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IMI/373: Staaten bauen heißt die Bevölkerung kontrollieren


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V. IMI-Studie 07/2011 - Texte zum IMI-Kongress 2010 vom 21.4.2011 - EUropas Staatsbildungskriege

Staaten bauen heißt die Bevölkerung kontrollieren
Sicherheitssektorreform als Kontroll- und Besatzungstechnik

Von Jonna Schürkes


Die Gefahren für die Europäische Union, so ist der Europäischen Sicherheitsstrategie zu entnehmen, gehen vor allem von so genannten "failed states" aus. Ein Staat gilt als gescheitert, wenn er seine Ordnungsfunktion nicht mehr wahrnehmen kann oder will, d.h. wenn er nicht (mehr) in der Lage ist, sein Territorium bzw. seine Bevölkerung zu kontrollieren.(1) Diese unkontrollierte Bevölkerung stellt in Form von Piraterie, Terrorismus, "illegale" Migration, Drogenhandel, Verbreitung von Epidemien, Organisierte Kriminalität oder schlicht "Instabilität" die neue Bedrohung für die ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen der westlichen Welt dar. Im Bewusstsein, diese neuen "Bedrohungen" nicht überall mit dem Einsatz EUropäischer Truppen bekämpfen zu können, werden entwicklungs- und sicherheitspolitische Maßnahmen parallel eingesetzt, allerdings eben nicht mit dem Ziel Armut und damit häufig auch die Ursachen der "neuen Bedrohungen" zu bekämpfen, sondern die "gefährlichen" oder schlicht "störenden" Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren.

Loïc Wacquant beschrieb 1999 in einem Artikel in der Le Monde Diplomatique unter dem Titel "Die Armen bekämpfen", wie sich der Staat "aus der ökonomischen Arena zurück zieht und [ ] selber die Notwenigkeit [betont], seine sozialpolitische Rolle zu reduzieren und zugleich den Repressionsappart zu verstärken". Die Konsequenz dieser Entwicklung sei die Kriminalisierung der Armen, die mit repressiven Mitteln aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. In dem Maße, in dem sich der Staat als Garant einer gewissen Umverteilung zurückzieht, rüstet er den Repressionsapparat auf, um die Bevölkerung weiter kontrollieren zu können. Wacquant bezieht sich auf westliche Staaten, vor allem solche, die einst als Wohlfahrtsstaaten bezeichnet wurden.

Im Fall der "failed states" des Globalen Südens wurde den Staaten entweder nie die Möglichkeit eingestanden, den Reichtum ihrer Länder für ihre Bevölkerung zu nutzen oder ihnen wurde diese mithilfe von Strukturanpassungsprogrammen, bilateralen und multilateralen Freihandelsabkommen, Fischereiabkommen bzw. die Tolerierung "illegaler" Ausbeutung durch westliche Transnationale Konzerne genommen. In manchen Fällen führt die auf diese Weise geschaffene oder erhaltene Armut dazu, dass Menschen sich auf den Weg nach Europa machen, sich als Piraten oder Drogenkuriere betätigen und erst dann ins öffentliche Bewusstsein des Westens dringen. Anstatt allerdings die Politik zu ändern und es dem Menschen in diesen "failed states" zu ermöglichen, die Reichtümer ihrer Länder zu nutzen, werden Gruppen - meist die Regierungen - in diesen Ländern dazu ausgerüstet, ausgebildet und bezahlt, um repressiv gegen diese "Störer" (spoiler) vorzugehen.


Die Sicherheitssektorreformen der EU

Der Aufbau solcher Repressionsorgane wird seit einigen Jahren als Sicherheitssektorreform (SSR) bezeichnet, faktisch handelt es sich aber um ein altes Phänomen: die Staaten des Nordens bauen im globalen Süden Repressionsorgane auf, die dann - zumindest für eine bestimmte Zeit - im Sinne und unter Kontrolle des Nordens ein Regime an der Macht halten, das die sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen des Nordens meist gegen den Willen der eigenen Bevölkerung durchsetzt.

