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IMI/226: Kein Frieden nach dem Krieg in Gaza?


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Magazin AUSDRUCK - Februar 2009

Kein Frieden nach dem Krieg in Gaza?

Von Claudia Haydt


Nach mehr als drei Wochen Krieg in Gaza ist die Bilanz verheerend. Etwa 1.400 Menschen hat dieser Krieg das Leben gekostet. 13 der Toten waren israelische Staatsbürger, zehn davon Soldaten. Die ganz überwiegende Anzahl der Opfer waren Palästinenser. 5.500 Menschen wurden verwundet und verstümmelt. Der Anteil der Zivilisten wird, je nach Quelle, mit 40 bis 90 Prozent angegeben. Die UN sprach in einer ersten Bilanz von 22.000 zerstörten Gebäuden. 50.000 Menschen wurden durch die Kämpfe vertrieben. Es deutet alles darauf hin, dass dieses jüngste Kapitel im Nahostkonflikt eine Friedenslösung weiter erschwert. Das offizielle Kriegsziel, Schwächung der Hamas, wurde bestenfalls teilweise erreicht. Der Konflikt hat zwar die Infrastruktur der Hamas geschwächt, nicht aber deren Rückhalt in der Bevölkerung.


Politische Lösung wird schwieriger

"Am Tag nach dem Krieg werden wir vor den gleichen Problemen stehen wie heute, zusätzlich werden wir jedoch mit zahlreichen trauernden Familien, verkrüppelten Menschen, sowie Bergen von Schutt und Zerstörung konfrontiert sein", so äußerte sich Adam Keller, der Sprecher der israelischen Friedensorganisation Gush-Shalom, wenige Stunden nach den ersten Bombardements der israelischen Luftwaffe auf Gaza. Heute, zwei Wochen nach dem Beginn der Feuerpause, die Hamas und Israel je unabhängig von einander erklärt haben, zeigt sich wie recht Adam Keller mit seiner Prognose hatte. Der Wahlkampf in Israel verschärft sowohl die Rhetorik als auch die militärische Praxis der israelischen Regierung gegenüber den Menschen im Gazastreifen. Im Dezember hatte es die regierende Kadima Partei mit ihrer Kriegsrhetorik geschafft, gegen die Likud-Partei unter Führung von Benjamin Netanjahu knapp in Führung zu gehen. Diesen Vorsprung erhoffte sich die Kadima Spitzenkandidatin Tzipi Livni durch "entschlossenes" militärisches Vorgehen gegen den Gazastreifen a uszubauen. Verteidigungsminister Ehud Barak forderte sogar einen "Krieg bis zum bitteren Ende". Gemessen an Meinungsumfragen ging diese Rechnung kurzfristig auf. Doch kaum stagnierten die Umfragewerte nach Beginn des Waffenstillstandes wieder, verschärfte sich die Rhetorik von Neuem. Die Abriegelung des Gazastreifens wurde kaum gelockert und auf vereinzelten Raketenbeschuss wurde durch das israelische Militär bewusst sehr hart reagiert. Den Preis für diese Politik der Macht bezahlt die Bevölkerung in Gaza und in Israel. Der Krieg stärkt die Hardliner auf allen Seiten und lässt eine Verhandlungslösung in immer weitere Ferne rücken.

Eine politische Lösung ist nötig und möglich. Im Juni wurde eine Waffenruhe zwischen Hamas und der israelischen Regierung vereinbart und weitestgehend eingehalten. Das bestätigt auch der israelische Think-Tank "Intelligence and Terrorism Information Center", der dem Mitte-Rechts-Spektrum zugeordnet wird, in einem detaillierten Report.[1] Dabei wird auch klar, dass die vereinzelten Brüche des Waffenstillstands nicht auf Hamas-Milizen, sondern auf "abtrünnige" Splittergruppen zurückzuführen waren. Als im November die israelische Armee durch wiederholte gezielte Angriffe auf die Tunnelinfrastruktur an der Grenze Gazas den Waffenstillstand brach und den Konflikt wieder anfachte, nahm auch der Beschuss auf israelisches Territorium mit Kassam- und einzelnen Grad-Raketen zu. Am 19. Dezember 2008 kündigte die Hamas-Führung den Waffenstillstand dann auf. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits etwa einen Monat lang kein Treibstoff und keine Hilfsgüter mehr nach Gaza gekommen. Genau die Lockerung der Gazablockade war jedoch Teil der im Sommer vereinbarten Waffenruhe gewesen. Die Blockade Gazas hat eine humanitäre Katastrophe verursacht, die von fehlendem Trinkwasser, über fehlende Medikamente bis zu Nahrungsmittelmangel nahezu alle Bereiche des Alltags in Gaza betrifft. Die Arbeitslosigkeit war in Gaza auch vor der Blockade hoch, das Ausbleiben von Rohstofflieferungen und die Unmöglichkeit von Expor ten haben jedoch dem noch existierenden Mittelstand in Gaza völlig den Garaus gemacht. Die Menschen machen dafür nicht die Hamas verantwortlich, sondern die israelische Regierung. Damit geht das Konzept der israelischen Regierung, auf diese Weise die Hamas zu schwächen, nicht auf.


