linken.

Dass der Konsum nicht nur Segen für die die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern auch Fluch ist, mit dem Ausbeutung anderswo ausgeweitet und Herrschaft subtiler ausgeübt wird, wurde spätestens um 1968 ein zentraler Topos der Linken.

Der Philosoph Herbert Marcuse, einer der wichtigen Bezugspersonen für die Studierendenbewegung, hatte schon 1964 in "Der eindimensionale Mensch" geschrieben, die Gesellschaften der Gegenwart zeichneten sich dadurch aus, dass die "sozialen Kontrollen das überwiegende Bedürfnis nach Produktion und Konsumtion von unnützen Dingen"(1) erzwingen. Konsumzwang! Er wurde bekämpft und in der Kunst der Pop Art ironisiert. KünstlerInnen beklagten selbst im Schwellenland Mexiko, dessen Konsumniveau kaum mit dem in Westeuropa und Nordamerika zu vergleichen war, die Abhängigkeit der Kunstschaffenden in der Konsumgesellschaft ("sociedad de consumo") von ökonomischen Werten im doppelten Wortsinne.(2) So hieß es 1971 in einer Erklärung des unabhängigen Zusammenschlusses "Salon Independiente". Zuletzt hatte der Soziologe Zygmunt Bauman in "Leben als Konsum" die sozialen Folgen des Massenkonsums kritisiert: Verschwendung, Exklusion und zunehmende Ausbeutung. Und durch die Kurzlebigkeit von konsumorientierter Bedürfnisbefriedigung auch Unsicherheit und Unplanbarkeit. Am Herrschaftscharakter des Konsums ließ auch Bauman keinen Zweifel, die Menschen würden in der Konsumgesellschaft "von Geburt an und ihr Leben lang, gedrillt."(3)

Wie aber ist nun aus radikaler linker Sicht auf die Konsumgesellschaft zu reagieren? In den Antworten auf diese Frage lassen sich im Wesentlichen zwei Fraktionen unterscheiden. Ich nenne sie - etwas polemisch zugespitzt - die leninistische auf der einen und die goldmanistische auf der anderen Seite.

Auf der einen Seite wird der ganze bewusste Konsum für sinnlos und letztlich sogar - apropos Snob - für bürgerlichen Firlefanz gehalten, den man sich auch erst mal leisten können muss. Leninistisch sind solche Positionen insofern, als sie jedes auf emanzipatorische Veränderung abzielende Handeln im Hier und Jetzt für überflüssig und nur die linke Eroberung der Staatsmacht für die Lösung des Problems halten. Dann nämlich lassen sich politische Regulierungen durchsetzen, die die Wasser- und Nahrungsmittelverschwendung und damit auch den Hunger beenden.

Eine solche leninistische Argumentation vertritt gegenwärtig etwa Luise Meier in ihrer ansonsten ganz undogmatischen "MRX-Maschine". Zum bewussten Konsum schreibt sie in ihrem Manifest zum Beispiel: "Das Problem der Kinderarbeit wird nicht gelöst, wenn die verantwortungsbewusste Konsumentin keine Nike-Schuhe trägt, wenn einzelne Fabriken keine Kinder mehr anstellen, sondern wenn Kinder keine Arbeit mehr brauchen, um zu überleben."(4) Tragt also ruhig die Nike-Schuhe, ließe sich schließen, nur die Revolution kann die Kinderarbeit beenden.

Auf der anderen Seite wird, wie von Emma Goldman (1869-1940), die Ansicht vertreten, dass zur Verwirklichung eines "freien Kommunismus" auch individuelles Tun und persönliche Integrität entscheidend sind. Es könne keine politische Freiheit durchgesetzt werden, schrieb die Anarchistin Goldman, "solange das persönliche Verhalten maßgeblich von Geldgier und finanziellen Überlegungen bestimmt ist".(5) Es muss im Kampf um eine gerechte Gesellschaft daher immer auch am Handeln einzelner angesetzt werden.

