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GRASWURZELREVOLUTION/1924: Stichworte zum Postanarchismus - Erinnerung


graswurzelrevolution 443, November 2019
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Erinnerung
Melancholisch und antikapitalistisch Stichworte zum Postanarchismus 16

von Oskar Lubin (für MB)


Ein nebliger Novembersamstag, lange Öffnungszeiten, plastikbetütete Massen auf dem Weg die Fußgängerzonen rauf und runter. In der Mitte der Kettwiger Straße in Essen eine Gruppe von Leuten in Aktion. Einer sitzt auf einem kleinen Stuhl und kritzelt kopierte Wahlzettel mit Wachsmalstiften voll, die Beliebigkeit der repräsentativen Stimmabgabe karikierend.

Ein anderer tapst mit zugeklebter Brille durch die Einkaufsmenschen und will wohl ihre politische Blindheit spiegeln. Ein dritter steht auf einem Podest und hält eine Rede, er mimt den Vertreter der Kapitalistischen Einheitspartei Deutschlands (KED), wettert gegen die sogenannte Wiedervereinigung und preist die freien Assoziationen. Dass alles sich nur noch ums Geld drehen würde, affimiert er und wirft handweise Pfennige in die Menge. Ein paar Kinder sammeln sich begeistert um das Happening und das Kleingeld ein.

Wir schreiben das Jahr 1990. Die Gruppe bestand aus ein paar unabhängigen Anarchist*innen und den Mitglieder*innen der FAU-Ortsgruppe, die Bundestagswahl stand kurz bevor. Die Mauer war im Jahr zuvor gefallen und schon vergessen war, dass eine nicht irrelevante Menge an Menschen im November '89 nicht auf dem Berliner Kurfürstendamm Bananen und Kaffee aus Supermarktlastwagen entgegen genommen hatte, sondern für zwei gleichberechtigte Deutschlands eingetreten war.

Dass die "Niederlage von 1989",(1) die der Historiker Enzo Traverso zum Ausgangspunkt seines Buches über "Linke Melancholie" nimmt, auch unsere Niederlage war, empfanden und begriffen wir damals noch nicht. Ein Staatssystem, das seine Bürgerinnen und Bürger bespitzelte und kollektiv einsperrte war untergegangen, das war nur zu begrüßen und unsere Vision von Freiheit und Gerechtigkeit schien davon völlig unberührt. Aber wie sich zeigen sollte, war mit dem Zusammenbruch des "Realsozialismus" auch jede andere Idee von Kommunismus, auch die libertäre, nachhaltig beschädigt. Das ist bitter und traurig.

Wir müssen immer auch gegen das Vergessenmachen der Erinnerung durch die Geschichte kämpfen.

Traverso plädiert in seinem Buch für die Integration der Melancholie in die Kultur der Linken. Für eine Anerkennung des Scheiterns und der Niederlage, die auch Kraft und Hoffnung spenden kann. Und eigentlich müssten wir Anarchist*innen die ausgezeichneten Expert*innen für eine solche Integration sein, kennen wir doch mehr noch als andere Linke gescheiterte und unvollendete Projekte, niedergeschlagene und abgebrochene Experimente.

Dass die Trauerarbeit aber wenig konzeptualisiert wurde, liegt vermutlich daran, dass in den meisten Strömungen des Anarchismus die Trennung zwischen Geschichte und Erinnerung geteilt wurde, die auch den Marxismus geprägt hat. Erinnerung gilt als subjektive Vergegenwärtigung, als sporadisch und selektiv, als sprunghaft und spontan.

Die Geschichte hingegen wurde als Fundus einer objektiven, zielgerichteten Entwicklung aufgefasst, faktenbasiert und geradlinig, im Zweifelsfall gar anrufbar wie ein über allem stehender Gott ("Die Geschichte wird uns Recht geben"). Auch wenn jede Erinnerung Teil der Geschichte ist, ein besonderer Einfluss auf sie wurde dem Erinnern selten zugestanden.

Zum 70. Todestag von Gustav Landauer erschienen 1989 auch gesammelte Aufsätze des Anarchisten unter dem Titel "Auch die Vergangenheit ist Zukunft". Landauer meinte, die "Erkenntnis der Gebundenheit an unwürdige Zustände war schon der erste Schritt zur Befreiung aus diesen Zuständen".(2)

Das Vergangene lebt als kollektive Geschichte in uns fort, unser Zugriff darauf ist individuell. Wir können uns nur selbst erinnern. Und wissen können wir natürlich von Vergangenem, aber das ist etwas anderes. Wenn wir eine freie und gerechte Zukunft gestalten wollen, müssen wir auch unsere Erinnerungen nicht nur wachrufen, sondern bearbeiten, das heißt in Beziehung setzen zu dem, was war und woran wir gerade nicht beteiligt waren (was ja das meiste ist). Ich bin mir nicht sicher, ob Landauer das so meinte, aber ich las es so und war angetan.

Eine postsozialistische oder postanarchistische Haltung zu Geschichte und Erinnerung darf also nicht einfach die Geschichte als totalitäres Fortschrittskonstrukt verwerfen und stattdessen das Erinnern als selbstbestimmtes Patchwork von Vergegenwärtigungen feiern.

Es geht nicht darum, die kollektive Geschichte zugunsten subjektiver Erinnerungen geringzuschätzen oder auflösen zu wollen, sondern die "klassische Dichotomie"(3) zwischen beiden nicht immer wieder zu bestätigen. Das kleine Erinnern muss betont, hervorgeholt, gepriesen und eingespeist werden in die große historische Erzählung (wie etwa jene der sogenannten "Wiedervereinigung").

Diese Mikrogeschichte ist nicht wegen der konkreten Performance in der Essener Innenstadt wichtig, sondern um das Gegengedachte, das Andere, das Flüchtige nicht zu verlieren. Denn wir müssen immer auch gegen das Vergessenmachen der Erinnerung durch die Geschichte kämpfen.

Im Mai 1990 wurden wir auf der Autobahn vor Frankfurt am Main von Polizisten mit Maschinenpistolen kontrolliert. So hatten wir uns den Deutschen Herbst vorgestellt, aber es war ein deutscher Frühling und wir waren auf dem Weg zur "Nie wieder Deutschland"-Demo. Unter diesem Motto demonstrierten am 12. Mai 1990 rund 20.000 Menschen gegen das Erstarken des Nationalismus. Eine Demonstration der radikalen Linken vor der Spaltung in Antiimps und Antideutsche, an der auch viele Mitglieder der graswurzelrevolutionären Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FÖGA)(4) teilnahmen.

Der Nationalismus erstarkte trotzdem, für den Massengeschmack schien der Sozialismus für immer verloren. Aber es gab diese Zeichen des Nichteinverstandenseins und der Hoffnung auf eine bessere, eine gerechtere Welt.

Traverso betont, dass die Melancholie ein besonderes Verhältnis zur Erinnerung unterhält, "sie ist ihr Vehikel, ihr Träger, ihr Hüter, oder, wenn man so will, ihr Regisseur".(5) In dieser Beziehung ist die melancholische Haltung Teil der linken Geschichte. Eine Geschichte, die auch Erinnerung ist und die immer wieder reaktiviert und in die hegemonialen Auseinandersetzungen eingespeist werden muss. Auch und gerade angesichts der Vehemenz der Niederlage, die sich - unter anderem - im kommerzialisierten Raum der innerstädtischen Einkaufszonen ablagert.

Die Kettwiger Straße des Jahres 1990, die uns damals mit ihren Kaufhäusern neben den familienbetriebenen Konditoreien und dem Kino als totale Konsumzone erschien, wirkt verglichen mit der ausgeweiteten Kommerzkultur von heute wie ein mittelalterlicher Dorfplatz. (Das bombastische Einkaufszentrum am Limbecker Platz in Essen hat gar keinen Namen, es heißt Limbecker Platz. Es ist der Limbecker Platz. 200 Shops auf 70.000 qm Verkaufsfläche. Das gab es 1990 noch nicht.)

Auch die Shoppingmallisierung der Welt als Effekt der Privatisierungs- und Konzernbegünstigungspolitik nahm, wie der neue Nationalismus, nach 1990 erst so richtig Fahrt auf. Melancholisch gesprochen: Die meisten der Kinder, die damals die Performancepfennige einsammelten, geben ihr Geld heute in den Flagshipstores der ent-erinnerten Innenstädte aus.


Anmerkungen:

1) Enzo Traverso: Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition. Münster: Unrast Verlag 2019, S. 25.

2) Gustav Landauer: "Stelle dich, Sozialist!" [1915] In: Ders.: Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus. Herausgegeben von Siegbert Wolf. Frankfurt am Main: Sammlung Luchterhand 1909, S. 224-230, hier S. 228.

3) Traverso 2019, a.a.O., 70.

4) Die Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) wurde 1980 als bundesweiter Zusammenschluss gegründet und Ende der 1990er Jahre suspendiert. Sie stand der Zeitung Graswurzelrevolution inhaltlich und organisatorisch nahe.

5) Traverso 2019, a.a.O., S. 69.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 48. Jahrgang, Nr. 443, November 2019
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2020

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