Das Konzept der aktuellen Neuauflage dieses Phänomens, stammt ursprünglich aus der Entwicklungszusammenarbeit und verfolgte das Ziel, die Sicherheitskräfte eines Landes - also Polizei, Militär und Geheimdienste - demokratisch zu kontrollieren, für Menschenrechtsfragen zu sensibilisieren und Staat und Gesellschaft zu demilitarisierten bzw. die Sicherheitskräfte zu depolitisieren.(2) Die Praxis zeigt aber, dass Demokratie und Menschenrechte zugunsten sicherheits- und wirtschaftspolitischer Interessen des Westens in den Hintergrund treten. Die Sicherheitskräfte des globalen Südens werden dazu ausgebildet und aufgerüstet, Auseinandersetzungen mit oppositionellen Kräften zu führen und dies eben nicht unter der Kontrolle der Bevölkerung, sondern der der "Internationalen Gemeinschaft". Die engen Verbindungen, die über SSR zwischen den Sicherheitskräften der Länder des Südens und der EU bzw. ihrer Sicherheitskräfte geschaffen werden, sorgen weniger für eine "Demilitarisierung" der Gesellschaften als die Aufwertung der Sicherheitskräfte als (politischer) Akteur.

Die EU sieht sich selbst als einen der wichtigsten globalen Akteure im Bereich der Sicherheitssektorreformen. Dies sei auf die weit reichenden Erfahrungen mit SSR im Zuge der eigenen Erweiterung, die globale und langfristige Präsenz der EU in Ländern des globalen Südens (vor allem in den ehemaligen Kolonien) und ihre breite Palette geeigneter ziviler und militärischer Instrumente zurückzuführen, so die Europäische Kommission.(3)

Bereits in der "Europäischen Sicherheitsstrategie" von 2003 wird auf SSR als auszubauendes Instrument zur Abwehr von Bedrohungen explizit Bezug genommen.(4) In der Folgezeit wurden sowohl von der Europäischen Kommission als auch vom Rat der Europäischen Union Konzepte zur Umsetzung dieser Reformen in Drittstaaten veröffentlicht und schließlich verfasste ebenfalls der Rat im Juni 2006 ein "Policy Framework" für SSR, in dem die beiden Dokumente vereint werden.

Im Rahmen von Reformen des Sicherheitssektors wird die Trennung ziviler und militärischer Instrumente, Aufgaben und Akteure aufgehoben. Den Befürwortern der zivilmilitärischen Zusammenarbeit zufolge dienen sie auch dazu, noch verbleibende Vorbehalte - vor allem auf Seiten der entwicklungspolitischen Akteure - auszuräumen: "Reformen im Sicherheitssektor in Entwicklungsländern eignen sich hervorragend, um Trennlinien zwischen den Akteuren aufzubrechen und eine neue Kultur der Zusammenarbeit zwischen entwicklungs- und sicherheitspolitischen Akteuren zu etablieren. Dies ist der Versuch, sich mehr mit sicherheitsrelevanten Fragestellungen auseinander zu setzen [...]. Wurde über Jahrzehnte eine Zusammenarbeit mit Polizei und Streitkräften von Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit abgelehnt, so werden nun zunehmend Instrumente zur Herstellung der ,Sicherheit' wahrgenommen".(5)

Diese Zusammenarbeit verläuft bisher auf EU-Ebene jedoch schleppend, wofür die unzureichende Kooperation zwischen dem Rat und der Kommission und zwischen den zivilen und militärischen Akteuren vor Ort verantwortlich gemacht wird.(6) Dies soll sich jedoch nun mit der Schaffung des Europäischen Auswärtigen Dienstes ändern.(7)

Von den 28 EU-Missionen, die seit 2003 entsandt wurden, enthalten oder enthielten 18 SSR-Elemente, bei 14 von ihnen war oder ist SSR die Haupt- oder einzige Aufgabe (siehe Karte in der PDF-Datei, Download siehe unten).


Bürgerkriege fernsteuern

Groß angelegte "Stabilisierungsmissionen" geraten innerhalb von EU und NATO zunehmend in die Kritik. Der Aufbau lokaler Sicherheitskräfte, die im Interesse und unter Leitung des Westens agieren, wird aus diesem Grund zunehmend als "viel versprechende" Alternative propagiert.