Aktuell wird diese Herangehensweise etwa von den VertreterInnen des Konzepts der "imperialen Lebensweise" vertreten (vgl. GWR 422). Das Konsumniveau und der Ressourcenverbrauch in den westlichen Industriestaaten werden als "imperial" verstanden, weil sie sich ständig gewaltsam ausweiten. Und von einer "Lebensweise" wird gesprochen, weil nicht nur ökonomische Mechanismen, sondern Praktiken gemeint sind, die alle Bereiche des Lebens prägen - vom Fleischkonsum über Urlaubsflüge und die permanente Autonutzung bis zum Tragen des Nike-Schuhs. "Echter Wandel fängt auch bei uns selbst an", heißt es programmatisch in einer Broschüre, beispielsweise "indem Menschen einer solidarischen Landwirtschaftsinitiative beitreten, öfter das Fahrrad statt das Auto nutzen oder ihr defektes Smartphone reparieren lassen, statt gleich ein neues zu kaufen".(6) Oder eben keine Nike-Schuhe tragen, weil für deren Herstellung Kinder arbeiten müssen. Vor dem Nike-Store denkt man sich dann: Ob ich jetzt ein Paar dieser Abertausenden von Schuhen kaufe ist ja so was von Wurscht. Sicher, ein einzelner Verzicht verändert globale Produktionsverhältnisse nicht. Und doch braucht es die Verweigerung und das Nicht-Mitmachen, um Veränderungsprozesse überhaupt auslösen zu können. Es braucht das tätige Bewusstsein darüber, dass unsere Klamotten, unsere Telefone, unsere Kühlschränke und die 500 Sneakers von Jerome Boateng andere Leute systematisch ins Elend stürzen. Ohne dieses Bewusstsein von unten wird sich auch keine Kampagne aufbauen und letztlich auch keine Regulierung durchsetzen lassen. Die Konsumgesellschaft wird damit nicht gleich aus den Angeln gehoben und der Warenfetischismus kaum durchkreuzt. Aber es ist eben ein Anfang.

Und es gibt Effekte auch vor der Revolution: Dass ich zapatistischen Kaffee trinke und alle meine Freundinnen und Freunde dazu einlade, es auch zu tun, ist die Voraussetzung dafür, dass das faire und ökologische Produkt überhaupt vertrieben werden kann. Und jedes fair produzierte Paar Schuhe ist besser als eines von Nike. Das schließt Regulierungen gar nicht aus - Kerosin besteuern, Tierfabriken verbieten etc. -, aber auch die müssen letztlich von unten durchgesetzt werden. Maßnahmen von oben und Druck von unten einander als Alternativen gegenüberzustellen, ist da wenig hilfreich. Insofern ist auch die Parole "Weniger Moral, mehr Politik!"(7), die kürzlich von Bernd Ulrich in der ZEIT ausgerufen wurde, irreführend. Angesichts einer gegenwärtigen "Übermacht des Moralischen" forderte der liberale Meinungsmacher und einstige GWR-Redakteur Ulrich mehr Verbote und gesetzgeberische Maßnahmen und weniger moralisierende Reden. Irreführend ist diese Gegenüberstellung deshalb, weil die Moral als Anspruch an gutes Verhalten und die Politik, selbst wenn man sie eng definiert und als institutionalisierte Regulierung beschreibt, nicht unabhängig voneinander existieren. Politik fängt schließlich nicht erst im Parlament an, sondern eben im Alltag - und damit auch bei Fragen moralischen Handelns. In den frühen 1990er Jahren mussten wir manchmal aus Restaurants wieder rausgehen, weil es nichts Vegetarisches gab ("Nein, da ist kein Fleisch im Salat, nur Schinken!"). Wir nahmen für unsere neue Lebensweise - zugegeben sehr kleine - Einschränkungen hin. An größere werden wir uns gewöhnen müssen, wenn die Klimakatastrophe und die Ausweitung der globalen sozialen Ungleichheit noch aufgehalten werden sollen. Und das sollen sie.

<5>
Anmerkungen:

(1) Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft [1964] Berlin und Neuwied: Sammlung Luchterhand 1971, S. 27.

(2) Salon Independiente: "El Salón Independiente Se Disolvio Definitivamente Anteayer" ("Der Salon Independiente hat sich vorgestern definitiv aufgelöst"), ohne Datum [1971], Auflösungserklärung des Salon Independiente, in: Alberto Híjar Serrano (Hg.): Frentes, Coaliciones y Talleres. Grupos Visuales en México en el Siglo XX. México D.F.: Centro Cultural S.A. 2007, S. 191-193, hier S. 192.

(3) Zygmunt Bauman: Leben als Konsum. Hamburg: Hamburger Edition 2009, S. 134.

(4) Luise Meier: MRX-Maschine. Berlin: Matthes & Seitz 2018, S. 41.

(5) Emma Goldman: "Was ich denke." [1908] In: Dies.: Anarchismus und andere Essays. Münster: Unrast Verlag 2013, S. 17-35, hier S. 20.

(6) I.L.A. Kollektiv: Auf Kosten Anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert. München: oekom Verlag 2017, S. 90/91.

(7) Bernd Ulrich: "Weniger Moral, mehr Politik!" In: Die Zeit, 6. September 2018, S. 4.

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 433, November 2018, S. 20
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang