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INTIFADA/006: Zeitschrift für antiimperialistischen Widerstand Nr. 30/Frühjahr 2010


Intifada Nummer 30 - Frühjahr 2010
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand



INHALT
Editorial
ARABISCHER RAUM
Zwischenunternehmen für Obama
Jemens Regime kämpft an drei Fronten
Zwischen Hammer und Amboss
Ägypten vervollständigt die Gaza-Blockade
"Das Problem ist ein Politisches"
Interview mit Juliano Mer-Khamis
INTERNATIONAL
Volk versus Islamofaschismus?
Der Kampf in Teheran spitzt sich zu
Aufziehender Sturm
Das Ende des Obamismus und Chinas Traum
Chávez und die V. Internationale
Erneut linke Signale aus Caracas
Naxaliten in Bedrängnis
Indiens Krieg gegen die autochthone Bevölkerung
Umtriebe im Hinterhof
Chancen und Gefahren für einen linken Kontinent
Klimaschutz heißt Gerechtigkeit
Das Scheitern der Konferenz von Kopenhagen
EUROPA
Hegemonie der Apathie
Analyse der Wahlen in Österreich 2009
Feuer frei
Ein Kommentar zu zwanzig Jahren Mauerfall
Kasinokapitalismus am Wörthersee
Zum Hypo-Skandal in Kärnten
"Es gab einen Befehl, uns etwas anzutun"
Interview mit Martin Balluch
Ein Zeichen des Hasses
Gedanken zum Schweizer Minarett-Verbot
THEORIE
Wider die Pädagogisierung des Politischen
Reflexionen zu Gramscis Bildungsbegriff
AKTIVISMUS
Sumud: Standhaftigkeit 2010
Widerstand zum Mitmachen im Libanon und in Indien
KULTUR
Rezension: Jenseits der Mythen
Autorenverzeichnis

Raute

Editorial

Lack ab

Ein Jahr nach Amtsantritt von Barack Obama ist es nun so offensichtlich, dass er selbst es zerknirscht im Fernsehen verkündet: Seine Versprechen hat er bislang nicht eingelöst. Während Obama an die Gesundheitsreform in den USA denkt, interessiert uns vor allem seine Außenpolitik. Als Friedenspräsident verkörperte Obama die Hoffnungen vieler, vor allem des europäischen Establishments. Niemand wollte ein Abrücken von der US-Vormachtstellung, lebt die Elite doch gut davon. Aber gehofft hatte man schon, dass ein weniger arrogant-aggressiver US-Präsident ohne diese garstigen Kriege auskommen würde, die so viel Hass auf den Westen schüren. Der Friedensnobelpreis sollte dieser Hoffnung Nachdruck verleihen.

Peinlich war es, als Obama just zur selben Zeit seine neue Afghanistan-Strategie vorstellte, die massive Truppenaufstockungen beinhaltete. Überall wird nun sichtbar, dass Obama nichts mit Frieden am Hut hat: Im Nahen Osten, wo Mohammad Aburous für uns die aktuelle Lage in Palästina und im Jemen analysiert. Ebenso wenig im Iran: Wilhelm Langthaler stellt sich die Frage nach dem Charakter des persischen Machtkampfes und der Rolle des Westen darin. In Lateinamerika, wo neue US-Militärbasen installiert wurden, scheinen die USA derzeit ratlos zu sein, aber Gernot Bodner zeigt auf, dass auch dahinter System stecken kann. Die Linke ist dort jedenfalls auf dem Vormarsch. In Venezuela rief Hugo Chávez zur Bildung einer Fünften Internationale auf, wie Margarethe Berger berichtet. Schließlich analysiert Langthaler die US-Außenpolitik in Hinblick auf den aufsteigenden Konkurrenten China.

In Österreich zieht Sebastian Baryli Schlüsse aus dem Wahljahr 2009. Stefan Hirsch und Reinhard Loidl machen sich Gedanken zur Pleite der Hypo-Alpe-Adria. Und Margarethe Berger zeichnet nach, warum Gramsci Politik und nicht Bildung im Sinn hatte, auch wenn heute das Gegenteil behauptet wird.

Margarethe Berger

Raute

ARABISCHER RAUM

Zwischenunternehmen für Obama

Jemens Regime kämpft an drei Fronten

Von Mohammad Aburous

Seit Dezember 2009 beteiligt sich die USA direkt an den Kämpfen im Jemen. Die US-Luftwaffe unterstützt das jemenitische Regime im Kampf gegen Al Qaida.


Die derzeitige Eskalation im Jemen ist die größte seit dem "Separationskrieg" von 1994. Im Unterschied zu damals kämpft jedoch das Regime gleichzeitig gegen alle Oppositionskräfte im Land. Die Regierung Saleh befindet sich seit Sommer 2009 in einem Krieg mit den schiitischen Houthi-Milizen im Norden, an dem sich seit November auch Saudi Arabien beteiligt. Die Eskalation der massiven Protestbewegung der Opposition im Süden, geführt von der ehemaligen Regierungspartei des sozialistischen Südjemen, brachte das Regime Salehs in Bedrängnis. Politisch isoliert, musste es eine dritte Front gegen die sunnitische Al Qaida eröffnen, um sich die US-Militärunterstützung zu sichern. Die finanzielle Unterstützung in Form von Ausbildung und Stärkung der nachrichtendienstlichen Kooperation stieg in den letzten Jahren von weniger als fünf Millionen US-Dollar im Jahr 2006 auf 67 Millionen 2009.

Politisch isoliert, musste das Regime eine dritte Front gegen die sunnitische Al Qaida eröffnen, um sich die US-Militärunterstützung zu sichern.

Der jemenitische Staat stützt sich auf Allianzen von Militärs und regionalen Stammesführern, die normalerweise weitgehende lokale Autonomie genießen. Bewaffnung ist im Jemen ein kulturelles Merkmal. Alle Stämme sind im Besitz von (auch schweren) Waffen, die manchmal im Kontext von infrastrukturellen Forderungen und lokalen Konflikten mit dem Staat Einsatz finden. Im Fall von lokalen Forderungen lenkt der Staat meist ein. Nimmt jedoch der Ungehorsam politischen Charakter an, so antwortet das Regime von Saleh mit härtester Repression, wie es im vorigen Jahr wiederholt den Protesten der Sozialisten im Süden erging.

Einerseits auf eine Machtbalance mittelalterlicher Stammesstrukturen aufgebaut, andererseits zunehmend um Saleh und seine Familie zentralisiert, macht das jemenitische Regime das parlamentarische System der "Republik" zur Farce. Saleh, der seit 1978 regiert, bereitet wie andere Amtskollegen im arabischen Raum seinen Sohn auf die Nachfolge vor. Nach der Wiedervereinigung des Jemens im Jahr 1990 war die südjemenitische Sozialistische Partei Regierungspartner. Die erste Regierungskrise führte 1994 zum so genannten "Separationskrieg", der mit einer militärischen Niederlage des Südens endete. Von der 1991 errichteten parlamentarischen Demokratie blieb nach der militärischen Liquidierung des südjemenitischen Regierungspartners nur eine formale Hülle. Nach der Eliminierung der größten politischen Opposition spielte Saleh die widersprüchlichen politischen Kräfte im Land (Islamisten, Linke, Sunniten, Schiiten, Stämme) gegeneinander aus und konzentrierte die Macht im engen Kreis. Die Repression richtete sich meistens gegen die Sozialistische Partei des ehemaligen Südjemens. Dafür galten sowohl die schiitischen als auch die salafitischen Gruppen als Alliierte des Regimes im Kampf gegen die "Kommunisten" im Süden.


Aufstand der schiitischen Houthis

Die bewaffnete Bewegung "Gläubige Jugend" in der nördlichen Provinz Saada, gegründet von Badr El-Houthi, definiert sich als Erhebung gegen die politische, kulturelle und wirtschaftliche Marginalisierung des Gebietes. Die Regierung beschuldigt sie, das 1970 gestürzte monarchistische Regime wiederherstellen zu wollen. Die Unterdrückung der Bewegung 2004 kostete siebenhundert Menschenleben, darunter jenes von Badr El-Houthi.

Auf die jüngste bewaffnete Erhebung der Houthis im Sommer 2009 antwortete das Regime mit größter Schärfe. Seine Offensive ähnelte jener der srilankesischen Armee gegen die Tamilen. Die Machtdemonstration des jemenitischen Regimes lief auf einen Zermürbungskrieg hinaus. Über den Verlauf der Gefechte und über die Verluste ist wenig bekannt. Die saudiarabische und schließlich die US-amerikanische Intervention deuten auf die (anfängliche) Unfähigkeit der jementischen Armee hin, diesen Krieg militärisch zu entscheiden. Als die Houthis eine saudische Militärbasis angriffen, die der jemenitischen Armee als logistische Unterstützung zur Verfügung gestellt wurde, nahm dies Saudi-Arabien zum Anlass, sich an den Kämpfen direkt zu beteiligen. Die saudische Luftwaffe bombardiert seit November Stellungen der Houthis in Saada und arbeitet an der Errichtung einer "Sicherheitszone" entlang der saudisch-jemenitischen Grenzen. Es soll auch zur Anwendung von Phosphor-Bomben gekommen sein. Tausende Menschen mussten aus den Kampfgebieten fliehen. Gleichzeitig überwacht die saudische Marine die Küsten, um etwaige Nachschublieferungen an die Houthis zu verhindern.

Nach wie vor bleibt die militärische Lage im Jemen unklar: Sowohl das jemenitische Regime und Saudi-Arabien auf der einen Seite als auch die Houthis auf der anderen melden territoriale Fortschritte und hohe Verluste des Gegners.

Mit der Absicht, die salafitische Opposition im eigenen Land zu kanalisieren und sich als regionale Macht stärker zu positionieren, mobilisiert Saudi Arabien die sunnitischen religiösen Institutionen. Ziel ist es, die sunnitische Mehrheit im Land gegen die Schiiten aufzuhetzen. Der ursprünglich lokale Konflikt regionalisiert sich einerseits durch die tatsächliche schiitische Solidarität von Seiten des Iran und des Irak, andererseits durch Salehs Anschuldigung gegen diese Staaten, sie würden die Aufständischen militärisch unterstützen. Der Iran warnt seinerseits die Nachbarländer vor Einmischung in die inneren jemenitischen Angelegenheiten und kritisiert jene, die Öl ins Feuer gießen würden. Der iranische Außenminister Muttaki dementierte die jemenitischen Anschuldigungen und warnte vor den Folgen der Repression gegen das jemenitische Volk.

Gerade die Stämme im Nordjemen waren traditionell die royalistischen Alliierten Saudi-Arabiens gegen die einst angefeindete jemenitische Republik und später die Verbündeten von Ali Abdullah Saleh gegen den ehemaligen kommunistischen Südjemen. Der Verlust dieser Allianz bedeutet für beide Regime den Verlust eines wichtigen Stabilitätsfaktors. Gleichzeitig wächst im ganzen Land der Unmut gegen das Regime von Saleh, nicht zuletzt weil die von der Regierung begrüßte Intervention Saudi-Arabiens als Verletzung der nationalen Souveränität Jemens verurteilt wird.


Erhebung des Südens

Im Süden des Landes flammten die Proteste im Frühling 2009 auf. Die südjemenitische Opposition, die bisher für die demokratischen Rechte und gegen die Marginalisierung des Südens aufgetreten ist, fordert heute offen die Separation und die Wiederherstellung des südjemenitischen Staates. Seit April 2009 fielen hunderte Personen der staatlichen Repression zum Opfer. Tausende wurden inhaftiert.

Zum Jahreswechsel nahm die Massenbewegung im Süden schärfere Formen an. In allen Städten fanden "bewaffnete" Demonstrationen statt, die nach "Beendigung der Besatzung" riefen. Die Sozialistische Partei betrachtete die "Dialogbereitschaft" Salehs als ein politisches Manöver des Regimes. Der in Österreich lebende ehemalige südjemenitische Präsident Ali Salem El-Bid rief ebenfalls zur Unabhängigkeit des Südens auf und kündigte seine Rückkehr an. Die militärische Entlastung durch die saudische Intervention verschaffte dem Regime Salehs zweifellos mehr Spielraum gegen den Süden. Dennoch braucht das Regime zusätzliche "Argumente", um internationale, sprich westliche Unterstützung zu bekommen.


Wiederaufnahme des Kampfes gegen Al Qaida

Bisher verfolgte das Regime einen eher moderaten Kurs gegenüber den Al Qaida-Sympathisanten. Es herrschte Waffenstillstand und das Regime versuchte, die Anhänger in zivile Strukturen zu integrieren. Nun griff die jemenitische Armee unter Beteiligung der USA, die bisher die jemenitische Armee nur logistisch und nachrichtendienstlich unterstützt hatte, Stellungen im Süden an, wo Qaida-Kämpfer vermutet wurden. Während die jemenitische Regierung vom Tod von 34 Qaida- Anhängern sprach, berichteten Augenzeugen dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera von mindestens 60 zivilen Opfern, darunter 23 Kinder. Die Bekennung der "Organisation der Qaida in der Arabischen Halbinsel" zum Attentatsversuch von Detroit lenkte die westliche Aufmerksamkeit erneut auf den Jemen und leitete somit Wasser auf die Mühlen von Saleh: Der Attentäter soll bei der Qaida im Jemen eine militärische Ausbildung erhalten haben.

Laut jemenitischer offizieller Quellen verfügt Al Qaida über mehrere Stützpunkte in den schwer zugänglichen Gebieten im Zentrum und im Süden des Landes, wie etwa Abyan, Schabwa, El-Dschof und Maareb. Diese liegen teilweise an der Grenze zu Saudi-Arabien sowie am Golf von Aden. Im nahen Somalia rief die Bewegung der Jungen Mujahidin zur Unterstützung der "Brüder" im Jemen auf. Dies bedeutet eine weitere Regionalisierung der Kämpfe. Für die US-Intervention im Jemen würden die Optionen frei bleiben, ob diese in Richtung Iran oder in Richtung Somalia ausgeweitet werden soll.

Die Länder Jemen und Somalia bieten für US-Präsident Obama eine günstigere Möglichkeit, auf den Anschlagsversuch in Detroit zu antworten.

Die Wende des Regimes gegen Al Qaida deutet auf das Gespür Salehs für einen möglichen Strategiewechsel der USA hin. Wenn anfangs die salafitischen Elemente selbst in einer anti-schiitischen Hetze in der Konfrontation gegen den Iran und seine Alliierten instrumentalisiert wurden, werden diese im Moment zum Ziel der Offensive. Der Kampf gegen die Schiiten wird in den Hintergrund verschoben, da die Konfrontation mit dem Iran zweitrangig bleibt, bis der Ausgang der internen Spannungen abzusehen ist. Mit den Patt-Stellungen im Irak und Afghanistan und der Warteposition bezüglich des Irans muss Obamas Regierung "Erfolge" anderswo verzeichnen. Wo eine Antwort auf den Detroit Anschlagsversuch verlangt wird, bietet im Moment Jemen und das praktisch benachbarte Somalia eine günstige Möglichkeit eines "Zwischenunternehmens" in der Form einer größeren (Luft-)Offensive gegen Al Qaida und die Piraten am Bab-el-Mandeb.


Saleh pokert sehr hoch

Das Regime von Saleh ist in seinem Kampf ums Überleben sehr risikobereit. Dass sich der jemenitische Staat an dieser dreifachen Front völlig zerschlagen kann, dies ist ihm im Moment nebensächlich. Deswegen bemühen sich die USA um eine politische Lösung unter den politischen Streitparteien im Jemen, um sich auf den Kampf gegen Al Qaida konzentrieren zu können. Das Beharren Salehs auf Alleinmacht einerseits und der daraus resultierende Vertrauensmangel bei den anderen wichtigen Kräften der jemenitischen Gesellschaft erschweren jede Vermittlungsbemühung. Das Zerfallen des jemenitischen Staates würde ein neues Somalia auf der arabischen Halbinsel schaffen, das zum Ausgangspunkt der Destabilisierung Saudi Arabiens und der anderen Golfstaaten werden könnte.

Die Beispiele Irak, Afghanistan und schließlich Pakistan zeigen deutlich, dass die Methoden des "Anti-Terror-Krieges" überall zu fast den selben Ergebnissen führen. Obama muss diese Lektion wohl noch lernen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Das jemenitische Militär wird im Kampf gegen die ausschließlich Qaida aufgerieben.

Raute

ARABISCHER RAUM

Zwischen Hammer und Amboss

Ägypten vervollständigt die Gaza-Blockade

Von Mohammad Aburous

Der Würgegriff um den belagerten Küstenstreifen wird noch enger: Ägyptens Politik nahm Ende 2009 mit der direkten Blockade von Hilfslieferungen eine qualitative Wende.


Die von Israel verhängte Blockade hat bisher etwa fünfhundert Menschen das Leben gekostet, die in direktem Zusammenhang mit dem Mangel an medizinischer Versorgung starben. Der Gazastreifen liegt großteils noch in Trümmern, weil Israel unter anderem die Zufuhr von Baumaterialien verhindert. Die lebenswichtigsten Materialien erreichen Gaza über Tunnel, die unter der ägyptischen Grenze verlaufen. Nun will Ägypten eine Stahlmauer entlang der Grenzen mit dem Gazastreifen bauen, die tief in den Boden hineinreicht, um die Untertunnelung zu verhindern.


Die inner-palästinensische Versöhnung

Nach dem Scheitern des so genannten palästinensischen Versöhnungsprozesses, bei dem die ägyptische Regierung der Hauptvermittler zwischen Fatah und Hamas war, hat sich die ägyptische Position hin zu offenem Druck auf die Hamas-Regierung in Gaza verschoben. Es ging um die Eingliederung von Hamas in die PLO, neue Wahlen in den palästinensischen Gebieten und um die Zukunft der Militärformationen der palästinensischen Organisationen. Im September 2009 legte die ägyptische Regierung das palästinensische "Versöhnungsabkommen" vor, das die ägyptische Position widerspiegelte.

Fatah begrüßte den ägyptischen Vorschlag und unterzeichnete das Papier. Dies ist verständlich, da das Abkommen dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA), Mahmoud Abbas, während der vorgesehenen Übergangsperiode viel Macht einräumt, für Hamas jedoch keine Garantien auf demokratische Reformen vorsieht. Das Abkommen möchte auch alle palästinensischen Militärstrukturen in der PNA auflösen. Diese Kräfte unterstünden allein dem Präsidenten, was praktisch das Ende des bewaffneten Widerstands bedeuten würde. Trotzdem drückten die USA der ägyptischen Regierung ihr Missfallen aus, da das Abkommen die Anerkennung Israels seitens der Hamas nicht als Bedingung vorsieht. Das bedeutet, dass auf die PNA amerikanischer Druck ausgeübt wurde, keine ernsthaften Schritte zur Beendigung der internen Konfrontation mit Hamas zu unternehmen.

Der Gazastreifen liegt großteils noch in Trümmern, weil Israel unter anderem die Zufuhr von Baumaterialien verhindert.

Die Unfähigkeit von Abbas, amerikanischem und israelischem Druck zu widerstehen, macht eine ernsthafte Ausführung eines solchen Abkommens unwahrscheinlich. Die Macht mit Hamas zu teilen würde die Rückkehr zu den Umständen unmittelbar nach den Wahlen von 2005 bedeuten, die zum inner-palästinensischen Machtkampf geführt hatten.

Die anderen palästinensischen Organisationen, wie etwa der Islamische Jihad und die PFLP kritisierten den Verlauf der Verhandlungen, in denen es praktisch mehr um eine Teilung der Macht zwischen den beiden großen Organisationen ging als um eine Reform der palästinensischen Politik und Institutionen. Zum Beispiel waren aus unterschiedlichen Gründen weder Fatah noch Hamas wirklich daran interessiert, die PLO zu reformieren.

Hamas teilte den Ägyptern ihre Vorbehalte zu diesem Abkommen mit, betonte jedoch gleichzeitig ihre Bereitschaft, es zu unterschreiben. Die ägyptische Regierung stellte der Hamas indes ein Ultimatum: Unterschreibt sie nicht, endet die ägyptische Vermittlung. Kairo weigerte sich, die Vorbehalte zu diskutieren.

Was die Unterzeichnung des Abkommens jedoch tatsächlich zu Fall brachte, war das Verhalten der PNA bezüglich des Goldstone-Berichts in der UNO. Abbas und die Ramallah-Regierung gerieten unter Beschuss aller politischen Kräfte in Palästina und im arabischen Raum. Die Unterzeichnung des Abkommens just in diesem Moment und unter diesen Umständen hätte auch Hamas ihre Glaubwürdigkeit als Widerstandskraft gekostet. Unter lauten Hochverratsvorwürfen an die PNA wünschte sie eine "Verschiebung" der Unterzeichnung. Diese Entscheidung mag populistisch sein, sie ermöglichte jedoch Hamas dem ägyptischen Druck auszuweichen, wenigstens für einige Zeit.

Dadurch wurden die für den 24. Januar 2010 vorgesehenen palästinensischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf ein unbekanntes Datum verschoben. Abbas kündigte zwar aus Protest gegen das Scheitern der Verhandlungen mit Israel an, er würde bei den nächsten Wahlen nicht kandidieren. Er umschiffte jedoch durch die formal unglöste Situation aufgrund seiner abgelaufenen Amtsperiode als Präsident der PNA eine Klärung der Machtverhältnisse.


Ende der ägyptischen Vermittlung

Seit November 2009 stocken die inner-palästinensischen Verhandlungen. Ab diesem Zeitpunkt wird die Gaza-Blockade hermetischer. Was durch diplomatischen Druck der Ägypter aus Hamas nicht herauszuholen ist, wird durch die Blockade geholt. Die Sprache des Regimes verschob sich von der eines "Vermittlers" zu jener einer politischen Partei, welche die Hamas in Gaza für die israelische Blockade verantwortlich macht, da diese nicht auf die israelischen Forderungen eingeht.

Alle Hilfslieferungen und politischen Solidaritätsaktionen werden blockiert. Der Weg auf den Sinai wird streng kontrolliert. Der "Gaza Freedom March", der Ende Dezember 2009 etwa 1400 Aktivist/innen nach Gaza bringen wollte, war nicht die erste Aktion, die in Kairo gestrandet ist. Die vom britischen Abgeordneten George Galloway angeführte Karawane "Viva Palestina", die über die Türkei, Syrien, Jordanien und schließlich Ägypten nach Gaza wollte, musste im jordanischen Hafen Aqaba umkehren und wieder von Syrien den ägyptischen Hafen Arish ansteuern, nachdem Ägypten die Einreise zum Hafen Nuwabei am Roten Meer verweigert hatte. In Arish warteten weitere Überraschungen auf die Aktivist/innen. Die Hilfsgüter mussten durch israelische Kontrollen gehen und durften nicht über den "Personengrenzübergang" Rafah mitgenommen werden. Die am Hafen protestierenden Aktivist/innen wurden von der ägyptischen Polizei brutal angegriffen.

Gleichzeitig werden die Tunnel mit Hilfe US-amerikanischer und israelischer Experten systematisch gesprengt oder mit Wasser geflutet. Eine Stahlmauer wird entlang der Grenzen in den Boden gelassen. Die sprengungsgeprüften Metallnetze sollen mehrere Meter tief unter die Erde reichen, um neue Tunnel zu verhindern. Es ist anzunehmen, dass diese Maßnahme die ohnehin schlechten humanitären Bedingungen in Gaza weiter verschärfen wird, da die Tunnel praktisch der einzige Weg sind, um unabhängig von israelischer Gnade Lebensmittel, Medikamente und andere lebenswichtige Materialien zu erhalten.


Mubaraks Regime: Herbst des Patriarchen

Derzeit ist die prioritäre Frage für das ägyptische Regime die Vererbung der Macht von Mubarak Senior auf Mubarak Junior. Für diesen Schritt, der innenpolitisch von allen abgelehnt wird, ist Mubarak auf die Unterstützung der USA angewiesen. Dafür kooperiert er mit Israel bei der Aufrechterhaltung der Blockade über Gaza und bei der regionalen Mobilisierung gegen den Iran.

Derzeit ist die prioritäre Frage für das ägyptische Regime die Vererbung der Macht von Mubarak Senior auf Mubarak Junior.

Das regionale Prestige Ägyptens, das seit der Unterzeichnung des Camp David-Abkommens mit Israel 1979 schrittweise zurückging, ist in den letzten Jahren auf Sturzflug. Öffentlich definiert das Regime seine neue Feinde: Iran, die Schiiten, Hamas und Algerien (nach dem verlorenen Fußball-WM-Qualifikationsspiel, das aufgrund der darauf folgenden Krawallen zum Politikum zwischen beiden Staaten wurde).

Hingegen nimmt die Bedeutung der Türkei als Vermittler zu. Ankara, selbst einst der wichtigste Verbündete der USA, bietet sich als Stabilisierungsfaktor in der Region an. Während sich die türkischen Militärs zur Iran-Frage eher neutral geben, verweist die Regierung auf die islamische Brüderlichkeit. Im Gegensatz zu Mubaraks Regime, das als willenlose Marionette der USA erscheint, konnte die Türkei das Bild eines "Vermittlers" bewahren. Im arabischen Raum steigt die Sympathie für Erdogans Regierung, die zumindest der Schein umgibt, den Israelis die Stirn zu bieten.


Tödlicher Stillstand in Gaza

Die langsamen regionalen Veränderungen werden sich auch in Gaza bemerkbar machen. Bis dahin sind die Palästinenser mit der kalten Realität einer uneingeschränkten israelischen Brutalität konfrontiert, die in der Weltgemeinschaft Tag für Tag selbstverständlicher wird. Die Kooperation der arabischen Regime gegen den palästinensischen Widerstand wird ebenfalls Tag für Tag unverschämter.

Der Stillstand in Gaza wird sichtbar in der die Farce der "nationalen Versöhnung" zwischen Hamas und Fatah, dem praktisch einseitigen Waffenstillstand mit Israel und das Fehlen einer neuen politischen Strategie des palästinensischen Widerstands. Hingegen sind die israelische Blockade und die neue ägyptische Mauer die einzigen harten Tatsachen zu Jahresbeginn 2010.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Eine Demo vor der Botschaft Ägyptens in der libanesischen Hauptstadt Beirut.

Raute

ARABISCHER RAUM

"Das Problem ist ein Politisches"

Interview mit Juliano Mer-Khamis

Von Bjarne Köhler

Das Freedom Theatre gastierte im Oktober in Österreich. intifada befragte den palästinensischen Künstler zur aktuellen Situation in seiner Heimat.


intifada: 2006 haben Sie das Freedom Theatre in Jenin gegründet. Was war das Ziel des Projektes?

Mer-Khamis: Theater ist für mich eine Werkstatt für Ideen, Debatten, Argumente, Konflikte und kritisches Denken. Es geht darum, seine Identität neu aufzubauen, seine großen Erzählungen neu zu schreiben. Es geht darum, sich selbst als Künstler zu entwerfen, als Mensch, als Nation, als Bewohner eines Gebietes, das durch sieben Jahre permanenter Überfälle, Ausgangssperren und Belagerungen von den Israelis zerstört wurde. Israel war sehr erfolgreich darin, die kulturelle Struktur des palästinensischen Volkes zu zerschlagen und wir versuchen nun - zumindest in Jenin - sie wieder aufzubauen. Dabei meine ich nicht nur Musik und Theater, sondern Kultur in einem sozialen und politischen Sinne, im Sinne der Förderung von Solidarität und Kooperation. Für mich ist Kultur nicht nur Dabka und Tschaikowski, sondern die feingliedrigste Struktur, die Menschen verbindet.

Israel war erfolgreich in seinem Unternehmen, die kulturelle Struktur des palästinensischen Volkes zu zerschlagen, wir versuchen sie wieder aufzubauen.

intifada: Sie arbeiten nun schon seit mehr als 15 Jahren mit Kindern. Können Sie beschreiben, wie sich die israelische Besatzung auf die Entwicklung von Kindern auswirkt?

Mer-Khamis: Ich kann nur vom Flüchtlingslager in Jenin berichten. In diesem Lager sind 58 Prozent der Bevölkerung, also etwa 8500 Menschen, unter 18 Jahren. Bei dreitausend von ihnen wurde eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt, wobei das Wort posttraumatisch der Sache nicht ganz gerecht wird, da das Trauma andauert. Und Trauma bedeutet hier nicht, dass das Kind einen Unfall sieht und dann davon träumt, sondern das andauernde Trauma in Jenin äußert sich in Menschen, denen die Grundlage ihrer Existenz als menschliche Wesen abhanden kommt. Jene Grundlage, die sie dazu befähigt, sich selbst in Zeit und Raum zu verorten und sich der Sicherheit der eigenen Existenz gewiss zu sein.

Diese Hülle, die einem westlichen Menschen als selbstverständlich erscheint, fehlt uns. Was für euch das Leben ist, ist für uns der Tod, etwas, mit dem wir täglich konfrontiert sind. Das ist ein abnormaler Zustand, vor allem für Kinder. Kinder, die täglich mit dem Tod konfrontiert sind, werden zu wandelnden Toten. Diese Menschen haben keinerlei Sicherheit, kein Selbstvertrauen in ihre eigene Existenz. Sie haben keinen Bezug zur Zeit, das heißt, sie haben keine Zukunft. Ich nenne sie wandelnde Tote.

Von diesen wandelnden Toten geht das Phänomen der Selbstmordanschläge aus, die eine Folge der Zerstörung des Nervensystems durch die Besatzung darstellen. Wenn man in die Zeit vor den Selbstmordanschlägen schaut, so findet man Kinder, die stottern, die nicht sprechen können, die kaum blinzeln und sich nicht konzentrieren können. All ihre Beziehungen zur Umgebung, sei es zu Eltern, Freunden oder Lehrern, sind durch Gewalt geprägt, weil es sonst nichts gibt. Alles was sie im Laufe der Zeit in sich aufnehmen können, ist die Gewalt der Besatzung und so wird die Gewalt zum einzigen Mittel, mit dem sie mit ihrer eigenen Gesellschaft und ihrer Umgebung zu kommunizieren lernen.

intifada: Kann das Theater helfen, diese Probleme zu überwinden?

Mer-Khamis: Diese Dinge sind immer zu wenig und zu langsam, weil man sich einer totalen Zerstörung gegenübersieht. Es ist ein kleines Theater und ein kleines Flüchtlingslager, nicht mehr als ein Tropfen im Meer, aber immerhin ist es ein Tropfen. Wir hoffen immer, dass, wenn jeder seinen Tropfen dazu gibt, daraus irgendwann eine Welle wird, Inshallah. Aber es ist sehr schwierig, den Erfolg des Projektes zu messen oder eine klare Linie des Fortschritts zu erkennen, weil es auch Sprünge gibt.

Wir erleben die Entwicklung einer Ghettomentalität, das Aufkommen von Xenophobie, die Rückkehr zur Tradition, weil die Sozialstruktur zerstört wurde, die Rückkehr zu Stammesbeziehungen. Israel hat uns erfolgreich um hundert Jahre zurückgeworfen. Wir sind wieder zurück auf dem Esel, sowohl geistig als auch physisch. Unter diesen primitiven Verhältnissen sind es die Frauen, die den Großteil der Last tragen. Daher ist die Situation der Frauen auch ein Indikator für den Zustand der Gesellschaft insgesamt. Es ist gefährlich für Frauen hinauszugehen. Sie sind schwach, sie können umgebracht oder vergewaltigt werden - vor allem in der Nacht, denn die Nacht ist in Palästina der Tod.

Es ist für eine Frau auch nicht angebracht, als Schauspielerin auf der Bühne zu stehen, sich selbst zu präsentieren, andere Schauspieler zu berühren und zu tanzen. Es entspricht nicht dem Islam und der Tradition. Aus all diesen Gründen hatten wir vor vier Jahren bloß eine Frau bei uns, aber heute haben wir bereits mehr Frauen als Männer. Das ist ein Indikator. Niemand hätte das vorhersehen können, aber plötzlich haben wir eine große Anzahl an Frauen, plötzlich akzeptieren Leute das Theater, die es zuvor abgelehnt haben, plötzlich können wir auf Tournee gehen und herumreisen. Stellen Sie sich vor, diese Jungs haben noch nie zuvor das Lager verlassen. Sie sehen zum ersten Mal einen Zug.

intifada: Abgesehen vom Einfluss des Theaters, wie würden Sie allgemein die aktuelle Stimmung der Bevölkerung im Gebiet um Jenin beschreiben? Wird es eine neue Intifada geben?

Mer-Khamis: Ich glaube, dass es um die Stimmung momentan sehr schlecht bestellt ist. Wir versuchen, die Hoffnung zurück zu bringen, aber wir sehen uns einer zerstörten Nation gegenüber, so dass die meisten von uns mit den grundlegenden Dingen des Lebens beschäftigt sind: Unterkunft, Elektrizität, Wasser, Unterricht. In dieser Situation gibt es nicht viel Platz für Hoffnung. Die Hoffnung ist begraben unter Ruinen - nicht nur denen der Häuser, sondern auch denen der Seele - doch sie kommt zurück. Sie kommt zurück, aber langsam. Doch selbst wenn sie zurückkehrt, wird sie gefangen sein zwischen elektrischen Zäunen und Mauern aus Beton. Was auch immer mit unserer Hoffnung passiert, eines Tages - ich weiß nicht wann - werden wir erneut versuchen, aus diesem Gefängnis auszubrechen. Daher denke ich natürlich, dass es in ein paar Jahren eine neue Intifada geben wird. Die Menschen werden sich den israelischen Apartheidbedingungen nicht beugen. Sie werden rebellieren. Wir hoffen, dass unsere Jugend mit den Mitteln rebelliert, die ihnen das Freedom Theatre bietet. Ich hoffe, dass sie mit Kameras schießen, nicht mit Gewehren, dass sie die Werte der Freiheit gegen die israelischen Panzer benutzen. Ich klinge vielleicht naiv, aber in den Neunzigern war es genau so. Ein Kind mit einem Stein hat sich einem der größten und modernsten Panzer des Westens - dem israelischen - in den Weg gestellt. Es ist also möglich, nicht nur meine naive Träumerei. Man kann den schlimmsten Feind mit seinen bloßen Händen besiegen.

intifada: Was ist Ihre Vision für die Lösung des Konfliktes? Einstaatenlösung? Zweistaatenlösung?

Mer-Khamis: Ich unterstütze überhaupt keine Staaten. Ich unterstütze nur das Zusammenleben von Menschen. Das "Wie" interessiert mich nicht sonderlich. Ob man es nun zwei Staaten, vier Staaten, ein Staat, sechs Staaten, Föderation, Kooperation oder sonst wie nennt, ist mir egal. Für mich ist klar: Ich bin der Sohn eines Arabers und einer Jüdin, eines Palästinensers und einer Israelin, und ich glaube, dass dies unser Schicksal als Palästinenser und Israelis ist: Nicht nur miteinander ins Bett zu gehen, sondern auch miteinander zu leben. Wie die technische Umsetzung aussieht, kann man den Geschäftsleuten und Politikern überlassen. Das Prinzip der israelischen Politik und Ideologie läuft auf Trennung hinaus, auf Apartheid, auf ethnische Gebilde, Ethnokratie, Mauern, Zäune. Alles was ich tue, ist gegen die Trennung gerichtet. Wie und wann ist nicht wichtig, wichtig ist nur die Perspektive, wie wir zusammenleben möchten: Seite an Seite oder einer über dem anderen.

"Das Prinzip der israelischen Politik und Ideologie läuft auf Trennung, Apartheid, auf ethnische Gebilde, Ethnokratie, Mauern und Zäune hinaus."

intifada: Sind sie optimistisch, dass sich für dieses Zusammenleben eines Tages eine Mehrheit in der israelischen Gesellschaft finden wird?

Mer-Khamis: Sie leben doch bereits jetzt zusammen. In Apartheid zwar, aber doch. Sie können es nicht vermeiden, das werden sie irgendwann einsehen müssen. Aber was die Art des Zusammenlebens betrifft, wie wir sie uns vorstellen: Nein, dafür gibt es keine Mehrheit, allerdings auch nicht bei den Palästinensern. Ich denke, es wird Zeit brauchen und das Prinzip muss sich ändern. Die Israelis sind in keinster Weise bereit, sich selbst als Teil des Nahen Ostens zu begreifen. Sie schüren die Vernichtungsängste, was das Gegenteil von Zusammenleben ist. Immer mehr schüren sie die Angst mit Worten wie Vernichtung, Hitler, Holocaust, Ahmadinejad, Iran, Atombombe... Es geht also genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie bauen keine Nation auf, die sagt: "Okay, wir sind aus Europa gekommen, weil uns die Deutschen und Österreicher verfolgt haben. Jetzt müssen wir die Geschichte beiseite lassen und eine neue Beziehung aufbauen, sonst werden wir womöglich eines Tages wirklich noch ausgelöscht."

Ich meine, wie lange wird Israel nur Dank seiner F16 überleben? Ewig? Wollen sie ewig im Kriegszustand leben? Nein, ich glaube, dass sich ihre Einstellung ändern wird. Die Palästinenser haben hier weniger Probleme, weil sie von der Mentalität her immer noch eine bäuerliche Gesellschaft sind. Sie sind weniger rassistisch und teilen die Welt weniger in Kategorien wie "mein" und "dein". Es ist eine offenere Gesellschaft, die eher bereit ist, den Anderen zu akzeptieren und die weniger auf ethnischen, rassistischen Ordnungen, Konzepten und Ideologien aufgebaut ist. Sie waren immer besetzt und hatten daher nicht einmal die Gelegenheit, diese neurotische, narzisstische ethnische Einstellung hervorzubringen. Sie sind daher eher bereit, die Israelis als Partner zu akzeptieren, als dies umgekehrt der Fall ist.

intifada: In Ihrem Film "Arnas Kinder" zeigen Sie, wie sich Kinder unter den Bedingungen der Besatzung von Schauspielern im Theater zu Widerstandskämpfern und sogar zu Selbstmordattentätern wandeln. Glauben Sie, dass Ihr Film die öffentliche Meinung in Israel über den palästinensischen Widerstand verändert hat? Ist Kunst im allgemeinen der Schlüssel, um die beiden Völker zu versöhnen?

Mer-Khamis: Als Regisseur des Films hoffe und glaube ich natürlich, dass ich etwas verändert habe. Ich habe auch Leute getroffen, die mir erzählten, dass der Film sie verändert hat. Aber ich glaube nicht, dass ein einzelner Film wirklich viel verändern kann. Auch allgemein wäre es Naivität zu denken, dass Kultur, dass Bach und Chopin Völker zusammenbringen kann. Wir sollten nicht vergessen, dass Goebbels und Eichmann Mozartliebhaber waren. Das schützt uns vor überhaupt nichts, vor keiner Barbarei.

Ich denke, dass Kunst ein Ort sein kann, um zu reflektieren, um Ideen hervorzubringen, um das kritische Denken der Menschen zu fördern. Sie kann jungen Menschen - speziell an Orten wie diesen - die Möglichkeit geben, sich auszudrücken, ihre Botschaft zu verbreiten, sich vor andere hinzustellen und zu reden. Aber das ist nicht die Lösung. Das Problem im Nahen Osten zwischen Palästina und Israel ist kein Problem des Gefühls oder der Kunst, sondern ein politisches Problem.

Manche Menschen versuchen das zu verschleiern, indem sie es als Problem zwischen zwei Völkern darstellen, aber das ist nicht der Fall. Es geht hier nicht um Dialog, Händchenhalten oder gemeinsam auf die Toilette gehen. Es ist ein politisches Problem einer Nation, die ein anderes Gebiet besetzt und ethnisch gesäubert hat. Das ist es, was in Palästina los ist. Es ist eigentlich ganz einfach. Es wurde zwar im Laufe der Jahre etwas komplizierter, aber das Grundproblem ist das von Besatzer und Besetzten. Und wenn man Besatzer und Besetzte 24 Stunden in eine Sauna sperrt, wird es das Problem auch nicht lösen, weil sie genauso rauskommen werden, wie sie hineingegangen sind. Sie verstehen einander vielleicht besser, aber der Besatzer wird immer noch den Besetzten besetzen. Es ist also ein politisches Problem. Ich glaube durchaus, dass diese Art von künstlerischem Austausch und Dialog der Mehrheit auf beiden Seiten helfen kann, über Lösungen zu verhandeln, aber die Lösung wird nicht vom Theater kommen, sondern vom Widerstand gegen die Besatzung.

intifada: Halten Sie den kulturellen Boykott für einen vernünftigen Weg, um Druck auf Israel auszuüben?

Mer-Khamis: Ich unterstütze den Boykott ganz klar und ohne jeden Zweifel. Ich denke, die Leute sollen Druck auf Israel ausüben. Israel darf sich nicht benehmen, als ob nichts wäre, denn es ist nun mal keine normale Situation. Ich wäre allerdings sehr vorsichtig damit, was und wen ich boykottiere. Gerade Kultur sollten wir, denke ich, nicht boykottieren. Man kann die Wirtschaft boykottieren, oder die Institutionen, die Kultur als Propagandawerkzeug missbrauchen. Man kann akademische Institutionen boykottieren, welche die Besatzung unterstützen, aber ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, einen Film zu boykottieren. Ich boykottiere den Regisseur des Films, der ihn im Sinne der israelischen Propaganda einsetzt, aber ich würde nicht prinzipiell Kultur boykottieren.

Das Interview führte Bjarne Köhler


ZUR PERSON:

Juliano Mer Khamis wurde im Jahr 1958 in Nazareth in eine "Mischehe" geboren. Sowohl der arabische Vater als auch die jüdische Mutter waren politische Aktivisten. Benannt wurde er nach Joul Jamal, einem arabischen Marineoffizier aus Syrien, der 1956 im Suez-Krieg in einem Kamikaze-Angriff das französische Kriegsschiff Jean-Bart versenkt hatte. Die Mutter, Arna Mer, war eine bekannte politische Aktivistin. Ihre Rolle im Kindertheater im Flüchtlingslager Jenin ist das Thema von Julianos Films "Arna's Children". Der Vater, Saliba Khamis, war ein prominentes arabisches Mitglied der Israelischen Kommunistischen Partei in den 1950ern und 1960er Jahren. Beide Eltern verließen 1968 die Partei aufgrund ihrer negativer Haltung zur Forderung der neuen palästinensischen Befreiungsbewegung nach einem demokratischen säkularen Staat in ganz Palästina. Sie schlossen sich dem politischen Kampf der Palästinenser an.

Julianos Karriere als Schauspieler begann im israelischen Fernsehen und in der israelischen Theaterszene. Seine erste Filmrolle hatte er 1984 im US-amerikanischen Film "Die Kleine Trommlerin" von G.R. Hill. Sein bekanntestes Werk ist der Dokumentarfilm "Arnas Kinder", der einerseits die Arbeiten seiner Mutter während der ersten Intifada (1987-1993) dokumentiert und andererseits die Kämpfe in Jenin dokumentiert. Aus den Hauptfiguren des Kindertheaters machte die Realität des Lagers Hauptfiguren des Widerstands gegen die israelische Besatzung. So ist Zakaria Zubaide, Anführer der Aqsa-Brigaden, Protagonist in beiden Episoden.

Das Erscheinen von "Arnas Kinder" rief eine Welle von internationaler Unterstützung hervor, die eine Wiederaufnahme des Theaterprojekts in Jenin ermöglichte. 2006 eröffnete Mer-Khamis gemeinsam mit den aus Schweden stammenden israelischen Aktivisten Jonatan Stanczak und Dror Feiler das Projekt Freedom Theatre Jenin.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Für Mer-Khamis ist die Arbeit auf der Bühne eine Form des politischen Aktivismus.

Das Freedom Theater thematisiert den Alltag der Palästinenser.

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INTERNATIONAL

People's Power versus Islamofaschismus?

Der Kampf in Teheran spitzt sich zu

Von Wilhelm Langthaler

Die blutigen Straßenkämpfe in Irans Städten und die internationale Berichterstattung weisen auf einen entscheidenden Zusammenstoß mit internationaler Beteiligung hin.


Um sich jedoch eine Idee über den Ausgang des Konflikts machen zu können, muss zuerst mit dem manichäischen Bild, wie es die hiesige Meinungsmache zeichnet, aufgeräumt werden. Es handelt sich nicht um verzweifelt nach Demokratie ringende Volksmassen, die mit einem islamofaschistischen Regime zusammenstoßen, gegen jenes die opportunistischen westlichen Staatskanzleien überdies nur zögerlich Unterstützung gewähren würden. So lautet nicht nur das Narrativ der Medien, sondern auch großer Teile der ehemaligen Linken, der iranischen mit eingeschlossen, sowie der Neocons.(1)

Tatsächlich verläuft der Bruch mitten durch die Eliten der Islamischen Republik selbst. Die Spitzen der Opposition sind jene, die über ein Vierteljahrhundert die Geschicke des Staates gelenkt haben. Wir sprechen über einen Großteil des schiitischen Klerus gemeinsam mit der Wirtschaftselite verkörpert durch den reichsten Mann des Landes, den ehemaligen Präsidenten und amtierenden Vorsitzenden des Schlichtungsrates, Ayatollah Hashemi Rafsanjani.

Der soziopolitischen Krise des Systems in den 1990er Jahre versuchte die heutige Opposition mit vorsichtigen liberalen Reformen hin zum Westen (angelehnt an die IWF-Rezepte) beizukommen, ohne jedoch ihre Herrschaft gefährden zu wollen. Im Gegenteil, es ging ihnen um die Stabilisierung des Systems. Für einige Jahre erhielten sie dafür breite Unterstützung, doch die sozialen als auch die politischen Hoffnungen des Volkes wurden schwer enttäuscht. Die Reformer scheiterten schließlich.

Das ermöglichte den Aufstieg Ahmadinejads, der eben gerade nicht aus dem klerikalen Establishment stammt. Er kombinierte den sozialen Protest des Volkes mit der Erneuerung des für die Islamische Republik konstitutiven Antiimperialismus und einem radikalen Kulturkonservatismus. Im Bündnis mit den Revolutionsgarden (Pasdaran), denen er gleichzeitig überhand nehmenden Einfluss auf die Wirtschaft des Landes gegen die klerikalen Profiteure verschaffte, konnte er die alte Elite in Schach halten. Wir haben diese Konstellation bereits analysiert, die Ahmadinejads Wahlerfolge als durchaus plausibel erscheinen lassen.(2)

Unter diesem Gesichtspunkt wirken der Ruf Rafsanjanis nach mehr Demokratie und Mussavis präventive Selbststilisierung zum Märtyrer nicht allzu glaubwürdig. Vielmehr scheint dem einfachen Volk klar, dass es jenen mehr um den Erhalt ihrer Positionen geht, um nicht überhaupt Pfründe zu sagen.

Unter diesem Gesichtspunkt wirken der Ruf Rafsanjanis nach mehr Demokratie und Mussavis Selbststilisierung zum Märtyrer nicht allzu glaubwürdig.

Das bedeutet jedoch nicht, dass alle grünen Demonstranten Anhänger Rafsanjanis und Mussavis wären. Tatsächlich geht die Bewegung weit darüber hinaus und tendiert zu Positionen, die die Islamische Republik überhaupt in Frage stellen. Getragen vom städtischen, gebildeten Mittelstand könnte sie auf sich allein gestellt, ohne die Unterstützung der Rafsanjani-Fraktion (ganz zu schweigen ohne jene des Westens) niemals die Bedeutung erlangen, die sie heute hat - nämlich als offene Herausforderung der herrschenden Koalition Ahmadinejad-Pasdaran.

In der gegebenen Konstellation, bei der immer die Parteinahme seitens des Westens mitgedacht werden muss, kann die grüne Bewegung keine fortschrittliche Rolle spielen - so legitim einzelne demokratische Forderungen auch sein mögen. Sie dient gewollt oder ungewollt der Koalition Rafsanjani-Westen gegen Ahmadinejad, der das antiimperialistische Moment des Regimes verkörpert. Ahmadinejads Niederlage würde unweigerlich zur Etablierung eines Regimes führen (ob islamisch oder nicht ist sekundär), das zumindest US-freundlicher wäre, wenn nicht eine gänzliche Marionette. Die Unterstützung, die der Iran dem Widerstand nicht nur im Libanon und in Palästina zuteil werden lässt, wäre dahin.

Die Tatsache, dass Mussavi sich in besonders harscher Art und Weise hinter das Atomprogramm stellt, sagt uns in erster Linie, wie groß die Unterstützung für die harte Linie ist. Die Dynamik macht seine Koalition dennoch zu jenen, die gegenüber dem Westen nachgeben würden. Erinnern wir uns an Jugoslawien. Kostunica attackierte Milosevic, weil dieser angeblich die serbischen nationalen Interessen nicht ausreichend vertreten würde. Er trug maßgeblich zu seinem Sturz bei, der schließlich zu einem prowestlichen Regime führte, mit dem der Westen Schlitten fährt.


Warum die Härte?

Alle Vermittlungsversuche innerhalb des Apparats scheinen bisher gescheitert zu sein, obwohl es Stimmen und Versuche in diese Richtung gab - zuletzt von Mohsen Rezai, dem ehemaligen Kommandanten der Pasdaran und unterlegenen Präsidentschaftskandidaten.(3) Rafsanjani und Mussavi sind bisher hart geblieben und verweigern Ahmadinejad die Anerkennung als Präsident. Damit beschädigen sie zunehmend die Position des ungewählten Staatsoberhauptes Khameini. Im Schutz der Opposition aus dem Apparat konnte auch die Opposition auf der Straße Kontinuität und Hartnäckigkeit zeigen. Damit stellen sie ein echtes Problem für die herrschende Koalition dar.

Im Gegensatz zum westlichen Medienapparat, von dem man meinen könnte, er glaube die Niederlage Ahmadinejads herbeischreiben zu können, verfügt letzterer unseres Erachtens über die strategisch besseren Karten. Der Spagat der Opposition zwischen Loyalität gegenüber der Islamischen Republik und Anlehnung an den Westen ist nicht hegemoniefähig.

Die Proteste haben an Schwung und Beteiligung stark abgenommen. Gegen ein paar Zehntausend Demonstranten ist leicht vorgegangen. Von einem Zerfall des Staatsapparates kann daher keine Rede sein. Und mit Leichtigkeit mobilisierte Ahmadinejad Hunderttausende zu Gegendemonstrationen auf die Straßen. Ahmadinejad mag gemeint haben mit dosierter Repression und Versöhnungsangeboten hinter den Kulissen den offenen Riss kitten zu können. Diese Option scheint aufgrund der Ablehnung durch die Führer der Opposition nun immer unwahrscheinlicher zu werden.

Der Spagat der Opposition zwischen Loyalität gegenüber der Islamischen Republik und Anlehnung an den Westen ist nicht hegemoniefähig.

Freilich behält auch die Opposition einen Trumpf im Talon, der sie an die Islamische Republik bindet. Sie genießt die Unterstützung weiter Teile des Klerus. So sehr Ahmadinejad sich vom Klerus auch absetzen mag, ohne diesen verlöre die gesamte Islamische Republik ihre Legitimation. Wagen wir für einen Augenblick ein Gedankenexperiment: Ein islamisches Regime ohne oder sogar gegen den Klerus, gestützt auf eine eigenartige Koalition aus Antiimperialismus der Volksmassen sowie ihrem Anspruch auf soziale Gerechtigkeit, den Revolutionsgarden und ihrem Business-Imperium und zu guter letzt den radikalsten religiösen Eiferern? Das wird nicht reichen. Ein solches Regime wäre zu schwachbrüstig, es fehlte an Hegemonie, um dem inneren und äußeren Feind, also dem Rest der Welt, trotzen zu können.

Wenn also der finale Befreiungsschlag gegen die Rafsanjani-Gruppe nicht möglich ist, muss von der Fortsetzung des Machtkampfes ausgegangen werden. Ahmadinejad wird wohl versuchen müssen, nicht nur mittelmäßige Figuren, sondern auch einige Führer der Opposition exemplarisch auszuschalten, um die Gegner politisch zu enthaupten. In der Folge könnte er dann mit versöhnlichen Gesten versuchen größere Teile des Apparats einschließlich des Klerus wieder ins Boot zu holen. Letztlich gibt es die Fraktionskämpfe seit Entstehung der Islamischen Republik und dieser Pluralismus der Tendenzen bleibt für sie konstitutiv.

Über die Konstatierung eines Vorteils für die herrschende Koalition Ahmadinejad-Pasdaran, haben weitere Prognosen wenig Sinn und Wert. Entscheidender Faktor in diesem Konflikt stellt die Konfrontation mit dem Westen dar.


Ultima ratio: Krieg

Mit Jahresende 2009 lief ein wichtiges Ultimatum des Westens hinsichtlich der Urananreicherung ab. Der Iran will sein Uran nicht hergeben, um es in Russland und Frankreich bis zur Verwendbarkeit weiter anreichern zu lassen. Sein plausibles Argument: zu oft wurden sie vom Westen in der Atomfrage betrogen. Auf den iranischen Gegenvorschlag ging man nicht einmal ein: Quasi als Unterpfand für das aus der Hand gegebene Material, verlangte Teheran bereits vorab einen Teil des Endprodukts.(4)

Dem Westen geht es primär darum, halbwegs überzeugende Argumente zu produzieren, die ein weiteres Drehen an der Sanktionsspirale möglich machen. Davon wird wohl die unmittelbar nächste Zeit geprägt sein. Hauptaufgabe dabei ist es, die "internationale Gemeinschaft" hinter den Westen zu bringen, d. h. vor allem China und Russland dazu zu bewegen, zumindest gewisse Schritte gegen den Iran mitzutragen. Diese zögern jedoch gute Miene zum bösen Spiel zu machen, trotz Zuckerbrot und Peitsche aus Washington. Geht es im Grunde doch darum ihren multipolaren Anspruch dadurch zunichte zu machen, dass man Teheran in die Knie zwingt. Auf diesem Weg der Diplomatie und der Sanktionen gibt es für den Westen jedenfalls eine gewisse Grenze, über die er nur alleine hinausgehen kann. Diese scheint eher früher als später erreicht.

Entscheidender Faktor für die Politik des Westens wiederum bleibt die Entwicklung im Iran selbst. Der Machtkampf innerhalb der Islamischen Republik gibt den Herren der Welt Hoffnung auf einen "regime change". Doch allein mit medialem Dauerfeuer lässt sich kein unliebsames Regime kippen, das über breite Unterstützung in den subalternen Klassen verfügt. Da wird der große transatlantische Bruder und sein engster Verbündeter in Nahost schon etwas nachhelfen müssen.

Die nahe liegende Variante ist ein begrenzter israelischer Angriff auf die iranischen Nuklearanlagen. Dieser dient schon seit geraumer Zeit als Rute im Fenster der US-Diplomatie. Erst im Dezember 2009 drohte Obama gegenüber dem chinesischen Präsidenten Hu, dass er Israel nicht mehr lange an der Leine würde halten können.(5) Solange Russland entgegen seinen vertraglichen Verpflichtungen kein modernes Luftabwehrsystem an den Iran liefert, scheint Israel militärtechnisch durchaus in der Lage einen solchen Schlag durchzuführen.(6)

Die Auswirkungen auf den Ringkampf in Persien sind von niemand wirklich abzusehen. Einerseits wäre die Zerstörung des Atomprogramms ohne ernsthafte Gegenwehr eine nationale Schmach größten Ausmaßes. Das zählt in einem Land, das geschlossen hinter den Nuklearprogramm sowie den Ambitionen auf eine Regionalmachtrolle steht. Doch wer den politischen Preis für die abzusehende Teilniederlage zu tragen haben wird, lässt sich schwer sagen. War es nicht Ahmadinejad, der ständig vor der Gefahr einer israelischen Aggression gewarnt hatte? Nachdem die Zerstörung der Nuklearanlagen keine direkten Auswirkungen auf das Funktionieren der Gesellschaft hätte (im Gegensatz zu den das soziale Gefüge zerrütteten Angriffen auf Jugoslawien oder den Irak), könnte die Folge auch eine weitere Steigerung des Hasses auf die USA & Co sein und damit eine weitere Stärkung der antiimperialistischen Kräfte im Iran.


Quellen:
1. Hayes Stephen F.: 2010: Regime Change in Iran. Engagement Didn't Work, in: Weekly Standard, Nr. 16, 2010.

2. Langthaler, Wilhelm: ... und es gibt ihn doch. Antiimperialistischer Impetus des Iran, in: intifada, Nr. 29, 2009.

3. Rezaei: Mousavi's 'retreat' can help bring unity, auf www.presstv.ir, 2.1.2010.

4. Porter, Gareth: Der kurze Moment der Möglichkeit. Wie die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm scheiterten, in: Le Monde diplomatique, Nr. 9062, 2009, S. 4-5.

5. Obama told China: I can't stop Israel strike on Iran indefinitely, auf www.haaretz.com, 17.12.2009.

6. Langthaler, Wilhelm: Obama: 'Können Israel nicht ewig vom Angriff auf den Iran abhalten', auf www.antiimperialista.org, 22.12.09.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Ein Demonstrant der Opposition in Teheran: Der Druck des Westens auf das Land steigt.

Ein Junge spielt vor einer Wand mit politischen Plakaten in den Straßen Teherans.

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INTERNATIONAL

Aufziehender Sturm

Rettet China den Kapitalismus?

Von Wilhelm Langthaler

Von Obana ist der Lack ab. Der US-Krieg geht unvermindert weiter. Während vom Ende der Wirtschaftskrise gesprochen wird, rückt China ins Zentrum der Aufmerksamkeit.


Als die Antiimperialistische Koordination (AIK) unmittelbar nach der US-Präsidentenwahl vor den Hoffnungen in Obama warnte(1), mussten wir in gewohnter Weise große Einsamkeit in Kauf nehmen. Unser Argument: Der Imperativ der Weltmachtinteressen macht jeden Präsidenten zu seinem Werkzeug, ob er will oder nicht. Just als die große Euphorie schon vorbei war, verlieh man Obama noch den Nobelpreis, so als wollte man einen Geist beschwören, dessen man nicht mehr habhaft werden kann. Nicht die Linke, sondern seine Gegner in den Eliten begannen zu witzeln, dass ihm die Auszeichnung dafür verliehen worden wäre, weil er eben noch nichts machen habe können.

Nun, ein Jahr nach seinem Amtsantritt ist klar, dass der globale Krieg der USA um ihre Weltherrschaft fortgeführt wird, wenn auch nicht mit der gleichen missionarischen Verve.

Symbol dafür ist Afghanistan, wohin der "Friedenspräsident" weitere 30.000 Truppen entsendet. Damit reicht das "war theater" am Hindukusch von der Dimension an den Irak heran, nicht nur was die Truppenstärke der westlichen Besatzer betrifft, sondern auch hinsichtlich des Niveaus des Widerstands.

Im Irak kamen die USA mit einem blauen Auge davon, aber nur weil sie die Macht mit dem persischen Rivalen teilen - und sich gleichzeitig damit die Probleme auf einer anderen Baustelle ihres Weltreichs vergrößern. Die Analogie für Afghanistan wäre die Einbindung der Taliban, was nicht ausgeschlossen werden kann, denn eine rein militärische Lösung ist unmöglich. Doch der zu zahlende Preis wäre noch höher als im Irak, denn es käme einer direkten Anerkennung des Widerstands gleich. Gratis werden die USA die Schluchten des Hindukusch also nicht mehr verlassen können. Die Frage ist vielmehr der Zeitrahmen und die Kosten der Rekonfiguration des regionalen Bündnissystems. Mit guter Wahrscheinlichkeit kommt dabei ein Sieg nach Punkten für den Widerstand heraus.

Im Irak kamen die Vereinigten Staaten noch mit einem blauen Auge davon, aber nur, weil sie die Macht mit ihrem persischen Rivalen teilen.

Bereits jetzt strauchelt der alte US-Verbündete Pakistan unter der Last des Krieges. Aber ein Zurück zum alten Zustand gibt es nicht. Es ist nicht nur der politische Islam, dessen Pate Pakistan war, zum Hauptfeind der USA aufgestiegen, Washington hat mit New Delhi nicht nur Freundschaft geschlossen, sondern sieht es als einziges mögliches Gegengewicht zu China. Die ehemalige Sonderstellung Pakistans als wichtigster US-Verbündeter in der Region ist weg. Neben dem von Islamabad wohl oder übel zu unterstützenden US-Krieg wird auch die Wucht der Wirtschaftskrise zur Schwächung der Staatsmacht im "Land der Reinen" (Pakistan) beitragen.

Nahost bleibt indes das größte Pulverfass. Hamas hält trotz schleichendem Völkermord in Gaza durch. Im Libanon musste die Hisbollah an der Macht beteiligt werden. Im Jemen kämpft das prowestliche Regime an drei Fronten: gegen die schiitischen Houthis, gegen die alte südjemenitische Führung und gegen die Salafiten (siehe auch den Beitrag in dieser Ausgabe der Intifada). Die Wirtschaftskrise könnte letztlich auch auf der anderen Seite des Golfs von Aden einen "failed state" hervorbringen. Und selbst der wichtigste Staat der Region, Ägypten, steht vor dem Kollaps. Es ist nicht gesagt, dass die Inthronisierung von Mubarak II. gelingen wird, denn der Druck aus dem Volk ist gewaltig. Der Wind der Krise könnte die lokalen Brandherde in einen großen Krieg verwandeln.

Auch in Asien wächst der Volkswiderstand - ein Beispiel dafür ist der Aufschwung der Naxaliten (maoistische Guerilla) in Indien und vor allem in Nepal. Die Eliten stehen mit dem Gewehr in Anschlag. In Lateinamerika konnte sich Evo Morales in Bolivien stärken und die antiimperialistische Öldiplomatie Chávez' hat es vielen ehemaligen Vasallen der USA erlaubt die Umklammerung etwas zu lockern.

Trotz der Tatsache, dass der Widerstand noch zersplittert ist, geht er aus Bushs Krieg konsolidiert hervor und auch Obama muss ihm vehement entgegentreten. Das ist der Kern der Bilanz des verstrichenen Jahrzehnts. Es sind die offensichtlichen Schwierigkeiten der USA in der Entfaltung und Konsolidierung des American Empire, die das globale Moment zum Multipolarismus hervorbringen. Dazu hat der antiimperialistische Widerstand wesentlich beigetragen, auch wenn vorerst jene Staaten wie China, Russland oder Brasilien die Hauptrolle spielen, die in keiner Weise antikapitalistisch sind.

Der neuralgische Punkt der Geopolitik bleibt der Iran, wo der Antiimperialismus von unten mit staatlichen Machtansprüchen zumindest teilweise zusammenfällt. Hielten die USA nicht dagegen, wäre das Projekt des American Empire als absolute Vorherrschaft der USA dahin. Ist einmal der erste Dominostein zum Multipolarismus angestoßen, so lässt sich nicht absehen, wie sich der Impuls fortbewegen wird. Daher wird Washington Himmel und Hölle in Gang setzen, um sein Reich zu erhalten.

Die Weltwirtschaftskrise gießt Öl ins Feuer. Noch verzögern die massiven staatlichen Interventionen über die öffentliche Verschuldung den sozialen Absturz. Doch die Schuldenberge werden nicht gratis abgebaut werden. Der Angriff nicht nur auf die Unterklassen, sondern auch auf wichtige Teile der bisher politisch tragenden Mittelschichten ist unvermeidlich, quasi als zweiter Teil der Krise. Er wird nicht nur den antiimperialistischen Widerstand beflügeln, sondern den Konflikt auch wieder in die Zentren des Kapitalismus tragen, selbst in die USA.


China als Retter des Kapitalismus?

Nur in China scheinen die Uhren anders zu ticken. Selbst in der Weltwirtschaftskrise kratzen die Wachstumsraten knapp an der Zweistelligkeit. In den westlichen Medien wechseln sich die Horrorszenarien angesichts der chinesischen Konkurrenz (Lachnummer: "China kümmert sich nicht um Menschenrechte und unterstützt Diktatoren, während der Westen aufgrund seiner Werte das Nachsehen hat") mit der Hoffnung ab, dass der chinesische Motor die Weltwirtschaft wieder hochziehen könne. Ist der staatlich gelenkte Kapitalismus tatsächlich die Lösung? Behalten Deng und Keynes gegen Lenin und Friedman Recht?

Dass sich das Gewicht Chinas als Fabrik der Welt erhöht hat, darüber kann kein Zweifel bestehen. Wir wollen aber daran erinnern, dass dieser Aufstieg nur im Rahmen der neoliberalen Globalisierung und des weltweiten Freihandelsregimes möglich war. Doch gerade deswegen wird sich das Reich der Mitte nicht von der Krise dieses Regimes fernhalten können, trotz aller staatlichen Lenkung. Dank der gigantischen staatlichen Rettungsmaßnahmen in den Zentren konnte der Zusammenbruch der Nachfrage auf halben Weg aufgefangen werden. Doch die die Krise verursachenden Elemente sind immer noch vorhanden. Die Zerstörung der massiven Überkapazitäten erfolgte noch nicht. Die produktiven Investitionen sind angesichts des globalen Nachfragelochs und geringen Renditeerwartungen niedrig. Die staatlich initiierte Liquidität treibt die spekulative Tendenz an, auch in China. Eine zweite Blase baut sich auf, unter der es kein Netz mehr gibt. Platzt diese abermals, - und man kann davon ausgehen -, dann ist auch China dran.

Jetzt schon gehört China zu jenen Ländern, in denen das Millionenheer der Lohnsklaven am meisten rebelliert. Bis dato vermag der Rausch des materiellen Fortschritts für den wachsenden Mittelstand diese Schreie zu ersticken. Wenn einmal die Kehrseite der glitzernden Wolkenkratzer von Shanghai massenhaft in die kollektive Wahrnehmung tritt, dann könnte es zu einem klassischen Klassenkampf gegen die Kommunistische Partei kommen. Ist nicht gerade China als Fabrik der Welt der dafür prädestinierte Ort?

Das chinesische Entwicklungsmodell hat das Reich der Mitte zum kleineren siamesischen Zwilling der Vereinigten Staaten gemacht.

Als größter staatlicher Gläubiger hat sich China an den US-Weltkapitalismus gebunden. Fast eine Trillion chinesischer Dollar stecken in US-Staatspapieren (von insgesamt 2400 Milliarden Reserve-Dollars, fast alle in den USA veranlagt). Diese Werte sind in ihrer großen Masse de facto nicht wandelbar. Würde China sich aus dem Bond-Markt zurückziehen, müssten die USA für ihre Staatsschuld nicht nur höhere Zinsen zahlen, sondern auch die Stabilität der US-Währung wäre in Frage gestellt.

Überhaupt basiert die Weltwirtschaft auf dem Dollar, in dem die meisten Werte notieren. Letzter Garant dafür ist der US-Staat, von dem angenommen wird, dass er für seine Schulden unter allen Umständen geradestehen kann. In der Krise, die sich zuerst im Kreditsektor manifestierte, wird das noch wichtiger. Insbesondere der US-Staat garantiert für insolvente private Schuldner, um die Gläubiger nicht in den Bankrott zu reißen. Die USA können zusätzlich Geld schöpfen und damit den Dollar sowie folglich auch die Schulden entwerten. Die Last tragen die Gläubiger. Das geht aber nur bis zu einem gewissen Maß. Darüber hinaus würde die Flucht aus dem Dollar als Weltwährung einsetzen. Falls der Dollar abstürzt, bricht die ganze kapitalistische Weltwirtschaft zusammen, China mit eingeschlossen. Alle in Dollar notierenden Werte wären auf einen Schlag zunichte oder zumindest stark entwertet. Selbst wenn die Vormachtstellung der USA dann ein jähes Ende finden würde, verlöre China genauso seine Rolle als Fabrik der Welt. Chinas Entwicklungsmodell hat das Reich der Mitte zum kleineren siamesischen Zwilling der USA gemacht.

Wie man es dreht und wendet, ein bruchloser Ausgang aus den politischen und wirtschaftlichen Widersprüchen scheint unwahrscheinlich.

Das bedeutet nicht automatisch, dass China politisch den USA in allem folgt. China will Multipolarität in Form eines langsamen, möglichst bruchlosen Übergangs im Rahmen des globalen Kapitalismus. Still und leise versucht Peking seine Macht auszubauen. Doch es wird früher oder später an Grenzen stoßen, nämlich jene von den USA gesetzten, die eine solche schleichende Kräfteverschiebung zu verhindern trachten. Dass die Krise vor allem den USA schadet, ist eine ganz falsche Annahme, solange China das Entwicklungsmodell Dengs weiterverfolgt. Die globale und vor allem amerikanische Nachfrage müsste durch den chinesischen Binnenkonsum ersetzt werden. Das würde den größten sozialen Sprung der chinesischen Massen nach oben erfordern, für den es in der Weltgeschichte keinen Vergleich gibt. Damit wäre aber auch Chinas größter Wettbewerbsvorteil, namentlich die geringen Lohnkosten, dahin.

Wie man es dreht und wendet, ein bruchloser Ausgang aus den sich anstauenden politischen und wirtschaftlichen Widersprüchen scheint unwahrscheinlich. Der globale Konflikt ist also gleichermaßen wahrscheinlich wie die Fortsetzung der Krise. Der Ausgang ist völlig offen. Wenn sich die zwei ungleichen aber an einander gebundenen kapitalistischen Giganten in die Haare kriegen, könnte der Spielraum für den dritten Pol, etwa einen antiimperialistisch-antikapitalistischen größer werden.


Ruhe vor dem Sturm

Eines ist bei allen Unwägbarkeiten sicher: Geschüttelt von der Krise ist Europa zum geopolitischen Abstieg verdammt. Bereits heute übt es völlige Unterordnung unter den großen, transatlantischen Bruder. Auf umso heftigere Konflikte müssen wir uns angesichts des drohenden Verlusts der konsumistischen Mittelstandsgesellschaft einstellen und vorbereiten. Diese werden nicht organisch antikapitalistisch sein, denn die Versuchung des Chauvinismus ist groß. Das zeigt die zunehmende Islamophobie, die heute - als Ersatzfunktion zum alten Antisemitismus gegen den inneren, kommunistischen Feind - als Identitätsstiftung gegen den Feind von außen, den fremden Antiimperialismus, fungiert. Doch ein Spielraum für eine antikapitalistische Opposition, sei sie auch nur eine Minderheit, wird sich auftun. Das ist immer noch besser als jetzt, wo es keinerlei antagonistische Opposition gibt.

Um siegen zu können, um die Eliten zu entthronen, bedarf es für die antikapitalistischen Kräfte in Europa des strategischen Bündnisses mit dem globalen Antiimperialismus, der letztlich seit der Oktoberrevolution verkannter Motor der Geschichte ist. Auf sich alleine gestellt würden die antikapitalistischen Kräfte in Europa zu schwach bleiben. Nur im Rahmen dieses globalen Bündnisses kann der Sturm gegen die Eliten erfolgreich in Richtung eines neuen gemeinschaftlichen Systems gelenkt werden. Ansonsten droht nicht nur die Selbstzerfleischung der Plebejer (siehe den Aufstand der schwarzen Sklaven in Rosarno, Süditalien, die sich gegen die Ärmsten der Weißen zur Wehr setzen müssen), sondern in der Folge eine neue autoritäre Herrschaft der Eliten ("gepanzerte Demokratie gegen die äußeren und inneren Barbaren") flankiert von chauvinistischen Unterschichten.

Noch ist es ruhig, zumindest in den kapitalistischen Zentren. Der Niedergang des politischen Aktivismus setzt sich ungebrochen fort. "Nach mir die Sintflut" lautet das Motto. Doch die Sintflut kann tatsächlich kommen, in einigen Regionen der Welt steht das Wasser schon sehr hoch.

Jedoch soll diese Ruhe genützt werden. Denn der Sturm wird nicht automatisch einen Aufschwung des politischen Aktivismus mit sich bringen, wie wir ihn aus den 1970er Jahren kennen. Genauso wenig wird er die Formen annehmen, die aus der Zeit der überkommenen Polarität Bürgertum-Proletariat bekannt sind. Daher ist jeder Dogmatismus zum Scheitern verurteilt. Intelligenz und Innovation eines radikalen, revolutionären Antagonismus sind gefragt. Gerade heute ist nicht der Zeitpunkt die Waffen zu strecken. Im Gegenteil, seit langem gibt es wieder Licht am Ende des Tunnels, auch wenn man es noch nicht deutlich sieht.


Quelle:
1. Obamania, Warum wir antiamerikanisch bleiben, 10.11.08, www.antiimperialista.org


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Obama oder Mao: Der Konflikt mit China wird sich weiter verschärfen.

Sozialistischer Realismus für Kentucky Fried Chicken: Das Kapital hat Einzug gehalten.

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INTERNATIONAL

Chávez und die V. Internationale

Erneut linke Signale aus Caracas

Von Margarethe Berger

Auf einem Treffen linker Parteien rief Chávez im Novemenr 2009 zur Bildung der Fünften Sozialistischen Internationale auf. Er löste damit Begeisterung aber auch Ablehnung aus.


Was ist dran an Chávez' Vorschlag, um den bereits jetzt die Wogen hochgehen? Mehr als seine mündlichen Ausführungen ist derzeit an Informationen nicht zu haben. Zwar nimmt ihn das Abschlussdokument der Konferenz, die "Verpflichtung von Caracas"(1), in einer sehr vage gehaltenen Form an, doch ist daraus nicht erkenntlich, was der Präsident mit der V. Internationalen eigentlich meint. So bleiben Chávez' kurze Aussagen: Die V. Internationale solle aus Parteien, sozialistischen Regierungen bzw. lokalen Verwaltungen und Bewegungen bestehen.(2) Es ginge um wirklich linke Kräfte, und die Kriterien zu deren Beurteilung liefere die globale Realität: Gefragt ist die Haltung zu Imperialismus und Kapitalismus. Die V. Internationale müsse unterschiedliche Räume eröffnen, in denen konkrete Initiativen umgesetzt werden könnten, etwa einen Raum für profunde theoretische und strategische Debatten, globale Kampagnen gegen den Krieg oder Versuche, alternative Wirtschafts- und Handelsmodelle umzusetzen. Die V. Internationale müsse dem Imperialismus die Stirn bieten und den Sozialismus propagieren.

Konkret ruft Chávez die teilnehmenden Organisationen dazu auf, ein Vorbereitungskomitee zu bilden, um ein erstes Treffen der V. Internationalen im April 2010 zu organisieren.


Verwirrung oder auch strategische Kühnheit?

Zweifellos ist Chávez' Vorschlag alles andere als systematisch durchdacht und theoretisch untermauert, zumal aus orthodox marxistischer Sicht. Doch viel interessanter, als ihn von diesem inhaltlich-theoretischen Standpunkt zu kritisieren, ist es sich seine politisch-strategische Bedeutung zu überlegen. Der Vorschlag entspricht voll und ganz Chávez' politischem Stil. Auf einer Konferenz, deren Teilnehmer in manchen Fällen in den Salons der globalen Elite aus- und eingehen (z. B. die mexikanische PRI, die argentinische Partido Justicialista oder die palästinensische Fatah), in anderen Fällen durch jahrzehntelangen Mangel an politischer Initiative oder gar Mitverwaltung des Kapitalismus glänzen (wie der Reigen der globalen Organisationen aus der KP-Familie), also insgesamt alles andere als die weltweite Crème de la Crème des antikapitalistischen Kampfes darstellen, prescht Chávez unerwartet mit einer Idee vor, die zuallererst die Notwendigkeit betont, endlich konkrete Veränderungen im globalen Machtgefüge zu bewerkstelligen, und die kraft Chavez' Autorität zum Handeln zwingt. Man fühlt sich an seine Rede zum Abschluss des Weltsozialforums 2006 in Caracas erinnert, als er den teilnehmenden Organisationen vorwarf, nichts Konkretes auf die Beine gestellt zu haben und die Bildung einer globalen antiimperialistischen Front forderte, damit eine andere Welt tatsächlich möglich werden könne.(3)

Chávez will die monopolare Weltordnung unter Führung des US-Imperialismus mit einer Verschiebung der Kräftekonstellation durchbrechen.

So scheint Chávez in erster Linie auf das abzuzielen, was seine Außenpolitik insgesamt kennzeichnet: die monopolare Weltordnung unter Führung des US-Imperialismus durch Verschiebung der globalen Kräftekonstellation zu durchbrechen. Dass hierzu globale und regionale Bündnisse notwendig sind, ist offensichtlich. Chávez' geht es darum, einen realen Machtblock zu schaffen, der bereit ist, sich dem Imperialismus entgegen zu stellen und der politisch so weit links wie möglich steht. Er nennt dies V. Sozialistische Internationale und es scheint ihm in erster Instanz egal zu sein, ob dafür die Bedingungen tatsächlich vorhanden sind. Vielmehr geht es darum, konkret zu sein und das bedeutet: politisch wirksam. Doch es wäre verkürzt, Chávez kurzsichtige Machtpolitik vorzuwerfen, obwohl ihm ein voluntaristischer Zug nicht abzusprechen ist. Die zehn Jahre seiner Regierungszeit zeigen eine eindeutige Linksentwicklung, die von bemerkenswerten Versuchen gekennzeichnet ist, ein demokratisch-sozialistisches Gesellschaftsmodell unter den gegebenen Bedingungen aufzubauen. Insofern ist Chávez globale Machtverschiebung nicht genug. Es geht ihm darum, Bedingungen zu schaffen, welche die Erarbeitung von Alternativen erst ermöglichen. Und diese bedürfen der theoretisch-programmatischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. ­... den Imperialismus bekämpfen und den Sozialismus proklamieren.

So viel zu den Stärken.


... und die Schwächen?

Es ist offensichtlich, wie unausgegoren Chávez' Vorschlag ist. Er vermischt richtige Elemente, etwa eine Analyse der Vergangenheit, wie die Kritik am orthodox-marxistischen Determinismus und an der Stalinschen Doktrin vom Sozialismus in einem Lande, mit naiven Vorstellungen, durch alternative Handelsmodelle den Kapitalismus überwinden zu können - was letztlich an der umfassenden analytischen Klarheit, die eine solche Internationale benötigen würde, zweifeln lässt.

Bedeutsamer ist die fehlende Klarheit auf Adressatenebene: Regierungen, Lokalverwaltungen, Parteien, Bewegungen. Zweifellos bedarf es eines Bündnisses all dieser Kräfte, aber auf welchen Ebenen und wie sollen die Machtverhältnisse zwischen sozialen Bewegungen und Staaten aussehen? Abgesehen von den unterschiedlichen und oft inkompatiblen politischen Zugehörigkeiten der angesprochenen Parteien: Soll eine solche Internationale tatsächlich in antiimperialistischen Termini wirksam sein, so wird sie dem politischen Islam als heutigem Hauptträger des Widerstandes die Hand hinstrecken müssen - ob da nicht viele sozialistische Strömungen Angst bekommen werden, sich die Finger schmutzig zu machen?

Fraglich ist auch, ob die Anknüpfung an die trotzkistische Tradition - offensichtlich durch die Namensgebung - taktisch klug ist. Soll tatsächlich eine Internationale mit einer gewissen programmatischen Kohäsion entstehen, so bedarf dies eines Raums für offene theoretische und politische Auseinandersetzung, der nicht im Vorhinein eingeschränkt werden sollte. Zudem ist dies sicher kein kurzfristiger Prozess.


Die Kraft des Impulses

In der Praxis scheint es mit der Umsetzung von Chávez' Idee schwierig zu werden, so wie überhaupt vieles in Venezuela in der Realität nicht so ganz den Ideen entsprechen will. Dennoch ist der bolivarianische Prozess zum wichtigsten Motor eines dynamischen politischen Prozesses in Lateinamerika und darüber hinaus geworden und gleiches bleibt für die Idee der V. Sozialistischen Internationale zu hoffen. Was bedeutet, dass bei allem Recht, den Vorschlag kritisch zu prüfen, letztendlich die politische Pflicht bleibt, ihn aktiv zu unterstützen.


Quellen:
1. Compromiso de Caracas, auf www.psuv.org.ve.

2. Discurso de Clausura del Presidente Hugo Chávez, auf www.psuv.org.ve.

3. Campo Antiimperialista: Für eine Antiimperialistische Front: Setzen wir den Vorschlag des Präsidenten um! Auf www.antiimperialista.org.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Präsident Hugo Chávez mahnt zum Aufbruch: Es ist Zeit zur Tat zu schreiten.

Mit seiner neuesten Initiative hatte Präsident Hugo Chávez wieder alle überrascht.

Raute

INTERNATIONAL

Naxaliten in Bedrängnis

Indiens Krieg gegen seine autochthone Bevölkungerung

Von Jonas Feller

Indien startete im November 2009 eine Militäroffensive mit 70.000 Soldaten gegen die "größte innere Bedrohung seit es das Land gibt", so Ministerpräsident Singh.


Die Militäroperation "Green Hunt" soll zwei Jahre andauern und betrifft weite Teile Ost- und Zentralindiens. Diese Regionen sind seit Jahrtausenden die Heimat der 70 Millionen Adivasis, der autochthonen Bevölkerung Indiens. Sie konnten wie insgesamt zwei Drittel der indischen Bevölkerung an dem wirtschaftlichen Aufschwung ihres Landes in keiner Weise teilhaben. Im Gegenteil: Bereits über zehn Millionen Adivasis wurden "umgesiedelt", um Platz für die Staudämme, Bergwerke und Industrieanlagen der internationalen Konzerne zu machen. Die UNO berichtet von 300 Millionen Indern, die mit weniger als einem US Dollar am Tag auskommen müssen. Trotz eines Wirtschaftswachstums von neun Prozent kämpfen 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze ums Überleben. 47 Prozent der Kinder unter drei Jahren sind unterernährt. Die Hälfte der Schüler muss die Schule vor der achten Schulstufe verlassen, um hart zu arbeiten.

Wo Wahlen vor der bitteren Armut nicht schützen können, müssen die Massen sich organisieren, sich bewaffnen und selbst die Macht übernehmen.

Weitverbreitete extreme Armut, fehlende medizinische Versorgung, eine hohe Kindersterblichkeitsrate, keine Schulen, das Land und der Reichtum in Hand weniger Großbauern - schon 1967 kam es aus diesen Gründen zu einem Aufstand landloser Bauern in dem Dorf Naxalbari in Westbengalen. Seitdem werden die Rebellen auch als "Naxaliten" bezeichnet. Die Aufstände griffen schnell auf benachbarte Provinzen über und führten in einen langen Kampf der Unterprivilegierten, in dem die Regierung inzwischen Kontrolle über weite Gebiete verloren hat. Ende 2004 schlossen sich die wichtigsten Organisationen zur "Kommunistischen Partei Indiens - Maoistisch" (CPI-M) zusammen. Der Staat verbot die Partei kurzerhand, verschleppte ihren Sprecher während einer laufenden Fernsehdiskussion ins Gefängnis und erklärt der Welt, es handele sich hier um Verbrecher, die gegen Entwicklung, Demokratie, Fortschritt und Frieden seien.


Was wollen die Maoisten?

Die Maoisten sagen: Wo Wahlen, Demonstrationen, Appelle und Aufrufe vor der Brutalität der Polizei, der Gier der Konzerne und der bitteren Armut nicht schützen können, müssen die unterdrückten Massen (Landlose, Ureinwohner, Kastenlose, von "Umsiedlungsprojekten" Bedrohte) sich organisieren, sich bewaffnen, sich verteidigen und selbst die Macht übernehmen. Nur so ist es möglich, grundlegende Rechte zu erkämpfen - alles Andere hieße, auf minimale Zugeständnisse zu hoffen und das stille Sterben fortzusetzen. Ihre Forderungen sind zusammengefasst:

• ein Ende der Herrschaft der Reichen, des Kastensystems, der Diskriminierung wegen Geschlecht oder Religion;

• Selbstbestimmung und politische Autonomie für die Stämme; Land für die Armen und Landlosen, statt es einer
 korrupten Elite zu überlassen, die jede Landreform erfolgreich blockiert hat;

• die Wälder den dort lebenden Stämmen zuzusprechen, statt sie durch Konzerne zerstören und vergiften zu lassen;

• Errichtung eines Staates durch die Armen, für die Armen und mit direkter Demokratie.(1)

Was haben die Maoisten bisher erreicht? Die Bewegung der Maoisten ist inzwischen in 20 von 28 indischen Bundesstaaten etabliert, die Geheimdienste gehen von 20.000 trainierten Kämpfern und 50.000 organisierten Mitgliedern aus. Dies ist das Ergebnis eines beständigen und erfolgreichen Kampfes, in dessen Verlauf in verschiedenen Provinzen fruchtbares Land und zahlreiche Waldgebiete erobert werden konnten. Unter dem Schutz der Rebellen wurden lokale Regierungen gebildet, Land an Landlose und Arme verteilt, Frauen bekamen die gleichen Eigentumsrechte. Landwirtschaft wurde betrieben, es wurden neue Gemüsesorten (Karotten, Tomaten, Radieschen ...) und Früchte (Bananen, Guaven, Mangos ...) eingeführt, der Anbau erfolgt ohne Pestizide. Das von Industrieanlagen erheblich verschmutzte Wasser wurde durch das Anlegen von Brunnen umgangen, Bewässerungssysteme wurden gebaut. Ein Gesundheitssystem wurde entwickelt, sodass jedes Dorf mit medizinischem Personal und Medikamenten versorgt werden kann, und Schulen konnten eingerichtet werden, wo doch die wenigen überhaupt funktionierenden Schulgebäude des Staates zur Unterbringung der Armee und Polizeikräfte genutzt werden. Bücher und Zeitschriften wurden erstmals in der Gondi-Sprache gedruckt, als erster Schritt, diese sehr alte Sprache und ihre Kultur in Südindien zu bewahren. Es wurde ferner ein eigenes Justizsystem eingeführt, dessen Volksgerichte Konflikte zwischen den Menschen, aber auch gegenüber den Feinden regeln. Als Folge sind Diebstahl, Betrug und Morde erheblich zurückgegangen. Frauen können sich frei bewegen und müssen keine Vergewaltigungen, besonders durch das Forest Department und die Polizei, mehr befürchten. Überhaupt haben Frauen und Kinder in fast jedem Dorf ihre eigenen Organisationen, wie auch jedes Dorf eine Verteidigungsmiliz aufbauen konnte. Kulturelle Aktivitäten leben in diesem Klima des Aufbruchs wieder auf und zeigen sich in zahlreichen Tänzen, Liedern und Spielen.


Warum eine Militäroffensive?

In dem Gebiet der Aufständischen sind wertvolle Bodenschätze gefunden worden, welche die indische Regierung und die Oberschicht an multinationale Konzerne versteigern will - und teilweise bereits hat. Zwischen dem Abschluss der Verträge und dem blinkenden Geld stehen nur diese armen, ausgestoßenen Stämme und die Maoisten, die einen organisierten, erfolgreichen Aufstand gegen diese Zustände führen. Oder wie die indische Globalisierungskritikerin Arundhati Roy es erklärt: "die Regierung lässt ihnen [den Ureinwohnern] nichts anderes zuteil werden als Gewalt und Missachtung. Und nun will sie ihnen auch noch das Letzte nehmen, was sie haben: ihr Land."(2)

In dem Gebiet sind wertvolle Bodenschätze gefunden worden, welche die indische Regierung jetzt an multinationale Konzerne versteigern will.

Der Kampf, der im November 2009 zwischen der indischen Armee und der maoistischen Guerilla begonnen hat, wird stellvertretend geführt für einerseits die indische Elite und ihre ausländischen Freunde, welche die Welt als Ware sehen und keine Skrupel dabei haben, mit dem Umsiedeln und Verhungern der Menschen fortzufahren, Flüsse zu vergiften und Wälder abzuholzen; und auf der anderen Seite würdevollen Menschen, die in eine neue Phase ihres Kampfes für ihre Rechte treten und dabei nicht nur ein erfolgreiches, alternatives Modell für Indien verteidigen, sondern auch die Hoffnungen von Millionen Inderinnen und Indern.


Quellen:
1. Khanna, Rita: War against the Maoists: But who are they and what do they want? Auf radicalnotes.com, 19.11.2009.

2. Kazim, Hasnain: Terror im Namen der Entrechteten, auf www.spiegel.de, 11.11.2009.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Der Kampf der Maoisten in Indien kann bis heute die Massen mobilisieren.

Raute

INTERNATIONAL

Umtriebe im Hinterhof

Chancen und Gefahren für einen linken Kontinent

Von Gernot Bodner

Das politische Panorama Lateinamerikas ist in den letzten zehn Jahren deutlich nach links gerückt. Die USA können sich in naher Zukunft der Linksregierungen nicht entledigen.


Zumindest seit dem Sturz Salvador Allendes in Chile 1973 war es für die Linke des Kontinents klar: Che Guevara hatte Recht - die Veränderung der Verhältnisse über Wahlen läuft nicht, die Macht kommt aus den Gewehrläufen. Wenn auch die Gewehrläufe in den späten 1980er Jahre verstummten, so war die lateinamerikanische Opposition dennoch auf der Straße zu verorten und nicht in den Regierungspalästen. Bäuerliche und indigene soziale Bewegungen kündigten ab der ersten Hälfte der 1990er Jahre die Rückkehr der Linken an. Dann kam Hugo Chavez, der sowohl die linke Taktik als auch die Ideologie am Kontinent verändern sollte: vom außerinstitutionellen Protest zur "friedlichen Revolution" über Wahlen. Seine Wahl zum Präsidenten am 6. Dezember 1998 löste eine Kettenreaktion aus. Es folgten 2002 Brasiliens Lula und seine Arbeiterpartei, 2003 der Linksperonist Nestor Kirchner in Argentinien, 2004 die Breite Front mit Tabaré Vazquez in Uruguay, 2005 Evo Morales in Bolivien, 2006 Rafael Correa in Ekuador und Michelle Bachelet in Chile und 2008 der Befreiungstheologe Fernando Lugo in Paraguay. Selbst die mittelamerikanische Brücke zum großen Bruder USA wurde "rot": 2006 kehrte der Sandinist Daniel Ortega an die Macht zurück, seit März 2009 regiert mit Mauricio Funes auch ein FMLN-Mann in San Salvador. Selbst einen Liberalen wie Manuel Zelaya in Honduras zog die linke Welle in ihren Bann. Heute sind als wichtige Stützen der USA nur noch Mexiko, Peru und Kolumbien übrig.

Die wirtschaftliche Krise des neoliberalen Modells, symbolisiert im argentinischen Kollaps 2002, hat die Hegemonie der alten US-hörigen Eliten mit in den Untergang gerissen. Eine neue Führungsgruppe, die vielfach aus dem linken, anti-diktatorischen Widerstand der 1970er und 1980er Jahre kommt, hat sich in den Präsidentenpalästen etabliert, um die sozialen Ungleichheiten am Kontinent - immer noch leben 33 Prozent der Menschen in Armut und 13 Prozent in extremer Armut(1) - zu lösen.


Mit Chávez oder Lula?

Die lateinamerikanische Regierungslinke kann in zwei große Blöcke eingeteilt werden: die ALBA-Staaten (Bolivarische Alternative für die Völker Unseres Amerika) um den Motor Venezuela, und jene Regierungen, die man meist als dem brasilianischen Modell folgend beschreibt. Zu ersterer Gruppe von Staaten zählen neben Venezuela, Bolivien, Ekuador, Kuba, Nikaragua, Honduras (vor dem Putsch) sowie drei kleine Karibikstaaten. Kennzeichnend für den ALBA-Block ist die explizite antiimperialistische Herausforderung des politischen Einflusses der USA am Kontinent, der Versuch der Emanzipation vom ungleichen Weltmarkt über die Verstärkung der Süd-Süd-Beziehungen und die Orientierung an einem als "Sozialismus des 21. Jahrhundert" bezeichneten neuen Entwicklungsmodell.

Für den "brasilianischen Block" stehen die Mitgliedsländer des MERCOSUR, neben der prägenden Figur von Lula da Silva, die Präsidenten Uruguays, Paraguays, Chiles und, mit Einschränkungen, auch das Argentinien der Kirchners. Gemeinsam ist ihnen im Gegensatz zum ALBA das Fehlen eines offen anti-US-amerikanischen Diskurses. Vom kapitalistischen Weltmarkt will man sich nicht abkappen, sondern die Regeln der Globalisierung mit neuem Selbstbewusstsein den eigenen Bedürfnissen anpassen. Paradigmatisch dafür ist Brasiliens Protagonismus am internationalen Bankett, sei es in der WTO oder am Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009, an der Spitze des Blocks der Entwicklungsländer, der vom Westen neuerdings für jedes Entgegenkommen entsprechende Gegengeschäfte einfordert.

Von einem geopolitischen Standpunkt passt Lateinamerikas Dynamik in die beginnende multipolare Tendenz im internationalen System. Das imperiale Ziel der USA für den Kontinent ist 2004 im argentinischen Mar del Plata zu Grabe getragen worden: eine gesamtamerikanische Freihandelszone (ALCA) mit pragmatischen Wirtschaftseliten an den Regierungsspitzen, Wachstum und allgemeiner Zufriedenheit, die von US-Truppen gegen Drogenterrorismus und "negative Kräfte" (Condoleeza Rice 2005 über Hugo Chavez) unter Sanktionierung der Interamerikanischen Demokratiecharta der OAS abgesichert werden.(2) Erinnert sei jedoch daran, dass ALCA nicht nur aufgrund der Volksproteste scheiterte. Vielmehr waren die Agrarexportnationen Brasilien und Argentinien nicht mehr bereit einen einseitigen Freihandel zu akzeptieren, während das imperiale Zentrum seinen Markt abschottet. Der Machtverlust der USA bedeutet eben vorerst nur, dass die ungleichen Regeln nicht mehr unterwürfig akzeptiert werden, sondern die Forderung nach gleichem Recht für alle in einem Welthandel, der seine strukturelle Ungleichheit zuungunsten der Rohstofflieferanten dadurch natürlich nicht verliert.


Die Linke zeigt Stärke

Die beiden Blöcke der lateinamerikanischen Linksregierungen unterscheiden sich neben ihrer geopolitischen Positionierung auch in ihrer innenpolitischen Entstehungsgeschichte. Der moderate Teil repräsentiert eine Regierungsabfolge bei voller institutioneller Kontinuität. Als Hindernis für die Umsetzung von Reformplänen erwies sich vielerorts die gesetzgebende Gewalt, die weiter in den Händen der rechten Kräfte verblieb. Während die "Reformisten" auf Kompromisse mit der Opposition setzten, schlugen die "Radikalen" einen anderen Weg ein. Dem Beispiel Venezuela von 1999 folgend wurden Verfassungsgebende Versammlungen einberufen, um mit einer neuen Magna Charta die Verhältnisse umzugestalten. Die venezolanische Regierung versuchte diesen Schritt im Dezember 2007 ein weiteres Mal, mit dem Ziel einer tiefen institutionellen Neuordnung in Richtung Volksmacht(3) - scheiterte aber im Referendum. 2008 gab sich Ekuador eine neue Verfassung, im Januar 2009 gelang es Evo Morales in Bolivien, nach langem Kampf und weit reichenden Kompromissen, die Grundlage für die "Neugründung des Landes" zu legen.

Eine Erklärung für die unterschiedliche Radikalität in Lateinamerikas Reformprozessen ist die Tiefe der Hegemoniekrise des alten Establishments. Venezuelas Bolivarianismus erhob sich aus der Hungerrevolte des "Caracazo" 1989 und einem Jahrzehnt der politischen Zersetzung der traditionellen Parteien, die die Krise nicht zu managen vermochten. Evo Morales verdankt seinen Sieg 2005 dem plebäischen Aufstand gegen das neoliberale Establishment im Oktober 2003 mit siebzig Toten in der Armenmetropole El Alto. Ekuador kämpfte mehr als ein Jahrzehnt mit chronischer Instabilität, in der kein Präsident das Ende seines Mandats erlebte. In diese Chronologie gehört auch Argentinien, wo 2002 das System des neoliberalen Peronismus der Schule von Carlos Menem zusammenbrach - wobei die politische Krise hier mit Nestor Kirchner wiederum im Peronismus selbst einen Ausweg fand. In Brasilien, Chile, Uruguay und Paraguay dagegen ist das politische Parteiensystem weiterhin intakt.

Insgesamt sitzt die Linke Lateinamerikas dennoch fest im Sattel.

Insgesamt sitzt die Linke Lateinamerikas dennoch fest im Sattel. Besonders die Regierungen des ALBA-Blocks sehen sich nur wenig innenpolitischer Konkurrenz gegenüber. Nicht nur genießen ihre Regierungschefs weiterhin hohe Zustimmungswerte bei Wahlen (Dritte Periode von Hugo Chávez 2006 mit 63 Prozent, zweite für Evo Morales 2009 mit 64 Prozent und für Raffael Correa mit 52 Prozent). Vor allem steht ihnen keinerlei Opposition gegenüber, die eine wahlpolitische Herausforderung wäre.

Zersplittert steht die Rechte nach gescheiterten Putsch- und/oder Separationsversuchen ohne gemeinsames Projekt und Führungsfigur dar. Die linken Präsidenten können derzeit durchatmen und sich ganz der Umsetzung ihrer Projekte, der Vertiefung des "Proceso" widmen. Die schwierigste Arbeit steht also bevor ...


Droht ein Roll back der USA?

In dieser Situation einer schwachen Opposition im Innern mit wenigen Chancen das Ruder in absehbarer Zeit wieder herumzudrehen, drängt sich natürlich die Annahme auf, dass die USA die Sache selbst in die Hände nehmen könnten. Gespeist wird diese Befürchtung nicht nur durch die Geschichte, sondern auch durch harte Fakten der jüngeren Vergangenheit: Verstrickungen der USA über ihre Basis in Manta, Ekuador, in den Putschversuch gegen Chávez 2002, Konspiration zwischen dem US-Botschafter in Bolivien, Philip Goldberg, und der separatistischen Opposition gegen Präsident Morales, Verwicklung der US-Botschaft und nordamerikanischer Militärs von der Basis Soto Cano in Honduras in den Staatsstreich gegen Manuel Zelaya im Juni 2009, kurz nachdem dieser sein Land in das ALBA-Bündnis integrierte und eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen gedachte. Und zuletzt ein Abkommen zwischen Washington und Bogotá über sieben neue Militärbasen sowie die Reaktivierung der IV. Flotte vor Südamerikas Atlantikküste. Der Lateinamerika-Experte Ignacio Ramonet schlussfolgert: "Alles deutet auf einen Angriff (gegen Venezuela) hin."(4)

Es besteht kein Zweifel, dass die USA auch in Lateinamerika eine bedrohliche militärische Präsenz aufgebaut haben. Trotz Rückschlägen wie dem Abzug aus Panama 1999 und dem Verlust der Militärbasis in Manta im November 2009 haben sie über flexible Foreign Operation Locations (FOLs) ihre militärische Schlagkraft reorganisiert. Auch unter Obama betreiben Teile des politisch-militärischen Establishments der USA eine verdeckte Politik der Destabilisierung der lateinamerikanischen Linken. Dennoch sind Zweifel angebracht, dass die USA die militärische Karte ausspielen werden, um der Linken das Heft aus der Hand zu nehmen.

Oberste Zielsetzung der USA ist die Verhinderung jeglicher regionaler Destabilisierung, die der potentiellen imperialen Kontrolle entgleiten könnte. Dies würde aus der Sicht Washingtons (i) radikalen anti-amerikanischen Kräften eine Operationsbasis bieten, und (ii) den Zugriff auf strategische Ressourcen erschweren. In Lateinamerika gibt es in diesem Kontext aus Sicht der US-Strategen drei Problemfelder: "populistische Demokratien", "Drogenterrorismus" und soziale Unruhen.(5) Mit ersterem ist vor allem Venezuela gemeint. Zweites bezeichnet die kolumbianische Guerilla, aber auch tatsächliche Drogenkriege wie in Mexiko, die die staatliche territoriale Kontrolle unterminieren. Über all dem schwebt die Sorge der USA vor einer unkontrollierbaren Eskalation sozialer und politischer Konflikte, vor revolutionären Situationen im vollen Wortsinn.

Als die Situation in Bolivien sich im September 2009 zuspitzte und die radikale Rechte im Osten - jene von US-Botschafter Goldberg geförderten Kräfte - drohte, das Land zu spalten, trat Lateinamerika geeint auf und ließ über die 2008 gegründete UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) ausrichten, dass dies nicht tatenlos akzeptiert werde. Die bolivianische Rechte musste einsehen, dass ein radikaler Weg unter diesen Kräfteverhältnissen nicht siegreich sein kann. Nicht nur wegen UNASUR, sondern wohl auch, weil Washington signalisierte nicht bereit zu sein, vor diesem Hintergrund einen Bürgerkrieg, dessen Ausgang äußerst unsicher wäre, zu unterstützen. Denn die Bauern standen schon vor Santa Cruz, der Hochburg der Rechten, bereit zuzuschlagen.

Der Putsch in Honduras kam den USA sicher entgegen. Denn die geplante Verfassungsgebende Versammlung hätte die Situation noch weiter nach links verschoben, eine höchst unerwünschte Entwicklung in einem Land mit wichtiger US-Militärpräsenz für Mittelamerika. Die USA setzten jedoch vor allem auf eine Verhandlungslösung, in deren Verlauf Zelaya über einen Kompromiss neutralisiert und so die Volksbewegung befriedet werden würde. Ihr Ziel war nicht ein international kaum vertretbares langjähriges Militärregime. Denn die unnachgiebigen Putschisten provozierten geradezu die Eskalation des Volkswiderstandes, den strategischen Alptraum des Imperiums. Nach den illegitimen Wahlen im November 2009 ist das Problem für die USA insofern optimal gelöst, als sie neuerlich eine loyale Regierung in Tegucigalpa mit scheindemokratischer Legitimation an der Macht wissen. Und die Rückkehr von Manuel Zelaya auf den Schultern einer radikalen Volksbewegung ist derzeit auch nicht mehr in Aussicht.

Die US-Politik ist ratlos, wie sie der Lage wieder Herr werden kann. Sie setzt auf Diplomatie und die Neugruppierung ihrer Militärpräsenz.

Sind nun Ereignisse wie in Honduras oder gar eine offene militärische Intervention der USA in anderen linksregierten Ländern zu erwarten? Honduras hat eine kompakte selbstbewusste Rechte. Sie wurde durch Zelayas Ausscheren zwar überrascht, hat dadurch aber bei weitem nicht die Fähigkeit zur Initiative verloren. In den meisten linken Staaten des Kontinentes ist das nicht der Fall, die Rechte hat entscheidend an Boden verloren. Angesichts der innenpolitischen Stärke und Stabilität der lateinamerikanischen Linksregierungen, ihrer Unterstützung im Volk und der stabilen kontinentalen Einheit, würde für die USA eine offene "Contra-Linie" oder gar eine Intervention mehr Probleme als Chancen bringen. Ein weiterer Verlust von Einfluss als politischer und Handelspartner - etwa zugunsten Chinas, das auch in Lateinamerika im Vormarsch ist - die Gefährdung von Investitionen und unkontrollierbare, außerinstitutionelle Konflikte mit antiimperialistischer Dynamik wären die wahrscheinliche Folge. Um ein solches Risiko für die eigenen strategischen Ziele einzugehen, muss sich die politische Lage in den linksregierten Ländern wesentlich zuspitzen und den bisher geordneten institutionellen Rahmen verlassen.

Die US-Politik ist derzeit ratlos, wie sie der Lage wieder Herr werden kann. Sie scheint vorerst auf ein politisch-diplomatisches Containment und die Neugruppierung ihrer Militärpräsenz zu setzen, auch wenn die eine oder andere Provokationen der im Militär immer schon starken Falken zugelassen wird. Die Strategen Washingtons - imperialistische und neoliberale Denker - rechnen sicher auch mit dem Faktor Zeit, in der überheblichen Annahme, dass die verbalen revolutionären Versprechungen sich alsbald totlaufen oder mäßigen, das Volk sich enttäuscht abwenden und das Ruder am Kontinent sich wieder zu einem "vernünftigen Weg" herumdrehen werde.


Das schwere Erbe der Makroökonomie

Tatsächlich sind die Herausforderungen für die lateinamerikanischen Linksregierungen nicht zu unterschätzen. Im Zentrum der strukturellen Ziele stehen soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Diversifizierung als Grundlage der nationalen Souveränität (inklusive der wichtigen Ernährungssouveränität) sowie die Emanzipation vom imperialistischen Weltmarkt durch Verstärkung der Süd-Süd-Beziehungen.

Die Wachstumsraten des BIP lagen in Lateinamerika in den letzten zehn Jahren zwischen vier und sechs Prozent.(6) Die Steuereinnahmen erreichen in Venezuela unter Chavez im Mittel 14,5 Prozent des BIP, in Bolivien in der Zeit von Evo Morales 17,8 Prozent, in Brasilien unter Lula da Silva 15,9 Prozent, unter Correa stiegen sie von 10,2 Prozent auf 12,5 Prozent und die Kirchners kamen auf 12,8 Prozent. Bei den erzielten Wachstumsraten des BIP standen den Staaten also wachsende Haushaltsmittel zur Verfügung. Die Steigerung der staatlichen Mittel stand auch im Mittelpunkt entscheidender politischer Kämpfe in den einzelnen Ländern: In Venezuela eroberte der Staat nach dem Sabotage-Streik 2002/2003 die Kontrolle über die nationale Ölindustrie PDVSA zurück. Evo Morales erhöhte durch sein Nationalisierungsdekret den staatlichen Anteil an den Gewinnen aus der Erdgasförderung von 27 Prozent auf über 65 Prozent. Christina Kirchner kämpfte - jedoch erfolglos - um die Erhöhung der Exportsteuer für die großen Agrarproduzenten.

Der Aufbau eines elementaren Sozialstaates ist das Rückgrad für eine breite Unterstützung der linksgerichteten Präsidenten im Volk von Lateinamerika.

Aus den wachsenden Mitteln erhöhte sich der Anteil der Sozialausgaben in Venezuela zwischen 1998 und 2006 von 8,2 auf 13,6 Prozent des BIP, in Brasilien zwischen 2002 und 2007 von 21,5 auf 25,1 Prozent, in Bolivien lagen sie 2006 bei 16,2 Prozent. Ein durchgängiges Kennzeichen der Linksregierungen ist ein Ende der neoliberalen Kürzungen im Sozialbereich und die gezielte Finanzierung von Programmen zur Armutsbekämpfung: ein Nullhungerprogramm in Brasilien und gleich lautend in Nikaragua, Muttergeld, Schulbonus und Rentenerhöhung in Bolivien und zahllose soziale Missionen in Venezuela. Keine Frage: der Aufbau eines elementaren Sozialstaates ist das Rückgrad der breiten Unterstützung der linken Präsidenten im Volk.

Das Ziel der wirtschaftlichen Diversifizierung im Korsett des Weltmarktes ist extrem schwierig zu erreichen. Das weiß man spätestens seit Kubas nachrevolutionären Versuchen, sich rasch vom Monoexportprodukt Zuckerrohr zu emanzipieren. Bolivien ist nach wie vor ein Rohstoffexporteur (81 Prozent am Gesamtexport) mit dem Hauptprodukt Erdgas (46 Prozent). In Ekuador steht Rohöl mit 57 Prozent an der Spitze, in Venezuela liegt der Anteil sogar bei 94 Prozent. Brasilien und Argentinien haben eine vielfältigere Ökonomie, wobei Primärprodukte jeweils 38 Prozent und 43 Prozent der Exporteinnahmen ausmachen. Die hohen Preise für Rohstoffe in den letzten Jahren, insbesondere auch der Höhenflug des Erdöls, brachten den Rohstoffexporteuren aber wachsende Einkünfte. Man muss anerkennen, dass unter den Linksregierungen das Bewusstsein vorhanden ist, dass dies kein Anlass für ruhiges "Business as Usual" ist, sondern ernsthafte Versuche gemacht werden, die Gewinne für eine Förderung der nationalen Wirtschaft zu verwenden.

Neben der Überwindung der Abhängigkeit von einem oder wenigen Hauptexportgütern ist auch jene von den traditionellen imperialistischen Handelspartnern, vor allem den USA, zugunsten des Süd-Süd-Handels ein Ziel. Die Bedeutung des US-Marktes für Venezuelas Öl ist zwar immer noch dominant, jedoch zwischen 2000 und 2008 um etwa 10 Prozent auf 40,4 Prozent des Gesamtexportvolumens zurückgegangen. Bemerkenswert ist die signifikante Abnahme der Importe aus den USA von knapp 40 Prozent im Jahr 2000 auf 26 Prozent 2008, bei gleichzeitig starkem Anstieg der Geschäfte mit den lateinamerikanischen Nachbarn und Asien. Auch in Bolivien löste der Handel mit lateinamerikanischen Ländern (2000: Exporte 37 Prozent, Importe 39 Prozent; 2008: Exporte 65 Prozent, Importe 58 Prozent) die imperialistischen Zentren Europa und USA von der ersten Stelle ab. Für Argentinien und Brasilien verlor der US-Markt ebenfalls an Bedeutung, hatte jedoch nie eine vergleichbar dominante Stellung gehabt.

Das gesteckte Ziel der wirtschaftlichen Diversifizierung im Korsett des Weltmarktes ist für die linken Regierungen extrem schwierig zu erreichen.

Ein kurzer makroökonomischer Blick auf Lateinamerikas Linksregierungen zeigt also, dass das Konjunkturhoch der letzten Jahre genutzt wurde, um am Aufbau eines Sozialstaates zu arbeiten. Die Anstrengungen sich aus den traditionellen Wirtschaftstrukturen - mangelnde industrielle Veredelung, Binnenmarktschwäche, einseitige Abhängigkeiten im Außenhandel - zu befreien, gehen jedoch nur langsam voran und sind makroökonomisch noch schwer abzulesen.

Die derzeitige Weltwirtschaftskrise wird medial bereits als das Ende der Linksregierungen an die Wand gemalt: Rückläufige Staatseinkünfte würden die Sozialausgaben treffen und damit die "erkaufte Popularität" rasch erodieren lassen. Zweifellos bedeutet die von den imperialistischen Zentren ausgelöste Krise auch Turbulenzen an der Peripherie: Einbruch der Nachfrage und damit einhergehend rückläufige Preise, Kreditklemme für die heimische Produktion und, besonders für die mittelamerikanischen Ökonomien relevant, ein Rückgang der Überweisungen von Immigranten im Norden. Trotz Priorität der sozialen Ausgaben musste auch Hugo Chávez für 2010 das Volk auf härtere Zeiten einstimmen. Die Abwertung des venezolanischen Bolivar ist ein erster Indikator. Der Einbruch bei den traditionellen Exportgütern und Handelsbeziehungen wird kurzfristig nicht durch eine Binnenmarktorientierung und Forcierung der Süd-Süd-Beziehungen kompensiert werden können. Die Krise unterstreicht aber die Wichtigkeit all jener Experimente, die sich einem Weg der Emanzipation vom imperialistischen Weltmarkt und der kapitalistischen Produktionsweise verschreiben.

Insofern makroökonomische Kriterien alleine also nicht ausreichend sind, die Dynamik der Veränderungsprozesse, ihrer Chancen und Gefahren, zu beurteilen, soll eine alternative Interpretation versucht werden.


Revolutionäre Chancen im Reformprozess

Kernpunkte linker Kritik an den Reformprozessen in Lateinamerika sind: (i) das Fehlen einer wirklichen Revolution, wodurch (ii) die kapitalistische Produktionsweise nicht durchbrochen werden konnte und die Länder vom nationalen und internationalen Kapital weiterhin abhängig sind und (iii) daher die versprochene soziale und politische Emanzipation des Volk nicht möglich sei.

Gegen dieses vereinfachte Urteil seien einige Gegenargumente vorgebracht. Erstens sollte man den Bruch der bestehenden Verhältnisse durch eine Revolution nicht mit deren positiver Überwindung verwechseln. Selbstverständlich erschüttern revolutionäre Ereignisse die makroökonomischen Gegebenheiten und staatlichen Institutionen. Sie lassen sie in einem "partizipativen Chaos" zusammenbrechen. Doch in der darauf folgenden Konsolidierung setzen sich die wesentlichen Elemente kapitalistischer Beziehungen wieder durch:(7) Rückgang des direkt-demokratischen Volkseinflusses in der Politik, Wiedererrichtung der Beziehungen zum Weltmarkt, Entzug der demokratischen Kontrolle von unten in der Produktion. Der Übergang zu neuen sozialistischen Verhältnissen ist eben nicht mit einem Zusammenbruch getan, sondern erfordert einen Neuaufbau.

Liefern die lateinamerikanischen Linksregierungen Ansätze eines solchen revolutionären Neuaufbaus? Ja, und zwar auf der mikroökonomischen Ebene, jener Ebene, aus der neue sozialistische Verhältnisse erwachsen und sich verallgemeinern können. Experimente wie die sozialistischen Landkommunen, die sozialen Produktionseinheiten, Arbeiterselbstverwaltung oder alternative Regionalentwicklung können an dieser Stelle nicht näher beschrieben werden. Sie entstehen in erster Linie in Venezuela, aber auch in Brasilien, Argentinien und anderen Ländern. Sie finden noch wenig Niederschlag in der großen, staatlichen Politik und spiegeln sich nicht in den makroökonomischen Parametern wider. Zu finden sind sie in den, noch lokal begrenzten, Initiativen revolutionärer Volksorganisationen. Was den Staat betrifft, so liegt sein "revolutionärer Charakter" vor allem darin, diese Räume nichtkapitalistischer Gegenmacht zu fördern - über Gesetze, Umverteilung von Finanzmitteln, Infrastruktur, etc. Anders gesagt, insofern als er der revolutionären Gegenmacht Schritt für Schritt seine eigene Macht abtritt, ist er revolutionär.

Die These ließe sich so formulieren: Die beiden Pole Reform und Revolution verbinden sich dialektisch in einer "reformistischen Makropolitik" - Sozialstaat, Diversifizierung der Handelsbeziehungen, Binnenmarktorientierung - als Mantel einer revolutionären "Mikropolitik" vorerst territorial und sektoral beschränkter Kommuneexperimente.

Kurz angemerkt sei hier auch das strategische Problem der Zeit. Wie dargestellt, treffen selbst reformerische Änderungen auf die Trägheit etablierter Verhältnisse. Die Zähigkeit des Status Quo findet sich aber nicht nur in der Makropolitik. Auch der revolutionären Mikropolitik setzt sie Grenzen. Die Essenz jedes sozialistischen Fortschrittes ist die bewusste Eigeninitiative und das Engagement des Volkes. Doch dies ist im Alltagsleben von Menschen, die seit Generationen von politischer Teilnahme ausgeschlossen waren und die immer zuallererst das tägliche Überleben ihrer Familien sichern müssen, stark unterentwickelt. Der paternalistische Sozialstaat ist daher mehrheitsfähiger als die selbstverwaltete Kommune. Dieses Dilemma ist für die lateinamerikanischen Linksregierungen insofern virulent, als sie sich regelmäßig der Wahllegitimation stellen müssen. Sie sind eben keine revolutionären Diktaturen, die sich größere Fehler, Verzögerungen und Rückschläge leisten können. Dies lässt die in mehreren Ländern durchgeführten Referenden zur Verlängerung präsidialer Mandate in einem anderen Licht erscheinen als jenem des, medial vermittelten, machthungrigen Caudillo.

In allen Linksregierungen fehlt ein Eindringen der Volksbewegungen in den Staat, auch wenn deren Kämpfe zum Aufstieg der Präsidenten beitrug.

Der dargestellte alternative Beurteilungsmaßstab führt zu einem differenzierten Abschneiden der Linksregierungen. Die reformerische Makropolitik hat zu ersten positiven Schritten geführt: ALBA, soziale Umverteilung, Investitionen und Technologietransfer. Kritisch bleibt eine umfassende Agrarreform, insbesondere in den Andenländern Bolivien und Ekuador sowie in dem ländlich geprägten Paraguay. Damit im Zusammenhang steht die Verbesserung und Sicherung der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung. Auch die Übernahme des Bankenwesens durch den Staat bleibt eine sensible Herausforderung, um eine nationale Entwicklung zu stärken. Auf der Ebene der revolutionären Mikropolitik sind die Spielräume größer geworden. Vor allem dank des Enthusiasmus der Bewegungen von unten und nur zum Teil durch staatliche Förderung von Gegenmacht - wobei die Person Hugo Chávez als kreativer Impulsgeber von oben in Venezuela zweifellos eine wichtige Rolle spielt.

Das kritischste Moment scheint eine seltsame Eigendynamik der Macht zu sein, vor der selbst die revolutionärsten Führer der Geschichte nie gefeit waren. Diese führt zu einem, oft berechtigtem, trotzdem aber nicht weniger bedrohlichem Misstrauen in die vorwärts treibende Eigeninitiative des organisierten Volkes. In allen Linksregierungen fehlt ein numerisch relevantes Eindringen der revolutionären Volksbewegungen und ihrer Kader in die staatlichen Institutionen, auch wenn deren Kämpfe oft am Beginn des Aufstiegs der heutigen Präsidenten standen. Seien es die bolivianischen Bergarbeiter, die argentinischen Arbeitslosen, die venezolanischen Bauern oder die brasilianischen Landlosen. Ihre Namen und Gesichter sind selten in den Kabinetten und Führungspositionen zu finden. Vielmehr werden diese Räume durch Neueinsteiger oder Experten aus der Mittelklasse eingenommen, denen die innige Verbindung mit der organisierten Volksbewegung fehlt. Dies führt zur Gefahr einer abgehobenen Bürokratie, zur Entfremdung von den Volksbewegungen, zum Verlust des Sensors für brennende Probleme der Massen.

Eine sich verfestigende oder gar vergrößernde Distanz zwischen "Staat und Zivilgesellschaft" ist für die lateinamerikanischen Veränderungsprozesse die entscheidende Gefahr. Dass das Problem dabei vor allem in der kaum veränderten bürgerlichen Institutionalität liegt, also beim Staat, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die unzureichend organisierte und politisierte Zivilgesellschaft ihren Anteil daran hat. Vom Teil des Problems zum Teil der Lösung für eine endgültige strukturelle Transformation Lateinamerikas zu werden - darin liegt die Herausforderung für die revolutionären Volksbewegungen des Kontinents in den nächsten Jahren.


Anmerkungen:

1) Statistische Datenbank der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), auf www.eclac.org/estadisticas.

2) Habel, Janette: Washingtons Sicherheitsarchitektur für den Kontinent, in: Le Monde Diplomatique Nr. 6677, 2002.

3) Bodner, Gernot: Hugo Chávez ruft zum Neustart. Das Referendum und seine politische Signalwirkung, in: intifada, Nr. 25, 2008, S. 31-34.

4) Ramonet, Ignacio: Umzingelung Venezuelas, auf www.amerika21.de, 9.1.2010.

5) Habel, Janette: a. a. O.

6) Statistische Datenbank der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), auf www.eclac.org/estadisticas; Weltbank: Key Country Statistics, auf econ.worldbank.org.

7) Rus, Veljko: Die Institutionalisierung der revolutionären Bewegung, in: Supek, Rudi; Bosnjak, Branko (Hrsg.): Jugoslawien denkt anders. Marxismus und Kritik des etatistischen Sozialismus, Wien 1971, S. 193-210.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Das Freihandelsprojekt ALCA stieß am gesamten Kontinent auf Wiederstand.

Hoffen auf bessere Zeiten: Frauen warten vor einer Kirche in La Paz, Bolivien.

Raute

INTERNATIONAL

Klimaschutz heißt Gerechtigkeit

Das Scheitern der Konferenz von Kopenhagen

Von Stefan Hirsch

Bei der Klimakonferenz ging es um mehr als Umweltschutz: Das zentrale Problem ist die globale Verteilung und die Untragbarkeit des kapitalistischen Entwicklungsmodells.


Der Treibhauseffekt ist heute zu einer unbestreitbaren Tatsache geworden, die Position der "Klima-Skeptiker", die die Klimaerwärmung verleugnen, führt ein verlorenes Rückzugsgefecht. In der Tat ist es so, dass die vorhandenen Daten nicht für eine genaue Klimaprognose ausreichen, oder dass Mechanismen vorliegen könnten, die die weltweite Durchschnittstemperatur stabilisieren. Allerdings: Die physikalischen Eigenschaften der wesentlichen Treibhausgase sind seit längerer Zeit bekannt. Kohlendioxid und Methan absorbieren Wärmestrahlung - was zu höherer Temperatur in der Atmosphäre führt. Zweifellos gegebene Unsicherheiten der Prognose gehen daher in beide Richtungen: Vielleicht ist alles nicht so schlimm. Vielleicht ist es schlimmer. Wenn man über die Zukunft der menschlichen Zivilisation redet, ist es wohl vernünftiger etwas vorsichtiger zu sein, als wegen Untätigkeit gekocht zu werden. Denn genauso unsicher wie die Prognosen zum Ausmaß der Erwärmung sind auch ihre Auswirkungen - ein echtes Albtraumszenario ist denkbar.

Der wesentliche Grund für die immer noch anhaltende Verleugnung des Treibhauseffekts ist übrigens ein ideologischer: Einem globalen Problem wie dem Treibhauseffekt ist offensichtlich nicht mit dem freien Markt beizukommen, sondern nur mit staatlichem Plan - auf globaler Ebene. Wer ein ordentlicher Ultraliberaler ist, der beschließt zu verleugnen, was nicht sein darf. Wer den freien Markt zu Götzen erklärt hat, der muss in weiterer Folge aus dem Treibhauseffekt eine Verschwörung machen.


Untätigkeit und Gerechtigkeit

Angesichts der gigantischen Herausforderung des Klimawandels ist die Untätigkeit der globalen Eliten beschämend. Die Unfähigkeit zu einem verbindlichen Abkommen zu gelangen ist die eine Seite. Die Fragwürdigkeit eines solchen Abkommens eine zweite - es setzt voraus, dass man sich auch daran hält: Nach dem Beschluss von Kyoto Anfang der 1990er Jahre ist die Menge des global ausgestoßenen Kohlendioxids um 10 Prozent gestiegen. Die Verweigerung jedes echten Dialogs ist eine dritte Seite: Abgeschirmt von Tausenden dänischen Polizisten haben die Mächtigen der Welt einen diplomatischen Eiertanz veranstaltet. An der Oberfläche scheiterte die Konferenz an den großen zwei, den USA und China, die 20 respektive 21 Prozent des jährlichen Kohlendioxids ausstoßen. Beide konnten sich nicht auf einen Schlüssel für die Verteilung der Belastung aus einer Verringerung der Treibhausgase einigen. Ohne sich auf Details einzulassen: Die USA möchten keine Verringerung des CO2-Ausstoßes, der soweit geht, dass er der US-Wirtschaft schaden könnte. Und China möchte sich nicht das Recht auf einen den Industriestaaten vergleichbaren Lebensstandard nehmen lassen. Einfach gesprochen sind wir in diesem Streit auf der Seite von China. In China gibt es 17 private Autos pro 1000 Menschen (Zahl von 2006). In Europa liegt dieser Wert bei 300, in den USA bei 445. China und die USA stoßen gleich viel Kohlendioxid aus, aber die chinesische Bevölkerungszahl ist fünfmal höher. Die Debatte über den Klimawandel ist dabei immer auch eine Debatte um globale Verteilung - um Gerechtigkeit. Es ist absolut verständlich, wenn die großen Schwellenländer wie China und Indien keinem Abkommen zustimmen, das ihre industrielle Entwicklung auf ein Niveau unterhalb jenem der Zentren der imperialistischen Weltwirtschaft festlegt.

Wer den freien Markt zu Götzen erklärt hat, der muss in weiterer Folge aus dem Treibhauseffekt eine Verschwörung machen.

Aber bei dieser Betrachtung gibt es ein Problem: Die Welt verträgt nicht einmal eine USA - was den Ausstoß an Treibhausgasen, aber auch den Ressourcenverbrauch betrifft. In den USA leben 5 Prozent der Weltbevölkerung, die 20 Prozent des Erdöls verbrauchen. Schließen 1,3 Milliarden Chinesen zu diesem "Entwicklungsniveau" auf, dann gibt es kein Erdöl mehr für den Rest der Welt (der ebenfalls zu viel verbraucht). Erdöl ist dabei nur die prominenteste der knappen Ressourcen, die Liste ließe sich lange fortsetzen, etwa mit Uran, Phosphor oder mit Ackerland, das den zunehmenden Fleischkonsum der globalen Mittelschicht decken muss (der im Übrigen auch Methan produziert, ebenfalls ein Treibhausgas).

China ist gegenüber den Industriestaaten im Recht, aber es zeigt sich, dass alle gemeinsam einem Entwicklungsmodell folgen, das nur dann die Tragfähigkeit der Erde nicht völlig überfordert, wenn seine Segnungen auf eine kleine Minderheit von Privilegierten beschränkt bleibt. Und auch diese sind eigentlich schon zu viel: Was wir heute erleben, ist, dass das Konsum- und Produktionsmodell der globalen Mittel- und Oberschicht, ob sie jetzt in New York, Shanghai oder Wien wohnt, buchstäblich auf Kosten der Lebensgrundlage der Ärmsten geht. Die Hauptbetroffenen des Klimawandels sind die Bewohner der Pazifikinseln oder Bangladesch' (die überschwemmt werden) und die Bewohner der Trockengebiete der 3. Welt, deren landwirtschaftliche Grundlage vernichtet wird.


Wachstum und Effizienz

Die Antwort Chinas auf dieses Problem lautet "Energieeffizienz" - mehr Wachstum mit weniger Ausstoß von Kohlendioxid. Die Antwort eines etwas nachdenklicheren Kapitalismus in Europa lautet "grüner New Deal". Der "grüne New Deal" verspricht zusätzliches Wachstum und zusätzliche Arbeitsplätze durch den Umstieg auf erneuerbare Technologien (vor allem Strom aus Solarzellen). Mehr Energieeffizienz tut nicht weh und der "grüne New Deal" will sogar für zusätzlichen Reichtum sorgen. Nun: China hat gewaltige Fortschritte bei der Energieeffizienz gemacht, der Ausstoß von Kohlendioxid wächst deutlich langsamer als das BIP - aber er hat sich dennoch seit 1990 verdoppelt. Es lässt sich aus heutiger Sicht nicht vollständig beantworten, ob die Probleme des Fortschritts (der Treibhauseffekt) mit noch mehr Fortschritt (Solarzellen) geheilt werden können. Das liegt auch daran, dass eine endgültige Antwort schwierig ist und eine Frage der Zeit und der Ressourcenverteilung darstellt: Wie viel Zeit bleibt - und wie viele Ressourcen können für neue Technologien aufgewendet werden? Letztlich stellt sich die Frage, wie viel rücksichtsloses kapitalistisches Wachstum durch technologischen Wandel und steigende Effizienz kompensiert werden kann.

Der Klimawandel rührt daher an einer der wesentlichen Grundlagen des Kapitalismus, der Notwendigkeit ewigen Wachstums. Unter Bedingungen eines zu erzielenden maximalen Profits führt technologischer Fortschritt zur Möglichkeit zusätzlicher Produktion. Wenn diese nicht durch zusätzlichen Konsum begleitet wird (und "die Wirtschaft wächst"), dann werden Menschen entlassen und das Gleiche mit weniger Arbeitskräften produziert. Eine kapitalistische Wirtschaft ohne Wachstum nennt sich Krise.

Der Klimawandel rührt an einer der Grundlagen des Kapitalismus, der Notwendigkeit ewigen Wachstums. Ein paar Solarzellen werden nicht ausreichen.

Selbstverständlich ist technologischer Fortschritt in vielen Bereichen wünschenswert und wohl auch in der Lage, wesentliche Schwierigkeiten zu lösen. So schließt sich etwa das Ozonloch der 1980er Jahre, weil die ozonschädigenden Substanzen aus der chemischen Industrie durch alternative Stoffe ersetzt wurden. Unter kapitalistischen Bedingungen stellt sich die Frage, welche Seite des Fortschritts denn schneller ist: Jene, die Ressourcen einspart, oder jene, die Wachstum generiert. Die letzten 200 Jahre geben darauf eine eindeutige Antwort.

Die Klimakrise wirft daher einmal mehr die Notwendigkeit eines Systemwandels auf: Das aktuelle kapitalistische Wachstumsmodell wird untragbar. Angesichts der Notwendigkeit internationaler Gerechtigkeit muss in den heutigen Industriestaaten festgestellt werden, dass es keinen Übergang zu einer der Tragfähigkeit der Erde angepassten Wirtschaft gibt, der ohne große Umstellungen verlaufen kann. Es braucht einen Bruch mit der totalen Mobilität, einen Bruch mit der Gesellschaft des Automobils und den suburbanisierten Riesenstädten, deren Einfamilienhäuser wie Krebsgeschwüre in das Umland ausrinnen. Der Traum vom Leben im Grünen zerbricht am Stau auf der Autobahn und der Energieintensität dieser Lebensweise. Es braucht einen Bruch mit dem hemmungslosen Konsum der Ober- und (Teilen der) Mittelschichten. Es ist keineswegs so, dass "der Amerikaner" zu viel verbraucht. Aber jene 20 Prozent der Wohlhabenden, die für die Hälfte des US-Konsums verantwortlich sind, jene 20 Prozent verbrauchen tatsächlich zu viel. Gemeinsam mit ihren wohlhabenden Kollegen in aller Welt. Aber unter kapitalistischen Bedingungen gibt es kaum Möglichkeiten, das zu beheben - wer den Wohlhabenden den Konsum beschränkt, der macht alle arbeitslos. Die globale Umweltkatastrophe erfordert wohl, die Logik des kapitalistischen Wachstums zu durchbrechen. Ein paar Solarzellen werden nicht ausreichen.

Insofern stellt die Konferenz von Kopenhagen auch ein Novum dar: Denn zum ersten Mal wurden solche grundlegenden Probleme von den Präsidenten Venezuelas und Boliviens im Rahmen eines internationalen Forums geäußert.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Die CO2-Emissionen sind der Streitpunkt zwischen Industrie- und Schwellenländern.

Raute

EUROPA

Hegemonie der Apathie

Analyse der Wahlen in Österreich 2009

Von Sebastian Baryli

Der anhaltende Trend setzt sich fort: Verluste für die beiden Großparteien und Gewinne für den Populismus. Die Führung der herrschenden Elite bleibt trotzdem unangetastet.


Im vergangenen Jahr wurden in Österreich drei Wahlen geschlagen, weitere drei stehen den Wahlberechtigten nun im kommenden bevor. Die Relevanz des dichten Wahlkalenders bemisst sich aber weniger in den taktischen Erwägungen der Spin-Doctors und Spitzenkandidaten, sondern letztendlich lassen die Wahlergebnisse Rückschlüsse auf den Zustande beziehungsweise auf die Art und Weise, wie die Elite ihren hegemoniale Einfluss absichert, zu. Darin lassen sich langfristige Trends erkennen, die auf strukturelle Merkmale unseres politischen Systems verweisen.

Manchmal können aber selbst langfristige Trends eine schockartige Wirkung entfalten. Im September wurden in Österreich auf Landesebene zwei Wahlen durchgeführt: Am 20. September war man in Vorarlberg dazu aufgerufen, einen neuen Landtag zu wählen, und schon eine Woche darauf folgte das Bundesland Oberösterreich ebenfalls mit einer Landtagswahl. Vor allem in Oberösterreich hat das Ergebnis für landespolitische Aufregung gesorgt, da die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) eine herbe Niederlage einstecken musste. In beiden Ländern konnten die Österreichische Volkspartei (ÖVP) die Stimmen in der Tendenz halten, die Roten mussten jedoch teilweise herbe Niederlagen einstecken. Die SPÖ in Oberösterreich versuchte sogleich, mit einem Personalwechsel an der Führungsspitze ein Signal zu setzen. Der unscheinbare Erich Haider wurde durch den ergrauten Josef Ackerl als SP-Landeschef ersetzt.

Trotz der Schockwirkung in Oberösterreich waren die Ergebnisse nicht wirklich überraschend. Vielmehr spiegelten sie lang- und mittelfristige Tendenzen des politischen Systems in Westeuropa wider. Dennoch gewähren Wahlergebnisse in gewisser Regelmäßigkeit Einblick in den Kräftekonstellationen innerhalb des politischen Systems. Insbesondere stellt sich die Frage, was dies für die Beschaffenheit der Hegemonie bedeutet. Denn die Fähigkeit der herrschenden Elite, eine führende Rolle in der Gesellschaft einzunehmen, ist in unserem politischen System unter anderem mit Wahlen verbunden.

Dazu gibt es durchaus kontroverse Debatten. Eine entscheidende Frage, die zu behandeln sein wird, ist, wie wir den aktuellen Status des herrschenden Blocks an der Macht einordnen können. Gibt es tatsächlich Anzeichen einer fundamentalen Krise der herrschenden Hegemonie, die man als systemrelevant bezeichnen könnte, wie manche behaupten? Können wir die politische Abstinenz, die Teile der Bevölkerung erfasst hat, als einen Faktor der Stabilisierung oder Destabilisierung des politischen Systems interpretieren?


Autoritärer Etatismus und Hegemonie

In methodischer Hinsicht sind vor allem zwei Elemente zu berücksichtigen, welche die Analyse bestimmen sollen: autoritärer Etatismus und Hegemonie. Ausgehend von diesen Kategorien können wir eine kritische Perspektive auf die Wahlgänge entwickeln.

Der Begriff Etatismus, ausgearbeitet von Nicos Poulantzas, versucht, die neuen Entwicklung der politischen Systeme in Westeuropa zu verstehen und historisch einzuordnen. Unter anderem geht es auch darum, zu erklären, wie die Parteien der Arbeiterbewegung in den Staatsapparat integriert werden konnten. Etatismus bezeichnet das Phänomen, dass sich das politische Leben des Staates zunehmend auf die Exekutive konzentriert. Die Legislative gerät in immer größere Abhängigkeit und in ein untergeordnetes Verhältnis zur Exekutive. "Eine Staatsform, die ich in Ermangelung eines besseren Terminus, als autoritären Etatismus bezeichnen werde, ein Terminus, der die allgemeine Tendenz dieser Transformation anzuzeigen vermag: ein gesteigertes Ansichreißen sämtlicher Bereiche des ökonomisch-gesellschaftlichen Lebens durch den Staat artikuliert sich mit dem einschneidenden Verfall der Institutionen der politischen Demokratie sowie mit drakonischen und vielfältigen Einschränkungen der sogenannten >formalen< Freiheiten, die man erst wirklich schätzen lernt, wenn sie einem genommen werden."(1)

Aus wissenschaftlicher Sicht ist vor allem bemerkenswert, dass diese Phänomene heute in der Politikwissenschaft wieder lebhaft diskutiert werden, doch diesmal unter dem Titel Postdemokratie. Der britische Politikwissenschafter Colin Crouch hatte das Konzept in die Debatte eingebracht, um vor allem das Problem der Beteiligung in Demokratien neu zu theoretisieren.

Die beschränkte Bedeutung der Legislative im politischen System hat weitreichende Auswirkungen auf die Funktion von Parteien. Gesetze werden vor allem auf Initiative der Regierung beschlossen und der Inhalt der Gesetze wird zuvor vom zuständigen Ministerium ausgearbeitet. Das gesamte Parteiensystem wird in zunehmenden Maße Ausfluss der Exekutive, nicht umgekehrt, wie es ursprünglich in den Verfassungen festgelegt wurde. Die Parteien sind nicht mehr Ausdruck bestimmter sozialer, kultureller und politisch geformter Kollektive, sondern sie haben sich zu Verwaltern des Staates, zu einer Verlängerung der Exekutive, transformiert.

Die Feststellung dieser Tendenzen hat natürlich Einfluss auf die Analyse von Wahlen in einem solchen politischen System. Denn Verschiebungen in der Stimmverteilung zwischen jenen Parteien, die eng mit den Strukturen des Staates verflochten sind, müssen als Verschiebungen in den Strategien des herrschenden Blocks an der Macht verstanden werden. Dieser Prozess reflektiert also weniger Kräfteverhältnissen in der Gesamtgesellschaft als vielmehr im Staatsapparat selbst. Zwar findet eine Artikulation zwischen Stimmverteilung und Kräfteverhältnisse innerhalb des Staatsapparates statt, dies darf jedoch keinesfalls als Repräsentation von Interessen missverstanden werden.

Eine Repräsentation innerhalb des Staates im eigentlichen Sinne kann nur bei jenen Kräften stattfinden, die Teil des herrschenden Blocks sind.

Im Staatsapparat verdichten sich zwar die Kräfteverhältnisse der Gesellschaft, wie Poulantzas es formuliert hat, aber eine Repräsentation von Interessen im engeren Sinne kann nur bei jenen Kräften stattfinden, die Teil des herrschenden Blocks sind - die Volksmassen sind davon ausgeschlossen. Deren Interessen und Wünsche artikulieren sich in den sogenannten populistischen Parteien, deren politische Identität unter anderem in diesem Ausgeschlossensein von Machtstrukturen begründet liegt. Die entscheidende Demarkationslinie verläuft also zwischen den Parteien, die den Staatsapparat repräsentieren, und den populistischen Parteien. Der treibende Widerspruch auf politischer Ebene zwischen Staatsapparat und Volk reflektiert sich innerhalb des Parteiensystems als Gegensatz zwischen den herrschenden Massenparteien sowie den populistischen Parteien.

Nun wird auch klar, was dies für Österreich bedeutet: ÖVP und SPÖ, als Parteien des Staatsapparates, müssen sich auf der politischen Ebene vor allem gegenüber der populistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) behaupten. Dieser Widerspruch ist in der politischen Arena Österreichs, so traurig das für die Linke auch sein mag, das entscheidende Moment. Auch bei den kommenden Wahlen in Wien, dem Burgenland und der Steiermark wird dies der treibende Motor bleiben.

Der Begriff der Hegemonie ist das zweite Element, das die Analyse bestimmen soll. "Das methodologische Kriterium, auf welches die eigene Untersuchung gegründet werden muss, ist folgendes: dass sich die Suprematie einer gesellschaftlichen Gruppe auf zweierlei Weise äußert, als 'Herrschaft' und als 'intellektuelle und moralische Führung'. Eine gesellschaftliche Gruppe ist herrschend gegenüber den gegnerischen Gruppen, die sie 'auszuschalten' oder auch mit Waffengewalt zu unterwerfen trachtet, und sie ist führend gegenüber den verwandten und verbündeten Gruppen. Eine gesellschaftliche Gruppe kann und muss sogar bereits führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert (das ist eine der Hauptbedingungen für die Eroberung der Macht); danach, wenn sie die Macht ausübt und auch fest in Händen hält, wird sie herrschend, muss aber weiterhin auch 'führend' sein."(2) Für die Analyse der politischen Situation ist nun entscheidend, wie die führende Rolle einer sozialen Gruppe konkret organisiert ist. Durch welche intellektuellen und ethischen Projekte vermag die kapitalistische Klasse ihre führende Position weiter auszuüben?


Trends und Schockerlebnisse

Die Ergebnisse der drei Urnengänge lassen sich kurz zusammenfassen. Bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2009 mussten sowohl ÖVP als auch SPÖ herbe Verluste verkraften. Dennoch war die SPÖ der deutlichere Wahlverlierer, denn während die Konservativen 2,7 Prozentpunkte einbüßten, mussten die Sozialdemokraten ganze 9,6 Prozentpunkte Verlust hinnehmen. Neben der FPÖ (plus 6,4 Prozentpunkte) war die Liste Hans Peter Martin mit einem Plus von 3,7 Prozentpunkten klarer Wahlsieger. Ihr Ergebnis war deswegen bemerkenswert, da im Vorfeld über Verluste für die Liste spekuliert worden war. Hans Peter Martin konnte aber vor allem bei Nichtwählern und früheren SPÖ-Wählern punkten.

Die Wahlbeteiligung war zwar mit 46 Prozent gegenüber 2004 leicht gestiegen, dennoch kann nicht von einer Umkehr des negativen Trends der letzten EU-Wahlen gesprochen werden. Mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Personen blieben den Urnen fern, wobei dieser politische Absentismus teilweise Ausdruck bewusster politischer Motivation ist. Laut Forschungsinstitut SORA drückten die Nichtwähler/innen ihre "... Enttäuschung über die EU und ihre Politiker und Unzufriedenheit mit dem Angebot an Parteien und Politikern in Österreich ..." aus.

In Vorarlberg setzte sich ein ähnlicher Trend unter alemannischen Vorzeichen fort. Denn in dem tiefschwarzen Bundesland konnte die ÖVP ihre absolute Mehrheit zwar verteidigen, dennoch musste sie einen Verlust von 4,1 Prozentpunkten hinnehmen. Die SPÖ startete zwar auf einem niedrigeren Niveau, dennoch büßte die Partei 6,9 Prozentpunkte ein. Klare Wahlgewinner war die FPÖ, die mit einem Plus von 12,2 Prozentpunkten auf 25,1 Prozent kam. Von besonderem Interesse sind hier auch die Wählerströme. Denn den größten Verlust an Wähler/innen musste die ÖVP an die FPÖ verkraften. Der Austausch zwischen SPÖ und FPÖ ist in diesem Bundesland weniger deutlich. Die Sozialdemokraten verloren im westlichsten Bundesland vor allem an die Schwarzen und die Nichtwählerschaft. Die Wahlbeteiligung war mit 68,4 Prozent relativ schwach, obwohl ein leichter Anstieg gegenüber 2004 zu verzeichnen war.

Die oberösterreichischen Wahlen hatten ebenfalls den allgemeinen Trend widergespiegelt, doch diesmal löste der Urnengang vor allem bei der SPÖ einen Schock aus. Denn während die ÖVP sogar 3,3 Prozentpunkte zulegen konnte, rutschte die SPÖ mit einem Minus von 13,4 Prozentpunkten auf 24,9 Prozent. Die Schockwirkung ergab sich vor allem aus der exorbitanten Höhe des Verlustes, der jegliche Wahlprognose übertroffen hatte. Damit rutschte die Partei unter das Niveau von 1997 ab. Ebenfalls dem Trend folgend konnte sich die FPÖ wieder als Wahlsieger feiern lassen. Mit einem Plus von 6,9 Prozentpunkten rückte sie zur drittstärksten Kraft auf. Auch hier gewinnt die ÖVP vor allem Stimmen von der SPÖ und den Nichtwählern. Im Gegensatz zu Vorarlberg fand hier eine große Wählerbewegung von der SPÖ zur FPÖ statt. SORA schätzt, dass 45.000 Stimmen an die Blauen verloren gingen. In Oberösterreich war die Wahlbeteiligung mit 80,3 Prozent relativ hoch.


Hegemonie und Passivität

Welche Aufschlüsse können uns nun diese Ergebnisse in Bezug auf die Fragestellung liefern, in welchem Zustand sich die hegemoniale Kraft der herrschenden Elite befindet? Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich der langfristige Trend zur Erosion der beiden Großparteien weiter fortsetzt. Der Verfall in der Wählerzustimmung wurde in der Politikwissenschaft unter anderem mit der Veränderung des Parteiensystems und der Entstehung neuerer Kleinparteien erklärt. Doch vor allem das Konzept des autoritären Etatismus hilft uns, dieses Phänomen zu verstehen und historisch einzuordnen. Denn die Verflechtung der herrschenden Parteien, insbesondere von SPÖ und ÖVP, mit dem Staatsapparat haben zu einer zunehmenden Entfremdung gegenüber der Wählerschaft geführt. Wir stehen also vor der paradoxen Situation, dass Erosion in den Wahlergebnissen eine größere Machtfülle der Parteien aufgrund deren Integration in den Staatsapparat widerspiegelt.

Die Wahlergebnisse reflektieren einen widersprüchlichen Prozess: Jene Parteien, die mit dem Staatsapparat eng verwoben sind, verlieren in zunehmenden Maße die historische und kulturelle Verbindung zu jenen sozialen Schichten, die sie früher repräsentiert hatten. Sie agieren nur mehr als Schalt- und Schlüsselstellen in den Institutionen der Exekutive, als Instrument des Ausgleichs zwischen den Fraktionen des Blocks an der Macht. Diese zusätzliche Entfremdung gegenüber dem Volk kommt in den fortgesetzten Verlusten von SPÖ und ÖVP zum Ausdruck. Dennoch darf diese Vertiefung der Entfremdung auf politischer Ebene nicht automatisch als Hegemonie- oder gar Machtverlust verstanden werden. Zwar werden nun keine sozialen Bewegungen in Parteien organisiert und repräsentiert, doch die Führung dieser Massen funktioniert durch andere Modi. Ein Desinteresse an Wahlen darf nicht allzu optimistisch als Protest interpretiert werden, sondern ist zunächst ein Verharren in politischer Passivität. Diese fehlende Beteiligung am politischen Prozess bedeutet nicht, dass die Massen der hegemonialen Führungskompetenz der herrschenden Elite entzogen wären. Vielmehr scheint es so zu sein, dass das moderne politische System des autoritären Etatismus genau diese passive Form der Hegemonie hervorbringt. Teile der Massen verharren in einem Zustand der politischen Abstinenz, der sich zwar subjektiv als Protest oder zumindest Verdruss äußern kann, objektiv aber die bestehende Konstellation der herrschenden Elite nicht in Frage stellt. Man könnte diesen Modus als Hegemonie der Passivität, oder noch überspitzter als Hegemonie der Apathie bezeichnen.

Politische Passivität bedeutet nicht automatisch, dass die Massen der hegemonialen Führungskompetenz der Eliten entzogen wären.

Dennoch haben die Wahlen innerhalb des Staatsapparates eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse ausgelöst. Allgemein scheint die ÖVP gestärkt daraus hervorgegangen zu sein, obwohl dies nicht unmittelbar Rückschlüsse auf die Bundesebene erlaubt. Tatsächlich sind die inhaltlichen Grenzlinien zwischen den Parteien schwierig zu ziehen. Selbst in der Frage, wie auf die Weltwirtschaftskrise zu antworten sei, kann man zum jetzigen Zeitpunkt keine klaren Festlegungen treffen. Trotzdem muss man festhalten, dass aufgrund ihrer Geschichte die Volkspartei dem Neoliberalismus und der Austeritätspolitik etwas näher steht als die SPÖ, obwohl diese selbst maßgebliche Triebkraft des Neoliberalismus in Österreich war. Umso interessanter ist der anhaltende Trend, dass die Konzepte des Neoliberalismus von den Wähler/innen nicht in eindeutiger Form abgestraft werden. Es ist also fraglich, ob sich neokeynesianische Konzepte als Antwort auf die Krise durchsetzen werden. Dennoch scheint die herrschende Konstellation, die Große Koalition, für die nächste Etappe die tragfähigste Option. Die kommende Welle der Austeritätspolitik wird nur mittels sozialdemokratischer Dominanz in den Gewerkschaften durchsetzbar sein. Trotz der Kräfteverschiebungen ist also kein Bruch innerhalb des Staatsapparates in Sicht.

Was aber tatsächlich als Ausdruck eines Widerspruchs zum Staatsapparat verstanden werden kann, zumindest in einigen Zügen, ist das Phänomen des Populismus. Denn während SPÖ und ÖVP sich Gedanken über das Krisenmanagement machen müssen, drücken sich vor allem in der FPÖ Elemente des Protests gegen diesen Staatsapparat aus. Die Gewinne der FPÖ in Vorarlberg und Oberösterreich können und werden sich mit Sicherheit auch in den kommenden Wahlen fortsetzen. Interessant wird dabei vor allem sein, ob sich die Tendenz des populistischen Protests angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit verstärken wird.


Literatur

1) Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg 2002, S. 231f.

2) Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Band 8: 16. bis 21. Heft, Hamburg 1998, S. 1947.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Schlechte Miene zum bösen Spiel: Erich Haider wurde in Oberösterreich abserviert.

So schlimm wie Haider wird es Häupl nicht ergehen. Viel zu lachen hat er aber nicht.

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EUROPA

Feuer frei

Ein Kommentar zu zwanzig Jahren Mauerfall

Von Stefan Kainz

Während der DDR im vergangenen Jahr ausgiebig gedacht wurde, schenkte man dem Unrechtsstaat im Westen Deutschlands dabei keine Beachtung.


Auf Tote schießt sich's leichter. 2009 wird vor allem als ein Jahr im Gedächtnis bleiben, in dem das mediale Sperrfeuer auf die DDR zu einem Dauerbeschuss wurde, dessen Lärm alle Widerrufe übertönte. Wenn die Sieger die Geschichte umschreiben, dann steht ihnen heute ein so breites Heer an Verlagshäusern zur Verfügung, dass die Kapitulation des Gegners im Vorhinein feststeht.

Die Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze, für die es keine Rechtfertigung geben kann, hallen laut in der ausgemachten Debatte, während die hunderten toten Flüchtlinge, die sich nach der Wiedervereinigung an der deutsch-polnischen Grenze anhäuften, längst still entsorgt wurden. Der Lärm zweier Kriege, des geglückten Überfalls auf Jugoslawien und des mörderischen Einsatzes in Afghanistan, übertönen die Erinnerungen an den einen deutschen Staat, der im Gegensatz zu seinem Nachbarn gegen den Faschismus und gegen eine neuerliche aggressive Außenpolitik gegründet wurde.

Was heutzutage ohne Scham nur mehr die "DDR-Diktatur" genannt wird, entstand 1949 als antifaschistischer Staat auf deutschem Boden. Nur vier Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren plötzlich Widerstandskämpfer, KZ-Häftlinge und Kommunisten an der Macht. Dies ist bis heute nicht überwunden in Westdeutschland, in dem nach dem Krieg neuerlich Nazis in die höchsten Positionen des Staates drangen, vom Bundeskanzler über diverse Minister bis hin zu Ministerpräsidenten der Bundesländer. Während eine Tätigkeit als Informant der Stasi heute Linke-Politiker zum Ausscheiden aus den Länderparlamenten zwingt, konnte noch 1979 das SA-Mitglied Karl Carstens das NSDAP-Mitglied Walter Scheel als Bundespräsident der BRD ablösen. Doch da war die Schlacht gegen die linke Opposition schon geschlagen.

Die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik wird von jenen immer wieder aufs Neue geschrieben, die ihre eigene erfolgreich vertuscht haben.

Politische Gegner wurden im Westen Deutschlands, der seit zwanzig Jahren die DDR dieses Vergehens unaufhörlich beschuldigt, bereits in den Anfangszeiten verfolgt. Die erste Partei, die sich nach Kriegsbeginn in Deutschland konstituierte, die KPD, wurde schon 1956 (nach jahrelangen Verfahren) verboten - und damit der Widerstandskampf gegen die neuen, alten Herrscher. An die 200.000 Ermittlungsverfahren gegen KPD-Mitglieder folgten - ein Vorbote des Radikalenerlasses, der ab 1972 Linke aus öffentlichen Ämtern säubern sollte.

Doch der freiheitlich-demokratische deutsche Außenposten der USA gab sich damit nicht zufrieden. Während die DDR in ihrer Außenpolitik die friedliche Koexistenz propagierte, folgte schon 1952 bei einer Demonstration in Essen gegen die Wiederbewaffnung der BRD der erste Todesschuss durch die westdeutsche Polizei. Weitere Todesopfer eines entfesselten liberalen Staates sollten folgen: Atomkraftgegner, Antifaschisten, protestierende Studenten, radikale Linke. Raue Zeiten, die im Zuge der 68er-Debatte der vergangenen Jahre als Unglücksfall für die sich bildende Demokratie umgelogen wurden. Tatsächlich behauptete die herrschende Kaste damals gegen einen ohnehin hoffnungslos unterlegenen Gegner ihre Vorherrschaft, indem sie ihn von der Straße fegte und manche der vorlauten Opponenten in ihr System integrierte.

Was für eine Gelegenheit für das Establishment, als im Sommer 2009 bekannt wurde, dass der folgenreiche Mord am Studenten Benno Ohnesorg offenbar durch einen Stasi-Agenten in den Reihen der Berliner Polizei geschah. So konnte man eine Teilschuld beim Kampf gegen die innere Opposition, der man sich ohnehin kaum bewusst war, dem äußeren Gegner zuschreiben. Doch der Agent Kuras beweist nur, zu welchen Verfehlungen die DDR imstande war: ihre Agenten in jene protofaschistischen Horden einzuschleusen, die die Studentenbewegung terrorisierten - nichts ändert das an der Tatsache, dass noch jede BRD-Regierung zu zahlreichen verbrecherischen Methoden griff, sobald ihre Bürger aufmuckten.

Die BRD war von Anfang an ein Staat, der zu seiner Demokratie nur diejenigen zuließ, die den antikommunistischen Kampf beschworen und dem kommunistischen abschworen. Alle anderen wurden und werden verfolgt. Und die Geschichte der DDR wird von jenen immer wieder aufs Neue geschrieben, die ihre eigene erfolgreich vertuscht haben.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

DDR-Ausverkauf: Die Erinnerungskultur wurde vom Sieger übernommen.

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EUROPA

Kasinokapitalismus am Wörthersee

Zum Hypo-Skandal in Kärnten

Von Reinhard Loidl und Stefan Hirsch

Nach einer Ostexpansion ohne Risikomanagement und vermuteten kriminellen Machenschaften bekommt der österreichische Staat Risiken in unkalkulierbarer Höhe umgehängt.


Das Wochenende vom 11. bis 13. Dezember 2009 und der darauffolgende Montag bescherten uns ein Lehrstück in der realen Verfasstheit der österreichischen Politik. Auf der Agenda stand die Entscheidung über die Zukunft der Hypo-Alpe-Adria (HAA) und unbestritten war, dass die Kärntner Großbank per Jahresende Konkurs anmelden müsse, sofern die Eigentümer die massiven Verluste nicht durch neues Kapital abdecken oder der österreichische Staat die Bank auffangen würden.

Das Ergebnis der von Finanzminister Pröll, der Kärntner Landesregierung und den (bisherigen) Eigentümern Bayrische Landesbank und Grazer Wechselseitige Versicherung geführten Verhandlungen ist bekannt - die Republik Österreich übernimmt die Hypo Alpe Adria und damit all ihre Verluste.

Dieses Ergebnis mag nicht überraschen, auch wenn es den vollmundigen Aussagen der Spitzenpolitiker in den Wochen davor diametral widerspricht:

"Es besteht nicht die geringste Absicht, den Steuerzahler für die HAA zur Kasse zu bieten" (Pröll Ende November im Kurier).

"Die sollen sich nicht spielen. Es gibt kein Szenario, in dem der Bund mir nichts dir nichts die Probleme anderer löst." (Finanzstaatssekretär Schieder, SPÖ, in Richtung BayernLB)

"Es kann nicht angehen, dass alles privat sei, so lange es gut gehe, und wenn es schlecht laufe, der Staat dran sei. Die Eigentümer sind am Zug... Dass uns einfach etwas herübergeschoben wird, kann es nicht sein!" (Bundeskanzler Faymann noch am 9.12.2009)

Wie anders klang das bereits fünf Tage später: "Die von Finanzminister Josef Pröll ausverhandelte Lösung hat unabsehbare Schäden vom Land Kärnten und von der Republik Österreich abgewendet... Die Funktionsfähigkeit der Kärntner Wirtschaft konnte erhalten werden." (Faymann am 14.12.2009)

Dass den Mündern der Machtelite lediglich Lügen entspringen, ist uns bekannt und die Entscheidung zur HAA kann im Kern deshalb nicht überraschen, weil klar ist und war, dass für die Machtelite der Schutz des Kapitals die alles überragende Leitschnur darstellt. Die Details dieses Wahnsinns sind dennoch wert, genauer betrachtet zu werden, weil sie einen neuen Tiefpunkt der österreichischen Politik markieren.

Hauptgewinner der Entscheidung ist eindeutig das Land Kärnten bzw. dessen Landesregierung. Da das Land für Ausfälle bis zu einer Höhe von 13 Mrd. Euro im Fall der HAA bürgte, wäre Kärnten im Falle einer Insolvenz weitestgehend zur Kasse gebeten worden. Die weiteren Profiteure sind die großen Gläubiger der HAA, die bei einer Insolvenz viel verloren hätten und die bei der jetzigen Lösung nicht einen Cent zu der Sanierung beitragen müssen. (Eine Reduktion von Schulden - so genannte "haircuts" - waren früher einmal üblich, bevor der Staat zu einem Selbstbedienungsladen der Oligarchie wurde.) Diese Gläubiger muss man im Bereich der heimischen Großbanken suchen, auch wenn Details nicht bekannt sind.

Welche Verlusthöhe sich der österreichische Staat hat umhängen lassen, ist zumindest in der Größenordnung inzwischen bekannt: ca. drei Milliarden Euro. Daraus könnten aber auch mehr werden - mehr dazu später.

In der Folge die am 14. Dezember 2009 verlautbarte Lösung (die ein Lügengebäude darstellt - dazu im Weiteren): Das Land Kärnten, so die offizielle Darstellung, würde 200 Mio. Euro bis Mai 2010 einbringen, die BayernLB 825 Mio. Euro und die Grazer Wechselseitige 30 Mio. Euro.

Bereits am 14. Dezember fiel auf, dass die Medienberichte deutscher Zeitungen im Punkt des Beitrags der BayernLB völlig der Darstellung der österreichischen Regierung (und zu dem Zeitpunkt auch der österreichischen Medien) widersprachen. Die deutschen Medien verneinten, dass die BayernLB weitere 825 Mio. Euro zuschießen würden, sondern berichteten, dass die BayernLB Forderungen an die Tochter HAA in dieser Höhe hätte, auf die sie verzichtet hatte.

Diese konträre Darstellung muss auch österreichische Medien zur Recherche veranlasst haben, denn am Abend des 14. Dezember korrigierte beispielsweise der Standard seine Berichterstattung und schloss sich der deutschen Darstellung an.

Was vielleicht unspektakulär klingt, ist jedoch ein Unterschied wie Tag und Nacht. Im Insolvenzl der HAA hätten sich die Forderungen der BayernLB gegen ihre Tochter an die Konkursmasse gerichtet. Das heißt, die BayernLB hätte ohnehin kaum etwas von den 825 Mio. zu Gesicht bekommen. De facto war also der Beitrag der BayernLB null. Bayerns Finanzminister Georg Fahrenschon nahm dies dankbarst zur Kenntnis: "Ich bin der Republik Österreich zu Dank verpflichtet, in Stellvertretung für die Steuerzahler in Bayern."

Noch abenteuerlicher stellen sich die Lügen Josef Prölls im Falle des Kärntner Beitrags dar. Wer sich die Mühe macht, die Vereinbarung mit Kärnten im Detail anzusehen, stellt fest, dass das Land Kärnten die zugesagten 200 Mio. zum überwiegenden Teil aufbringen will, indem "Risikoprovisionen dafür verwendet werden".

Der Begriff "Risikoprovisionen" macht stutzig. Wer bezahlt diese? Anzunehmen wäre für den rechtlich Uneingeweihten, dass derjenige, für den gebürgt wird, Risikoprovisionen an den Bürgen zahlt. Die Recherche ergab Konträres: Das Land Kärnten erhielt laut geltendem Recht im Sinne des Finanzausgleichs diese Risikoprovisionen vom Bund als Abgeltung dafür, diese Bürgschaften übernommen zu haben.

Ergo: Der Beitrag des Landes Kärnten zur Rettung der HAA ist ebenfalls null. Es handelt sich großteils um Beträge, die das Land vom Bund erhielt und jetzt wieder dem Bund zurückgibt.

In schönster Kärntner Art ergoss sich am 14. und 15. Dezember zynische Häme über Restösterreich. Landeshauptmann Dörfler und VP-Finanzlandesrat Martinz feierten, dass sie "wieder eine Abwehrschlacht gegen Wien gewonnen hätten" (Zitat). Und setzten am Folgetag noch darauf: "Wir sind nicht so neger, wie man glaubt! Experten sagen: Kärnten war zweimal Sieger, einmal beim Verkauf der Hypo und auch jetzt." (Zitat Dörfler)

Zumindest eine weitere massive Lüge Josef Prölls muss man klar entlarven: Es wäre nicht machbar gewesen, das Land Kärnten in die Insolvenz schlittern zu lassen. Richtig ist, dass aufgrund der Kärntner Bürgschaft im Falle der Insolvenz der HAA diese mit Sicherheit eine Zahlungsunfähigkeit des Landes nach sich gezogen hätte. Aber eine öffentliche Körperschaft ist kein Privatunternehmen, dessen Bestand einfach gelöscht werden kann. Es waren bereits andere öffentliche Körperschaften insolvent, beispielsweise New York City in den 1970er Jahren. Deshalb sperrt kein Landtag zu, kein Krankenhaus und keine Schule!

Auswirkung wäre vielmehr gewesen, dass ein insolventes Land Kärnten kommissarisch vom Bund zwangsverwaltet worden wäre. Welch schöne Gelegenheit hätte diese Situation geboten, als Minimalschritt die Einhaltung der Verfassung durch Kärnten durchzusetzen. Warum ging die Entscheidung so eindeutig in die Gegenrichtung? Die Beantwortung dieser Frage macht die Interessenslage der österreichischen Elitenpolitik klar:

Das Land Kärnten in politische Schwierigkeiten zu bringen, ist von der Bundesregierung nicht gewünscht. Besonders die ÖVP bezieht ihre Macht überwiegend aus den Ländern und diese wären gegen eine kommissarische Verwaltung Kärntens Sturm gelaufen. Außerdem, das zeigten die Vorgänge um die Verschmelzung der Scheuch´schen Freiheitlichen Partei Kärntens (FPK) mit Straches FPÖ, will sich die ÖVP das ultrarechte Lager als möglichen Koalitionspartner erhalten. Zumindest will man deren Wählerschaft nicht verprellen.

Eine Insolvenz der HAA hätte das Großkapital in Österreich getroffen. Die Erste Bank und die Raiffeisen waren Hauptkreditgeber der HAA. Die Industriellenvereinigung in Gestalt Veit Sorgers lobbyierte massiv für eine Übernahme der HAA durch die Republik. Ob finanzielle oder politische Interessen dafür stärker ausschlaggebend waren, lässt sich nur vermuten. Immerhin gilt Veit Sorger bereits seit langem als dem BZÖ nahestehend.

Die Grazer Wechselseitige steht unter Kontrolle des Hochadels und der Katholischen Kirche (Aufsichtsratsvorsitzender ist Bruno Hubl, Abt von Stift Admont, Vize Philipp Meran und Franz Harnoncourt-Unverzagt), die wiederum den Schutz der ÖVP genießen.

Man muss kein Schelm sein, um zu vermuten, dass es sehr viel schwieriger werden wird, strafrechtliche Verstöße im Falle der HAA aufzudecken, wenn Eigentümer und Vorgesetzter der Staatsanwaltschaft dieselbe Körperschaft ist - nämlich der Bund.