Lars Brozus von der regierungsnahen "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) zufolge müssten EU und NATO ihre Ambitionen schon allein aus Kosten- und Kapazitätsgründen drosseln: "Idealerweise ist stabilitätsorientiertes Statebuilding ("Statebuilding light") für die Staatengemeinschaft mit weniger Opfern und geringeren Kosten verbunden. Hier geht es im Kern darum, die Zielländer sicherheitspolitisch zu stabilisieren. Damit ist in erster Linie die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gemeint. [ ] Wer sicherheitspolitische Stabilität erreichen will, muss den Sicherheitsapparat reformieren (Stichwort Sicherheitssektorreform)."(8)

EUPOL Afghanistan

Nachdem der Westen den Krieg gegen die Taliban-Regierung innerhalb weniger Wochen gewonnen, die wichtigsten Städte und Infrastrukturen eingenommen und eine Übergangsregierung eingesetzt hatte, stand die NATO und die Europäische Union vor der schwierigen Aufgabe, das Land zu besetzten und die Macht der neuen Elite zu konsolidieren. Sollte eines Tages der Großteil der NATO-Truppen abgezogen werden, muss eine Regierung an der Macht sein, die im Sinne des Westens den Krieg gegen die Aufständischen weiterführt. Bei diesen handelt es sich allerdings laut einem Bericht des US-Militärs vom Oktober 2009 nur zu einem geringen Teil aus "Hardcore-Ideologen, die für die Taliban kämpfen", die meisten kämpften um die Kontrolle des Territoriums, der Mineralvorkommen und Schmuggelrouten sowie gegen die in weiten Teilen Afghanistans verhasste Regierung und die ausländischen Besatzungstruppen.(9) Um gegen eben jene Aufständischen vorzugehen, wird der Regierung Karzai ein riesiger Repressionsapparat an die Hand gegeben: bis Oktober 2011 sollen offiziell 171.600 afghanische Soldaten und 134.000 Polizisten zur Verfügung stehen.

Die Führung beim Aufbau der Polizei übernahm 2007 die EU-Mission EUPOL Afghanistan von Deutschland. Inzwischen besteht die Afghanische Nationalpolizei (ANP) der NATO zufolge aus 118.000 Polizisten, andere Quellen hingegen geben die Anzahl derjenigen, die tatsächlich als Polizisten arbeiten, weitaus geringer an (10), was vor allem daran liegt, dass weiterhin ein großer Prozentsatz an Polizisten desertiert oder zu den Aufständischen - meist mitsamt ihrer Waffen und Uniformen - überläuft (11). Schwerer noch wiegt die Tatsache, dass es sich bei der ANP weniger um eine zivile Polizei als um paramilitärische Einheiten handelt: sie kämpft in vorderster Reihe gegen die Aufständischen, soll Gebiete, die von NATO-Truppen "befreit" wurden, gegen die Aufständischen halten und wird in keinster Weise auf das, was normalerweise unter Polizeiarbeit verstanden wird - also vor allem die Aufklärung von Straftaten - vorbereitet. Eine zivile Polizei wäre auf eine funktionierende Justiz angewiesen, für deren Aufbau ebenfalls EUPOL zuständig ist. In diesem Bereich geschieht jedoch so gut wie nichts.(11)

Was die Sicherheitskräfte - wenn sie denn eines Tages aufgestellt sind - die Afghanen kosten wird, schätzt eine Studie des US-amerikanischen Congressional Resarch Service (CRS) auf 2,2 Mrd. $ jährlich, bei einem derzeitigen afghanischen Gesamthaushalt von ca. 1 Mrd. $.(13) Abgesehen davon, dass die afghanische Regierung dann auf lange Zeit hin abhängig sein wird von der Bereitschaft des Westens, die Sicherheitskräfte zu finanzieren, bedeutet dies, dass für andere Bereiche - vor allem die Sozialpolitik - kaum mehr Mittel zur Verfügung stehen werden. Die gleichzeitige neoliberale Zurichtung der afghanischen Wirtschaft seit Ende 2001(14) wird ihr Übriges tun, zu verhindern, dass die Regierung anders als über repressive Mittel ihre Bevölkerung kontrollieren kann.

Was bleibt ist ein autoritärer Militärstaat, mit einem Präsidenten, der kaum Rückhalt in der Bevölkerung genießt und sich von US- amerikanischen Leibwächtern schützen lässt (15), da er den afghanischen Sicherheitskräften nicht trauen kann. Gleichzeitig wird er seine Macht vor allem auf das Militär und die Polizei stützen müssen, die sich allerdings bereits jetzt massiv gegenseitig bekämpfen.(16) Unter dem andauernden Krieg wird auch in Zukunft vor allem die afghanische Zivilbevölkerung leiden - deren Schutz einst Rechtfertigung der militärischen Intervention war.(17)

EUTM Somalia

Auch in Somalia hat die "Internationale Gemeinschaft" über die Bewaffnung und Ausbildung von Soldaten und Polizisten für eine Partei den Bürgerkrieg so zu entscheiden, dass eine Elite an die Macht kommt und bleibt, von der sie sich erhofft, sie könnte im Sinne des Westens agieren.

Nachdem 2006 die Regierung der "Union Islamischer Gerichtshöfe" von Äthiopien und mit der tatkräftigen Unterstützung des Westens gestürzt worden war, bewaffneten zahlreiche Staaten Milizen, die der Übergangsregierung unter Abdullahi Yusuf Ahmed dazu verhelfen sollten, den Bürgerkrieg für sich entscheidet, bzw. zumindest wesentliche Infrastrukturen, wie den Hafen von Mogadischu, zu kontrollieren.(18) Die Afrikanische Union entsendete 2007 eine Mission (AMISOM), die die Macht der TFG absichern sollte, finanziert vor allem durch die Europäischen Union.(19) Trotz der Bewaffnung tausender Soldaten und der Präsenz der 8000 AMISOM-Soldaten, kontrolliert die TFG allerdings bis heute nur einzelne Viertel Mogadischus.

2010 entsandte die Europäische Union schließlich selber Militärausbilder, die in einem Trainingslager in Uganda bis Mitte 2011 2000 Soldaten für die TFG ausbilden sollen. Rekrutiert werden die jungen Männer von der TFG in Somalia, die USA fliegt sie nach Uganda, dort werden sie von europäischen - u.a. auch 13 Bundeswehrsoldaten - und ugandischen Militärs ausgebildet, von Uganda ausgerüstet und anschließend von den USA nach Mogadischu geflogen - moderne internationale Arbeitsteilung in der Militär- und Polizeihilfe. In Mogadischu angekommen, sollen sie dann im Verband mit den AMISOM- Soldaten den Schutz der TFG gewährleisten und ihr Einflussgebiet vergrößern.

Mitte Februar 2011 wurden die ersten 1000 ausgebildeten Soldaten nach Mogadischu verbracht. Kurze Zeit danach begannen die AMISOM und die Truppen der TFG eine Offensive, um die Kontrolle in Mogadischu auszuweiten und u.a. das ehemalige Verteidigungsministerium, das jahrelang als Basis der Rebellen fungierte, einzunehmen.(20) Während der Offensive wurden zahlreiche Menschen getötet, unter ihnen auch über 50 AMISOM-Soldaten.(21) Ob allerdings im Rahmen von EUTM ausgebildete Soldaten an der Offensive beteiligt waren, ist nicht bekannt.


Von Verbündeten, Informanten und Befehlsempfängern

EUTM Somalia, erklärte Staatsminister Werner Hoyer, trage dazu bei, Somalia zu stabilisieren und damit die Piraterie vor den Küsten Somalias zu bekämpfen.(22) Angesichts der Tatsache, dass die TFG Schwierigkeiten hat, auch nur das Viertel um den Präsidentenpalast in Mogadischu zu schützen, stellt sich die Frage, wie sie dazu in der Lage sein soll, zumal diese von Gebieten aus operieren, in denen die TFG keinerlei Kontrolle ausübt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass nicht die somalischen "Soldaten" und "Polizisten" gegen die Piraten vergehen sollen, sondern dass eine Regierung formal an der Macht gehalten wird, deren Funktion es vor allem ist, der "Internationalen Gemeinschaft" zu erlauben, in ihrem Hoheitsgewässer militärisch gegen Piraten vorzugehen.

Bis auf die Bewaffnung von jungen Menschen und die Finanzierung einer AU-Truppe, hat die EU offensichtlich sehr wenige Visionen, wie es in Somalia weitergehen soll. Das "Mandat" der Übergangsregierung wurde im Dschibuti-Abkommen von 2008 - einem Art Friedensabkommen zwischen der TFG und Teilen der "Union Islamischer Gerichtshöfe" - bis August 2011 begrenzt. Die EU, die USA und der Sondergesandte der UN in Somalia, Augustine P. Mahiga, bestehen darauf, dass die TFG ihre Macht dann auch abgibt.(23) Ungeachtet dessen, wie es dann weitergehen wird, hat die Europäische Union die Mittel für die AMISOM nochmals deutlich erhöht und auch die Ausbildung der Soldaten in Uganda geht weiter.

EU-SSR Guinea Bissau

Der kleine westafrikanische Staat Guinea-Bissau ist wie Somalia vor allem aufgrund seiner geographischen Lage für die EU interessant. Auch wenn vor Westafrika ebenfalls zahlreiche Piratenangriffe dokumentiert sind, werden die Interventionen der Europäischen Union in Guinea- Bissau vor allem mit der Bekämpfung des Drogenhandels und der "Illegalen" Migration legitimiert - für beides gilt Westafrika und besonders Guinea-Bissau als Transitland.(24)

Die EU-Mission zu Reform des Sicherheitssektors (EU-SSR Guinea Bissau) startete 2008. In ihrem Rahmen wurden acht Militärs und zivile Mitarbeiter unter dem Kommando des spanischen Generals Juan Esteban Verástegui entsandt, um - dem Mandat zufolge - die Ziele der "Nationale Sicherheitsstrategie zur Sicherheitssektorreform", die 2006 mit Unterstützung Großbritanniens erstellt worden war, zu operationalisieren, die Armee zu verkleinern und zu restrukturieren, Gendarmeriekräfte aufzubauen und die Polizei und Justiz zu reformieren.(25) Zudem sollte die Mission die Grundlage für die zukünftige Ausbildung und Ausrüstung der Sicherheitskräfte durch internationale Geber schaffen.(26) Aufgrund der politischen Entwicklung im Lande wurde die Mission im August 2010 beendet: Im März 2009 war innerhalb eines Tages der Präsident João Bernardo Vieira und der Militärchef Tagmé Na Wai von Soldaten ermordet worden. Gut einen Monat später revoltierte das Militär auch gegen die neue Regierung und brachte im April 2010 den Ministerpräsidenten des Landes vorübergehend in seine Gewalt, entführte den ehemaligen Oberkommandierenden der Marine aus dem Büro der Vereinten Nationen und erklärte den Generalstabschef für abgesetzt. Die daraufhin ausbrechenden Unruhen wurden von Armee-Einheiten unterdrückt.(27) Der neue Generalstabschef ist General Antonio Indjai, einer der Anführer der Meuterei im April.

Obwohl die Sicherheitskräfte, die reformiert werden sollten, mordeten, entführten und putschten - wurde die Mission vom Rat der Europäischen Union nicht nur für erfolgreich erklärt, auch weiterhin werden Projekte zur SSR mit Mitteln aus dem Europäischen Entwicklungsfond durchgeführt. Für die EU war die Mission nicht nur daher erfolgreich, weil man die Zusammenarbeit von zivilem und militärischem Personal unter militärischem Kommando "im Feld" erproben konnte. Vielmehr wurden Kontakte auf politischer, polizeilicher und militärischer Ebene geschaffen, auf die man in Zukunft nicht nur bei der Bekämpfung der Kriminalität und der "Illegalen Migration" zurückgreifen kann.(28) Wie sehr die Mission in Guinea-Bissau von manchem als Vorverlagerung der Bekämpfung der Kriminalität gesehen wurde, machte Ana Gomes, im Europaparlament für die Sozialistische Partei Portugals deutlich: Die Mission hätte weitergeführt werden sollen, um den Drogen- und Menschenhandel ebenso zu bekämpfen wie den Terrorismus in der Sahel Region.(29)

EUJUST LEX Iraq

Auch im Irak hat sich der Westen einen Staat gebaut, der in der Lage sein soll, seine Bevölkerung zu kontrollieren. Der Sicherheitsapparat, der der irakischen Regierung an die Hand gegeben wurde, unterscheidet sich in der personellen Stärke kaum von dem unter Saddam Hussein. Der Irak gab 2010 8,6% seines BIPs nur fürs Militär aus und steht damit laut dem CIA-Factbook an fünfter Stelle weltweit. Dieser riesige Sicherheitsapparat (fast 200.000 Soldaten und 400.000 Polizisten, hinzu kommen unzählige Milizen, die von den USA bewaffnet wurden sowie private Sicherheitskräfte) wurde in erster Linie von den USA und der "Koalition der Willigen" aufgebaut, die EU war an dem Krieg gegen den Irak zunächst nicht direkt beteiligt. Allerdings bemüht sie sich seit Jahren darum, mithilfe der Ausbildung von Sicherheitskräften einen Fuß in die Tür zu bekommen: 2005 startete die »Rechtsstaatsmission« EUJUST LEX Iraq. Trotz der öffentlichen Ablehnung des Irak-Krieges durch einige europäische Regierungen wollte es sich die EU scheinbar nicht nehmen lassen, auf das neue Regime Einfluss auszuüben. Der Großteil der höherrangigen Juristen und Polizisten - zwischen ca. 4000 - wurde in der EU, und hier vor allem in Deutschland, in Kursen weitergebildet, seit Mitte 2010 findet die "Aus- und Weiterbildung" im Irak statt. Dazu wurden drei Büros in Bagdad, Erbil und Basra eingerichtet, in die inzwischen 50% der Missionsmitarbeiter entsandt wurden. Bei den angebotenen Kursen scheint es weniger um die Fortbildung in rechtsstaatlichen Fragen zu gehen als vielmehr darum, enge Kontakte mit der sicherheitspolitischen Elite des Iraks zu knüpfen und jetzt mit dem Angebot an Fortbildungskursen zu vertiefen. Die EU-Denkfabrik »EU-ISS« weist darauf hin, dass die Kurse die in den unterschiedlichen EU-Mitgliedsstaaten angeboten wurden, nicht aufeinander abgestimmt aren und die europäischen Ausbilder zudem keinerlei Kenntnisse über das irakische Rechtssystem gehabt hätten.(30)


Sicherheitskräfte im Dienste der Internationalen Gemeinschaft

Abgesehen von den SSR-Missionen, die die EU seit 2003 durchführt, werden auch andere zivile und militärische Instrumente genutzt, um in Ländern des "Globalen Südens" Repressionsorgane zu schaffen. So unterstütze die Europäische Kommission den Bau einer Polizeischule in Sanaa (Jemen) mit 7,5 Mio. Euro,(31) im Rahmen der Marineoperation Atalanta - zur Abwehr der Piraterie vor Somalia patrouillierend - wird nebenher noch die jemenitische Küstenwache aus- und fortgebildet, es werden Kontakte geknüpft und Informationen ausgetauscht.(32)

Es steht zu befürchten, dass diese Strategie zur Steuerung von Bürgerkriegen, zur Kontrolle der Bevölkerung und zur Schaffung Verbündeter in Zukunft deutlich mehr Anwendung findet. Derzeit deuten sich schon weiter SSR-Missionen oder andere Formen der Unterstützung des Sicherheitssektors an: im Südsudan gilt es für den Westen einen Staat aufzubauen. Für Tunesien fordert der "European Council on Foreign Relations" keine zwei Monate nach dem Stutz des alten Diktators, die EU müsse den Sicherheitssektor dort reformieren (33). Das selbe fordert das "EU Institute for Security Studies" für Ägypten,(34) von unterschiedlichen Seiten wird heute bereits gefordert, die Rebellen in Libyen müssten vom Westen ausgebildet werden, Fact-finding-missions - die Vorstufe zur Entsendung von SSR-Missionen - haben in Mali und Mauretanien stattgefunden ... Die EU testet derzeit verschiedene Formen der SSR aus, um ihr Instrument zu optimieren. Sie unterscheiden sich je nach Interessenslage der EU und seiner Mitgliedsstaaten in den Einsatzländern, nach dem Kontext, in den sie eingebettet sind - im Rahmen groß angelegter Stabilisierungseinsätze oder als unabhängige Missionen - und nicht zuletzt hinsichtlich der Größe der Staaten, in denen SSR durchgeführt werden. Allen gemein ist, dass es nicht darum geht, die Sicherheitskräfte unter die Kontrolle der Bevölkerung zu bringen, sondern unter die der »Internationalen Gemeinschaft«. Die verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung der Empfängerländer werden billigend in Kauf genommen. Zudem werden meist nur die Sicherheitskräfte aufgebaut. Elemente der SSR wie der Aufbau einer Justiz, die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kämpfern und die demokratische Kontrolle der Streitkräfte sind zwar in einigen Mandaten enthalten, werden aber - wenn überhaupt - nur stümperhaft ausgeführt.

EU-Missionen, Stand April 2011 - © IMI 2011 EU-Missionen, Stand April 2011 - © IMI 2011