Kein "sauberer" Krieg

Die Menschen in Gaza erlebten 23 Tage lang, wie wenig ein Menschenleben wert ist. Das zeigten schon die ersten Angriffswellen der israelischen Armee, die stattfanden als Tausende von Schulkindern auf den Straßen Gazas unterwegs waren. Wegen des knappen Schulraumes werden Schüler in mehreren Schichten unterrichtet. Um 11:30 Uhr endete die erste Schicht und begann die zweite. Genau zu diesem Zeitpunkt fanden massive Bombardements statt. Entsprechend viele schulpflichtige Kinder waren unter den Opfern. Das zentrale Shifa-Krankenhaus brach nicht nur unter der Menge der gleichzeitig eintreffenden Verwundeten nahezu zusammen, es wurde auch durch den Beschuss benachbarter Gebäude in Mitleidenschaft gezogen und kann wegen Stromausfall nur mühsam mit Notstromaggregaten betrieben werden. Im Laufe des Krieges spitzte sich die Problematik der völlig unzureichenden Gesundheitsversorgung immer weiter zu. Medikamente und Blutkonserven waren kaum noch verfügbar. Strom zum Betreiben medizinischer Geräte konnte auch mit Generatoren kaum noch produziert werden. Viele Verwundete blieben völlig unversorgt, da Ambulanzen beschossen und zerstört wurden oder das israelische Militär den Zugang zu Verwundeten verweigerte.[2] "Den Verwundeten nicht zu helfen, verstößt gegen das Kriegsrecht", berichtet das Internationale Rote Kreuz (ICRC) das sich sehr selten in dieser Weise politisch äußert. "Das ICRC ist überzeugt, dass das israelische Militär seiner Verpflichtung nach dem internationalen humanitären Recht, sich um die Verwundeten zu kümmern und sie zu evakuieren, nicht nachgekommen ist."[3]

Darüber hinaus wurden zahlreiche Bildungseinrichtungen im Krieg zerstört. Einen traurigen Höhepunkt erreichte das leid der Zivilbevölkerung am 6. Januar als zwei UN-Schulen beschossen wurden, in denen Hunderte von Flüchtlingen Zuflucht gesucht hatten. Insgesamt wurden UN-Einrichtung auffallend häufig Opfer von Bombardements. Dazu kommen Angriffe auf zahlreiche Polizeistationen, wobei es sich hier nicht um "Terrorstützpunkte" der Hamas handelt, sondern um Polizei, die von den BürgerInnen in Anspruch genommen wird, wenn diese bei Eigentumsdelikten oder anderen Verbrechen Hilfe benötigen.[4] Das ist auch die Polizei, die zum Einsatz kommt, wenn militante Gruppen daran gehindert werden sollen, israelische Städte zu beschießen. Eine Aufgabe, die diese Polizei von Juni bis November 2008 verhältnismäßig effektiv wahrnahm. Wie das geforderte Ende der Kassam-Angriffe umgesetzt werden soll, wenn Polizisten weiter umgebracht werden und ihre Infrastruktur zerstört wird, ist fraglich. Alles deutet jedoch darauf hin, dass es der israelischen Regierung nicht (oder wenigstens nicht in erster Linie) um den Schutz der eigenen Bevölkerung geht, sondern um eine Demonstration ihrer Stärke und "Handlungsfähigkeit". Das 48-Stunden-Ultimatum der israelischen Regierung an Hamas zur Einstellung des Raketenbeschusses auf israelische Städte war erst zur Hälfte verstrichen, als die Bombardierung Gazas am Samstag, den 27. Dezember 2008 begann. Ein deutlicheres Zeichen für ein Desinteresse an einer friedlichen Lösung kann es kaum geben. Diesen Eindruck bestätigt eine Studie von Nancy Kannwisher, vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), die sie zusammen mit ihrer Kollegin Anat Biletzki von der Tel Aviv University veröffentlichte. Die Autorinnen untersuchten die Fragestellung, welche Seite letzten Jahren seit der zweiten Intifada Waffenruhen zuerst gebrochen hatte. Das Ergebnis ist so eindeutig wie erschreckend, in 79 Prozent der Fälle wurde die Waffenruhe durch das israelische Militär zuerst gebrochen. Betrachtet man nur die Phasen, in denen die Waffenruhe länger als 9 Tage dauerte, dann fällt auf, dass diese "längeren" Phasen der Ruhe zu hundert Prozent durch die israelische Armee gebrochen wurden.


Militär kann asymmetrisch Konflikte nicht lösen

Die Bevölkerung der israelischen Grenzstadt Sderot bekommt seit Jahren die Auswirkungen des ungelösten Konfliktes zu spüren. Der Raketenbeschuss aus Gaza besteht zum allergrößten Teil der Geschoße aus improvisierten, in Hinterhöfen produzierten und äußerst unpräzisen "Kassam"-Raketen und die meisten davon erreichen ihr Ziel nicht. Im Verhältnis zur Menge der abgeschossenen Raketen ist ihre Auswirkung deswegen relativ gering. Dennoch darf die psychologische Wirkung dieser alltäglichen Bedrohung auf die Bevölkerung nicht unterschätzt werden. Zudem werden die Raketen immer präziser und erreichen immer weiter entfernt liegende Städte wie Aschkelon oder Aschdod. Die Raketen gefährden bewusst die israelische Zivilbevölkerung und verstoßen damit klar gegen das Kriegsvölkerrecht. Die Bevölkerung dieser Städte befindet sich in doppelter Geiselhaft. Sie sind Geiseln palästinensischer Militanter, die auf diesem Weg auf die verfahrene politische Situation und die Blockade Gazas aufmerksam machen wollen. Die Menschen sind aber auch in Geiselhaft ihrer eigenen Regierung und müssen den Preis zahlen für deren Unfähigkeit oder Unwilligkeit, eine politische Lösung zu finden. Jeder Militärschlag kann den Beschuss bestenfalls kurzfristig eindämmen. Da Kassam-Raketen in jedem Hinterhof gebaut werden können, wird selbst die Zerstörung sämtlicher zur Zeit betriebener Werkstätten niemanden daran hindern, weitere Raketen zu bauen. Auf asymmetrische Konflikte gibt es keine wirksame militärische Antwort. Nicht nur die israelische Regierung muss dies lernen, sondern auch die Besatzungsmächte im Irak und Afghanistan. Der israelische Bombardierungsterror und die Massaker unter der Zivilbevölkerung haben lediglich mehr Hass und Wut erzeugt und damit noch mehr Menschen in die Hände militanter Gruppen getrieben.

Ohne Kooperation mit Hamas wird es keine Lösung geben. "Peace is with enemies", Frieden schließt man mit Feinden, betont Gush Shalom immer wieder. Je härter das Vorgehen der israelischen Armee ist, desto mehr werden jedoch die verhandlungsbereiten Kräfte innerhalb von Hamas geschwächt. Nur sehr langsam setzt sich die Einsicht durch, dass die bisherige Strategie der Ausgrenzung und militärischen Bekämpfung der Hamas, grundlegend falsch war. Immerhin kommt auch eine Studie[5] des "Strategic Studies Institute" am United States Army War College zu dem Ergebnis, dass die bisherigen Versuche, ohne Verhandlungen mit der Hamas zu einer Lösung zu kommen, zum Scheitern verurteilt waren.


Deutsche Scharfmacher

Die deutsche Regierung hat jedoch nichts zu einer Deeskalation der Situation beigetragen. Der stellvertretende deutsche Regierungssprecher Thomas Steg sah im Einklang mit Kanzlerin Angela Merkel die Verantwortung "eindeutig und ausschließlich" bei Hamas. Die Verlautbarungen der Bundesregierung nach dem Telefongespräch von Kanzlerin Merkel am 29. Dezember mit Ministerpräsident Ehud Olmert konnte als Ermutigung zur Fortsetzung der Militärschläge interpretiert werden, da sie nur ein "schnelles" und nicht sofortiges Ende der israelischen Militäroperationen forderte - und als Bedingung für dieses mehr oder weniger schnelle Kriegsende ein Ende des Raketenbeschusses durch Hamas vorausgesetzt wurde. Da die Raketen jedoch nicht nur von Gruppierungen abgeschossen werden, die der Hamas nahe stehen, ist ein Ende der Bombardierung zwar nötig und wichtig, jedoch keineswegs von heute auf morgen umsetzbar. All die Regierungen, die nun mit ihrem Schweigen oder ihren Rechtfertigungen die israelische Regierung auf ihrem militärischen Irrweg ermutigt haben, sind mitschuldig an der militärischen Eskalation und den Opfern des Krieges.

Mitschuldig sind die westlichen Verbündeten Israels, allen voran die USA und Deutschland, auch durch ihre fortgesetzten Waffenlieferungen in die Region. Es ist sinnvoll und richtig, die illegalen Waffenlieferungen in die besetzten Gebiete zu stoppen. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, ist aber das Ende der so genannten "legalen" Waffenlieferungen nach Israel und in andere Staaten der Region.

Es gibt nach wie vor zahlreiche politisch gewollte Lücken in der Kontrolle von Waffenexporten. So fällt der Export von Weißem Phosphor, dessen Einsatz in Gaza zum qualvollen Tod zahlreicher Menschen führte, nach wie vor nicht unter das Kriegswaffenkontrollgesetz, da er als Nebelmunition behandelt wird. Zudem werden die Eigner deutscher Schiffe, die verbotenen Ladungen unter anderer Flagge transportieren, nicht zur Rechenschaft gezogen. Nur so war es möglich, dass mitten im Krieg ein deutsches Schiff Munition, wahrscheinlich sogar weißen Phosphor geladen hatte, Richtung Israel unterwegs sein konnte.


Wie weiter?

Der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur in Gaza wird mindestens 2 Milliarden Dollar kosten. So seltsam es klingen mag: das Geld für den Wiederaufbau ist das kleinste Problem. Saudi-Arabien hat bereits eine Milliarde Dollar zugesagt. Wichtiger wird es sein, wie umfangreich und wie schnell die benötigten Rohstoffe für den Wiederaufbau nach Gaza geliefert werden können. Bis heute jedenfalls sind lediglich einige Zelte der UN in Gaza angekommen. Baumaterialien werden in kleinem Umfang durch die Tunnel aus Ägypten geschmuggelt. Das reicht jedoch nur für wenige Haushalte. Die Hilfszusage der deutschen Regierung für die Kontrolle der Grenze zwischen Gaza und Ägypten trägt nicht zur Lösung des Konfliktes bei. Sechs deutsche Polizisten sollen der ägyptischen Polizei beim Aufspüren von Tunneln unter die Arme greifen. Doch wenn dieser Transportweg vollständig unterbrochen wird, ohne dass es zu einer Aufhebung der Blockade Gazas kommt, dann wird die Versorgung der Bevölkerung Gazas noch lückenhafter sein, als sie dies heute schon ist. Ein weiteres Problem ist die offene Unterstützung von Präsident Abbas durch Israel, die USA und die viele europäischen Staaten. Dadurch wurde die PLO massiv geschwächt und eine politische Alternative zur Hamas muss sich den Vorwurf der Kollaboration mit Israel stellen. So entseht wenig Spielraum für Verhandlungen.

Wie lange es dauern wird, bis der materielle und der politische Scherbenhaufen dieses Krieges beseitigt ist, bleibt abzuwarten. Ohne ein Ende der Blockade von Gaza sowie ernsthafte und zügige Friedensverhandlungen mit allen Beteiligten wird es auf jeden Fall keine Lösung geben können. Beide Seiten, die israelische Armee und die Hamas, müssen das Recht der jeweils anderen Zivilbevölkerung auf ein menschenwürdiges Leben ohne Krieg, Bombardements und Sperranlagen anerkennen. Solange die USA, Deutschland und andere europäische Staaten jedoch weiter an ihrer einseitigen Parteinahme für die israelische Militärpolitik festhalten, besteht wenig Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten.


Anmerkungen:

[1] Six Months of the Lull Arrangement Intelligence Report:
http://tinyurl.com/baswel
[2] Vgl. Berichte der Menschenrechtsorganisation Btselem, z.B.:
http://tinyurl.com/c7cqz9
[3] Zitiert nach: Financial Times Deutschland, 5.2.2009
[4] Vergleiche hierzu den Bericht von Amira Hass, Korrespondentin der israelischen Tageszeitung Ha'aretz:
http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1864
[5] Sherifa Zuhur, Hamas and Israel. Conflicting Strategies of Group based Politics. December 2008 (Strategic Studies Institute United States Army War College)


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Dieser Text kann direkt heruntergeladen werden unter:
http://www.imi-online.de/download/CH-Gaza.pdf


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Quelle:
AUSDRUCK - Das IMI-Magazin - Februar 2009, S. 14
Die komplette Ausgabe zum download:
http://www.imi-online.de/download/AUSDRUCK-Februar2009.pdf
Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0304 - 19. Februar 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2009