EU-Missionen, Stand April 2011
© IMI 2011


Anmerkungen

(1) Besonders deutlich wird dies in einer Definition von "Failed states" durch Thomas Risse vom Sonderforschungsbereich "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" der FU Berlin, in dessen Rahmen der Frage nachgegangen wird, wie Räume und Bevölkerungen jenseits von Staaten effektiv kontrolliert werden können: "'Begrenzte Staatlichkeit' bezeichnet dann Defizite bei eben dieser effektiven oder inneren Souveränität. Dabei kann es sich im Extremfall zerfallen(d)er Staaten um die weitgehende Erosion des staatlichen Gewaltmonopols handeln, so dass gewaltoffene Räume entstehen. In den meisten Fällen begrenzter Staatlichkeit haben wir es aber mit schwachen politischen bzw. staatlichen Institutionen zu tun, die weder in der Lage sind, Entscheidungen herbeizuführen noch sie am Ende auch durchzusetzen, notfalls unter Rückgriff auf Zwang. Räume begrenzter Staatlichkeit sind dann solche Teile eines staatlichen Territoriums, in denen staatliche Akteure die Fähigkeit fehlt, effektiv regieren, also politische Entscheidungen treffen und durchsetzen zu können" (Risse, T.: Begrenzte Staatlichkeit und neue Governance-Strukturen, in: Braml, J. (u.a.): Einsatz für den Frieden, Jahrbuch Internationale Politik, Band 28, 2010, S. 24).
(2) Edmungs, T: Security Sector Reform: Concepts and Implementation, in: Fluri, P/ Had?ic, M. (Hrsg.): Sourcebook on Security Sector Reform, Genf, März 2004.
(3) Europäische Kommission: Ein Konzept für Unterstützungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft im Bereich Sicherheitssektorreform, KOM(2006) 253.
(4) Europäische Union: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel 2003, S.12.
(5) Behm, T.: Sicherheitspolitik aus einem Guss, in: Welttrends Papiere 5, 2007, S.25-32, S. 29.
(6) Weiler, Q.: The European Union and Security Sector Reform in Africa, BRIGG Paper 1/2009.
(7) Overhaus, M.: Zivil-militärisches Zusammenwirken in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, SWP-Studie, Mai 2010.
(8) Brozus, L.: Statebuilding in der Legitimitätskrise, SWP-Aktuell, Juni 2010, S.3.
(9)Taliban not main Afghan enemy, Boston Globe, 09.10.2009.
(10) Schneider, M.: Testimony to the Commission on Wartime Contracting in Iraq and Afghanistan, 05.02.2010.
(11) International Crisis Group: Afghanistan: Exit vs. Engangement, Asia Briefing Nr. 115, Kabul/Brussels, 28.11.2010.
(12) International Crisis Group: Reforming Afghanistan's Broken Judiciary, Asia Report Nr. 195, 17.11.2010.
(13) Bowman, S./ Dale, C: War in Afghanistan: Strategy, Military Operations, and Issues for Congress, Congressional Research Service, 8.Juni 2010.
(14) Wagner, J.: Im Windschatten der NATO - Die Europäische Union und der Krieg in Afghanistan, Informationen zu Politik und Gesellschaft, Nr. 4/ Dezember 2010.
(15) Amerikas Schuft am Hindukusch, NZZ, 9.08.2009.
(16) Afghanistan war logs: ,Green on green' fights between Afghan police and troops, The Guardian, 25.07.2010.
(17) Die Anzahl der im Krieg in Afghanistan getötete Zivilisten steigt jedes Jahr: 2007 (1523), 2008 (2118), 2009 (2412), 2010 (2777); Quelle: Unama: Afghanistan - Anual Report of Civilians in armed conflict, Kabul, März 2011.
(18) Schürkes, J: Arming Somalia - Die neue ESVP-Mission zur Ausbildung somalischer Soldaten, IMI-Analyse 2010/012.
(19) Erst Ende März 2011 kündigte der EU-Kommissar für Entwicklung, Andris Piebalgs, an, die EU werde AMISOM mit zusätzlichen 65,9 Mio. Euro unterstützen, womit die EU seit 2007 208 Mio. Euro an die AMISOM gezahlt hat, der Großteil wurde aus dem Europäischen Entwicklungsfond bezahlt (EU unterstützt Friedenssicherung in Somalia mit 65,9 Mio. EUR, Pressemitteilung der Europäische Kommission, 28.03.2011).
(20) Al Shabaab loses key military bases in Mogadishu, All Headline News, 23.02.2011.
(21) AU troops killed in Somalia clashed, Al Jazeera English, 05.03.2011.
(22) Auswärtiges Amt: Startschuss für EU-Mission zur Ausbildung somalischer Sicherheiskräfte, url: www.auswaertiges-amt.de.
(23) UN Security Council: Security Council Presidential Statement Stresses Need for Comprehensive Strategy to Restore Peace, Stability in Somalia, 10.03.2011.
(24) UNDOC: The Globalization of Crime. A Transnational Organized Crime Threat Assessment, Wien 2010.
(25) BT-Drs. 17/1888 vom 27.05.2010.
(26) Hell, D: The EU mission in support of Security Sector Reform in Guinea-Bissau, in: EU-ISS: European Security and Defence Policy. The first 10 years, Paris 2009, S. 369-378.
(27) BT-Drs. 17/1888 vom 27.05.2010.
(28) Bloching, S.: EU SSR Guinea-Bissau: Lessons Identified, isis- European Security Review No.52, November 2010.
(29) Ebd.
(30) Korski, D.: The integrated rule of law mission for Iraq, in: Grevi, G. (u.a.): The European Security and Defence Policy. The ten first years, EUISS 2009.
(31) Sayigh, Y.: "Fixing Broken Windows": Security Sector Reform in Palestine, Lebanon, and Yemen; Carnegie Papers, Nr 17, Oktober 2009.
(32) EEAS: Newsletter of the Delegation of the European Union to Yemen, Issue No.2, 2010.
(33) Dennison, S.: After the Revolution: Europe an the Transition in Tunisia, ECFR Policy Brief, März 2011.
(34) Vasconcelos, A. (Hrsg.): The Arab democratic wave - How the EU can seize the moment, EU-ISS, Report Nr.9. März 2011.


Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, gehalten auf dem 13. IMI Kongress "EUropas Staatsbildungskriege"


Als PDF-Datei ist der Artikel abrufbar unter:
http://imi-online.de/download/JS_Kongress2010.pdf


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Quelle:
IMI-Studie 07/2011 - Texte zum IMI-Kongress 2010 vom 21.4.2011
http://imi-online.de/download/JS_Kongress2010.pdf
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2011