DIE HAA zahlte Schmiergelder an den ehemaligen kroatischen Premier Sanader sowie an den Zagreber Bürgermeister und finanzierte die HDZ.

Und es fanden offenbar massive Gesetzesbrüche statt. Bekannt wurde bislang augenscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. So zahlte die HAA Schmiergelder an den ehemaligen kroatischen Premier Sanader sowie an den Zagreber Bürgermeister Milan Bandic und finanzierte die HDZ (die konservative "Kroatische Demokratische Union", gegründet von Tudjman).

Die HAA finanzierte die jeder Grundlage entbehrenden Immobiliengeschäfte der Ex-Generäle Vladimir Zagorec und Branimir Glavas mit 260 Mio. Euro. Zagorec sitzt inzwischen ein, Glavas flüchtete nach Bosnien.

Die HAA Tochter Hypo-Consultants wurde Mitte der 2000er mit 1,5 Mrd. Euro bewertet. Die HAA verkaufte diese Firma um 160 Mio. Euro, also zu fast einem Zehntel des Werts, an einen Kroaten (Name bislang unbekannt). Es dürfte zu massiven Geldrückflüssen an Einzelne gekommen sein, die sich bereicherten. Es scheint fast, als wäre die HAA das wesentliche Instrument gewesen, um die Mafiosi, die in den 1990er Jahren die kroatische Unabhängigkeit betrieben haben, zu unterstützen. Bürgerkrieg im Preis inklusive.

Immer dichter werden auch die Anzeichen dafür, dass der Verkauf des Mehrheitseigentums der HAA an die BayernLB mit Betrügereien gespickt war. Vermutlich ist dies auch die Ursache dafür, dass das Land Bayern und die BayernLB jetzt glimpflich aussteigen konnten. Der Verdacht liegt nahe, dass sie strafrechtlich relevante Vorfälle des damaligen Verkaufs kannten und damit Pröll unter Druck setzen konnten.

Insgesamt zeigt sich uns ein Bild, das noch weit über die auch anderswo üblichen Auswirkungen der Finanzkrise hinausgeht. Nicht nur, dass das Großkapital geschützt wird und die Allgemeinheit für die Malversationen aufkommen muss, im Falle Österreichs addieren sich noch dazu:

- Skandale und massive Betrügereien, die alle bisherigen Skandale der Zweiten Republik in den Schatten stellen;

- Eine seit Jahren verantwortungslos und unverschämt agierende politisch Ultrarechte, die von der ÖVP geschützt wird, verknüpft mit dem "Sonderfall Kärnten", einem seit Jahrzehnten außerhalb der Rechtsstaatlichkeit agierenden Bundesland, das toleriert wird;

- Massive Lügen der Regierenden, die aufgrund der "Verhaberung" ("Haberer"= österreichisch für Freund, Kumpane) der Republik von den Medien nicht bloßgestellt werden und

- Eine SPÖ, die wiederum bestätigt, dass sie zu einem Teil nur mehr eine repräsentative und keinerlei aktiv gestaltende Rolle im Staat spielt oder Verantwortung übernimmt, sondern die ÖVP gewähren lässt. Der andere Teil der SPÖ ist zutiefst in den Filz des Großkapitals verstrickt.

In größerer Perspektive wird die Sache aber noch schlimmer:

Mit der Übernahme der HAA hat die Republik klar gemacht, dass sie das gesamte österreichische Bankensystem abstützen wird - praktisch ohne Bedingungen. Offensichtlich helfen nicht einmal ausländische Eigentümer, denn die Hypo war im Besitz der Bayerischen Landesbank. Nach diesem Präzedenzfall wird der österreichischen Staat wohl auch die italienische Bank Austria retten müssen, sollte es hier zu Problemen kommen.

Tatsächlich unterscheidet sich das Modell anderer österreichischer Banken nicht sehr von der Kärntner Hypo: Schnelles Wachstum in Osteuropa - um jeden Preis. In der Wirtschaftskrise gibt es natürlich Probleme mit den aushaftenden Krediten. Nicht umsonst hat der US-Nobelpreisträger Krugman die österreichischen Banken im Frühjahr für pleite erklärt. Warum ist diese bis jetzt nicht eingetreten? Krugman ein Spinner und Österreich-Vernaderer (vernadern = österreichisch für schlecht machen)? Vielleicht hat er sich einfach geirrt. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die verbesserten Kapitalmarktbedingungen seit März 2009 sowie das ultrabillige Geld, das die Europäische Zentralbank (EZB) zur Verfügung stellt, die heimischen Ost-Banken liquide halten.

Es kann natürlich sein, dass wir uns irren. Es kann aber auch sein, dass die Republik Österreich eine unglaubliche Kapitalmarktwette reitet.

Wir haben keinen Einblick in die Bücher der Raiffeisen International. Aber mit dieser Perspektive macht die Rettung der Hypo natürlich Sinn: Bekommen die internationalen Kapitalgeber Zweifel an der Solvenz der österreichischen Banken, erhöhen sich für diese die Zinsen und die Pleite wird tatsächlich ausgelöst. Also rettet man die Hypo, um jede Unruhe zu verhindern. Gegen eine drohende Finanz-Panik wird am besten möglichst weit vorne verteidigt. Österreich scheint wie kaum ein anderes Land Europas von der richtigen Dosis Erholung der Weltwirtschaft abhängig zu sein. Gibt es einen neuen schweren Konjunktureinbruch, könnten Banken und Staat Pleite gehen. Für das Bankensystem könnte übrigens auch das Gegenteil ein Problem werden: Wenn auf Grund von vermuteten Inflationsgefahren (wegen schnellerer Konjunkturerholung) die Zinsen steigen, und die EZB nicht mehr bereit ist, unbegrenzt Geld zu drucken (wie im Augenblick), könnte es ebenfalls eng werden.

Es kann sein, dass wir uns irren. Es kann aber auch sein, dass die Republik Österreich eine gigantische Kapitalmarktwette reitet. Bei Gewinn machen die Banken, deren Eigentümer und Manager das große Geschäft. Bei Verlust springt der Steuerzahler ein und der Staat ist bankrott.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Das 1999 errichtete Zentrum der Hypo steht für das Überdimensionierte der Bank.

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EUROPA

"Es gab einen Befehl, uns etwas anzutun"

Interview mit Martin Balluch

Von Stefan Kainz

Am 2. März 2010 beginnt der Prozess gegen zehn Tierrechtler am Landesgericht Wiener Neustadt. Einer der Hauptangeklagten spricht über das Ausmaß der Repression.


intifada: Wie viele Seiten umfasst die Akte zu eurem Prozess?

Balluch: Wir liegen bei 200.000 Seiten, also doppelt so viel wie beim BAWAG-Prozess.

intifada: Wieso findet das Verfahren in Wiener Neustadt statt und nicht, wie von euch gefordert, in Wien?

Balluch: Ein Wiener Neustädter Staatsanwalt hat sich der Sache angenommen, ein Mitglied des Cartellverbands (CV) und darüber hinaus Jäger und gegen den Tierschutz eingestellt. Er hat sich offenbar besonders engagiert und das Ganze nach Wiener Neustadt verschleppt. Das funktionierte so: Bei einem Gumpoldskirchner Gemeinderat der Grünen gab es eine Hausdurchsuchung, die von demselben Staatsanwalt angeordnet wurde. Weil man diesen Gemeinderat verdächtigt hatte, auf die Wand eines Gasthauses gesprayt zu haben, in dem ein Nazitreffen stattfand. Gefunden wurde bei der Hausdurchsuchung nichts, der Verdacht stellte sich als falsch heraus. Seitdem wurde diese Person, die nichts mit unserem Fall oder dem Tierschutz zu tun hat, an der Spitze des Aktes geführt. Und dadurch fällt das Verfahren in diesen Bezirk, obwohl dieser spezielle Fall aus dem Akt entfernt wurde und sogar die damalige Justizministerin Berger von einem Versehen gesprochen hat.

intifada: Aber der nämliche Staatsanwalt war schon immer eine treibende Kraft hinter den Ermittlungen gegen euch?

Balluch: Ja, seit November 2006.

intifada: Und wie entstand die Sonderkommission, die euch bespitzelt und verfolgt hat?

Balluch: Die wurde im April 2007 gegründet, vom Innenministerium und den höheren Polizeirängen. Dazu kommen noch das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, das Landesamt für Verfassungsschutz und die Mordkommission. Der Sitz der Sonderkommission ist in Wien, nicht in Niederösterreich.

intifada: Also behörden- und länderübergreifend?

Balluch: Sehr erhellend sind die E-Mails, die zwischen den einzelnen Behörden vor Gründung der Sonderkommission hin- und hergegangen sind, und die man zum Teil auf der Webseite von Peter Pilz nachlesen kann. Da schreiben die Beteiligten sinngemäß davon, man muss was gegen den Verein gegen Tierfabriken (VGT) unternehmen, obwohl der VGT nichts Kriminelles gemacht hat. Aber wenn man eine Sonderkommission gründet, dann muss eben am Ende auch was herausschauen. Es gab einen Marschbefehl, uns etwas anzutun.

intifada: Hast du Einsicht in alle Ermittlungsergebnisse der Sonderkommission?

Balluch: Nein. Wir haben von Anfang an Anträge gestellt auf Einsicht in die polizeilichen Ermittlungsakten, die wesentlich mehr umfassen als die gerichtlichen. Wir haben sie aber nie vollständig bekommen. Ich weiß beispielsweise aus dem Gerichtsakt, dass mein Auto acht Wochen lang mit einem Peilsender versehen wurde. Doch ich habe bislang keinen Satz dazu lesen dürfen - übrigens auch nicht zu dem Lauschangriff auf unser Büro, der mittels eines versteckten Mikrofons durchgeführt wurde. Auch die sogenannten verdeckten Ermittler, die sehr wahrscheinlich noch immer im VGT aktiv sind, wurden nie aufgedeckt.

Vor meiner Festnahme hat mich die Sonderkommission fünf Monate lang andauernd observiert, auch hierzu weiß ich nur sehr wenig. Und die Telefonüberwachung dauerte ja eineinhalb Jahre. Aber offenbar werden entlastende Ergebnisse der Ermittlungen aus dem Gerichtsakt herausgehalten.

intifada: Wie sahen die weiteren Methoden der Polizei aus?

Balluch: Es gibt unzählige Beispiele, aber um vielleicht ein besonders drastisches zu nennen: Die Beamten haben Flaschen von unseren Infotischen gestohlen, um die DNA von Aktivisten zu bekommen.

intifada: Wie gelang es eigentlich, dich so lange in Untersuchungshaft zu halten? Schließlich müssen regelmäßig Haftprüfungen durchgeführt werden, noch dazu von verschiedenen Richtern.

Balluch: Das österreichische Justizsystem ist, was die Untersuchungshaft betrifft, absolut menschenrechtswidrig und mittelalterlich. Es gibt schlicht keine Kontrollen und das weiß auch jeder der Beteiligten, weil es die Strafverteidiger täglich sehen. Es steht in der Strafprozessordnung ganz genau, wie die Haftprüfung abzulaufen hat: Man kann als Angeklagter Fragen zu den Vorwürfen stellen und etwa Zeugen aufrufen, um die Anschuldigungen zu entkräften, und man darf ein Schlussplädoyer halten.

In der Realität werden einem diese Rechte verweigert. Das Gesetz ist nur ein Klopapier. Man kommt zur Verhandlung hinein und der Richter sagt: "Verlängert, Wiederschauen". Eine Sache von 30 Sekunden, unfassbar.

Das österreichische Justizsystem ist, was die Untersuchungshaft betrifft, absolut menschenrechtswidrig und erinnert an das Mittelalter.

intifada: Wenn man sich diese Maßnahmen vor Augen hält, drängt sich die Frage auf: Hat sich in letzter Zeit die Gangart von Polizei, Justiz und Politik drastisch verändert?

Balluch: Man hat immer die Tendenz zu sagen: Alles wird schlimmer. Aber in diesem Fall ist die Einschätzung richtig. Es gibt eine globale Entwicklung, den Anti-Terrorwahn, den Neoliberalismus, der um jeden Preis den freien Markt schützen muss und die Protestbewegungen dagegen immer brutaler unterdrückt.

Beim Tierschutz haben wir Fortschritte erzielt, die die Wirtschaft eindeutig gestört hat. Etwa ein Legebatterieverbot, womit eine ganze Industrie, mächtige Wirtschaftstreibende und etwa 100 Betriebe, sich umstellen mussten. Die Auseinandersetzung dazu ist sehr intensiv verlaufen, mit Volksbegehren, mit der Mobilisierung der Öffentlichkeit, Besetzungen, Gegenveranstaltungen im Wahlkampf.

intifada: Also einerseits haben eure erfolgreichen Kampagnen das Establishment herausgefordert. Ist das Verfahren gegen euch aber nicht auch ein Testballon für den Paragraphen 278a, der in Zukunft noch breiter angewendet werden könnte?

Balluch: Absolut. Der Paragraph existiert zwar schon länger, als Handhabe gegen "kriminelle Vereinigungen", aber die Änderungen, damit er auch auf politische Bewegungen angewandt werden kann, passierten erst nach dem 11. September 2001. Seit damals gibt es den Paragraphen in seiner jetzigen Formulierung.

Und er wurde bereits bei der "Operation Spring" und bei dem "Islamisten-Prozess", gemeinsam mit Paragraph 278b ("Terroristische Vereinigung", Anmk.) angewandt.

intifada: Für euer Verfahren ist die Reaktion der Öffentlichkeit sehr entscheidend. Der Aufschrei war aber, trotz der zahlreichen demokratiebedenklichen Maßnahmen, die passiert sind, recht leise. Die liberalen Medien scheinen wenig interessiert an eurem Fall.

Balluch: Ich habe vor kurzem das Schlussplädoyer von Friedrich Adler bei seinem Prozess wegen dem Attentat auf Ministerpräsidenten Stürgkh (1916, Anm.) gelesen. Er kritisiert Österreich als ein Land, das von einer irrsinnig starken bürgerlichen Obrigkeitshörigkeit geprägt ist.

Und tatsächlich, auch wenn man mit sympathisierenden Journalisten redet, sind sie der Meinung: "Da muss was dran sein, die werden das schon gemacht haben". Eine Art vorauseilender Gehorsam. Daher sind sie nicht einmal dazu bereit, die elementaren Grundrechte zu verteidigen. Erschütternd.

intifada: Wenn der Prozess überraschenderweise mit einem Freispruch für dich enden sollte, ist politische Arbeit für dich in Zukunft unter diesen Umständen überhaupt möglich?

Balluch: Eigentlich ist das nur bei einem Freispruch denkbar. Sollte ich schuldig gesprochen werden, dann stellt sich mir die Frage: Was soll ich denn anders machen?

Meine Aktivitäten, die in dem Gerichtsakt dokumentiert sind, waren in keiner Weise illegal, sondern ganz normale NGO-Arbeit. Die Vorwürfe gegen mich lauten unter anderem: Ich hätte in Legebatterien und Pelzfarmen gefilmt, Kampagnenstrategien entwickelt, Leserbriefe und Artikel verfasst, Tierrechtskongresse organisiert, ein Internetforum moderiert, Aktivisten geschult, oder etwa Aktionen des zivilen Ungehorsams durchgeführt. Das sind die Anschuldigungen gegen mich - was soll ich davon nicht mehr machen?


ZUR PERSON

Martin Balluch, Jahrgang 1964, studierte Astronomie, Mathematik und Physik in Wien und Heidelberg, wo er 1989 promovierte. 2005 machte er einen zweiten Doktortitel in Philosophie über "Tierethik" an der Universität Wien.

Sein Aktivistenleben begann 1978 mit der Beteiligung an Demonstrationen gegen das österreichische AKW Zwentendorf, dessen Bau verhindert werden konnte. Später schloss er sich mehreren Umwelt- und Tierschutzkampagnen an und ist seit 1989 zuerst in England und dann in Österreich am Aufbau von Tierschutzinitiativen führend beteiligt. In Wien steht Balluch dem "Verein gegen Tierfabriken" vor.

Buchtipp:
Balluch, Martin: Widerstand in der Demokratie. Ziviler Ungehorsam und konfrontative Kampagnen,
Wien (Promedia Verlag) 2009. (ISBN 978-3-85371-304-4, 160 Seiten, br., 9,90 Euro)

Hinweis der Redaktion:
Am 7. Januar 2010 lief die Begutachtungsfrist für einen Regierungsentwurf zur Verschärfung des Paragraphen 278 ab. Fern der Öffentlichkeit versuchte die Regierung über die Weihnachtsfeiertage wesentliche Einschränkungen der demokratischen Rechte festzuschreiben. So sollen in Zukunft alle Straftaten, die "das öffentliche Leben oder das Wirtschaftsleben schädigen und zum Ziel haben, eine Organisation zu einer Verhaltensänderung zu bewegen", als "terroristische Straftaten" eingestuft werden. Der Verein gegen Tierfabriken weist in seiner Stellungnahme darauf hin, dass dadurch das Tragen von radikalen T-Shirts oder Trainingscamps für Tierschutzaktivisten strafbar würden.(1) Potenziell erleichtert es diese Gesetzesverschärfung, jedwede unliebsame politische oder soziale Aktivität zu kriminalisieren.

1) VGT-Stellungnahme zum Begutachtungsentwurf Paragraph 278: www.vgt.at.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Balluch wurde zur Zielscheibe einer politischen Kampagne des Staatsanwaltes.

Der VGT vor dem Büro des niederösterreichischen Landeshauptmanns Erwin Pröll.

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EUROPA

Ein Zeichen des Hasses

Gedanken zum Schweizer Minarett-Verbot

Von Charlotte Malterre

Die Schweiz entschied sich im Dezember für eine schockierende Verfassungserweiterung, indem sie zu 57,4 Prozent dafür stimmte, Minarette aus ihrer Landschaft zu verbannen.


Es wird angenommen, dass das System der direkten Demokratie das offen zu Tage treten lässt, was andere "politisch korrektere" Länder nicht eingestehen und deren Demokratiesysteme nicht erlauben würden. Sie sprechen laut aus, was alle denken. Österreichische Universitätsprofessoren riefen ihre Schweizer Freunde an, um ihnen zu gratulieren. Deutsche neonazistische Parteien applaudierten.

Die rechtsextreme SVP hatte eine Kampagne der harten Linie gefahren. Ihre Plakate zeigten eine Frau in schwarzer Burqa und Minarette, welche die Schweizer Fahne aufspießen. Nun ist es ja eigentlich nicht so, dass die Schweiz irgendjemandem Lektionen in Frauenrechten erteilen könnte: Erst eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zwang den letzten Kanton Appenzell 1991 dazu, den Frauen das Wahlrecht einzuräumen.

Ein Klima des Hasses gegen eine andere Religion zu entwickeln, ist nichts Unbekanntes in Europa und die Geschichte sollte zur Warnung gereichen. Diskriminierende Gesetze sind nur der Beginn, andere dramatische Maßnahmen folgen und haben in diesem Fall die Unterstützung der Massen, die auf eine Eindämmung des radikalen Islam hoffen. Medien und populistische Politiker schüren gemeinsam Islamophobie, was zum gegenteiligen Effekt des Erwünschten führen kann. Während die 400.000 Moslems des Landes schüchtern ihre Besorgnis bekundeten, waren die Stimmen, die sich gegen Abstimmungsergebnis und Gesetz erhoben, rar.

Das rassistische Abstimmungsergebnis sollte alle antifaschistischen und antirassistischen Kräfte der Welt aufrütteln. Der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, der so schnell bereit ist, "böse" Staaten wie Ex-Jugoslawien oder afrikanische Länder zu verurteilen, sollte sich um seinen eigenen Hinterhof kümmern und Sanktionen über die Schweiz verhängen, etwa zu einem Embargo aufzurufen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

In Europa etabliert sich eine rassistische Stimmung gegen Symbole des Islam.

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THEORIE

Wider die Pädagogisierung des Politischen

Reflexionen zu Gramscis Bildungsbegriff

Von Margarethe Berger

Wie der Kommunist Gramsci heute zur Leitfigur einer Bewegungslinken geworden ist, die seinen revolutionären Kampf durch Lernprozesse ersetzt wissen will.


In den 1970er Jahren wurde der italienische Kommunist, Theoretiker und Philosoph der 1930er Jahre, Antonio Gramsci, von der europäischen Linken wiederentdeckt und in antideterministischer Interpretation gegen den starren Sowjetmarxismus rezipiert. Seit den 1990er Jahren ist sein Begriff der "Zivilgesellschaft" jedoch zum Leitgedanken einer Linken geworden, die Gramscis Denken seiner antagonistischen Schärfe beraubt und es letztendlich, wie seine Metapher vom "Stellungskrieg", zur Legitimation systemimmanent verbleibender Veränderungsstrategien missbraucht.

Gramscis Auseinandersetzung mit Bildung spielt in dieser Entschärfung eine wesentliche Rolle. Studentische und globalisierungskritische Bewegungen sowie insgesamt die zeitgenössische Gramsci-Rezeption räumen ihr viel Raum ein. Dies nicht nur in der Ablehnung ökonomisierter Bildungssysteme, sondern auch und vor allem in Hinblick auf die Gestaltung und Lenkung von individuellen wie kollektiven Lernprozessen, die in der Strategie dieser Bewegungen Zentralität erlangt haben.

Was hier geschieht, ist eine Entpolitisierung, Gramscis Verständnis tatsächlich umkehrt: Er denkt Bildung in Verbindung mit dem Politischen.

Was hier geschieht, ist die Pädagogisierung von Gramscis Denken, eine Entpolitisierung seines Bildungsbegriffs, der Gramscis Verständnis tatsächlich umkehrt: Gramsci denkt Bildung ausschließlich in Verbindung mit dem Politischen, letztendlich als Werkzeug für den politischen Kampf und den Aufbau einer neuen Gesellschaftsform. Bildung kann diesen Kampf unterstützen, niemals jedoch ersetzen. Das Politische ist bei Gramsci auf einen Bruch mit der kapitalistischen Gesellschaft und deren Überwindung ausgerichtet. Dies bleibt auch vor dem Hintergrund von Gramscis eigentlicher intellektueller Leistung gültig, nämlich die komplexen Funktionsmechanismen der westlichen kapitalistischen Gesellschaft untersucht zu haben, die dieser Stabilität verleihen und ihre revolutionäre Überwindung nicht unmittelbar auf die Tagesordnung setzen. Dennoch bleibt sie für ihn das Ziel. Gramscis Stellungskrieg bleibt ein Krieg, dessen Ziel der Sieg über die herrschende Gesellschaftsordnung ist.

Von dem ist in der heute dominanten Form der Gramsci-Rezeption nicht mehr viel zu spüren. Unter dem Einfluss postmoderner Theorien, die den zentrumslosen Charakter von Macht postulieren und somit Handlungsfähigkeit und Zielgerichtetheit von Kämpfen in der Beliebigkeit diskursiver Sphären auflösen, und vor dem Hintergrund des Scheiterns des realsozialistischen Experiments, schien es leicht, Gramscis Denken aus dem politischen Kontext des Kampfes für eine kommunistische Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft herauszulösen. In Lateinamerika endete ein Teil der Gramsci-Rezeption in Positionen, die postmoderne Machtkonzeptionen aufnahmen und Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft zu einem - bewusst beliebigen und amorphen - politischen Subjekt uminterpretieren. Vor dem Hintergrund der starken Tradition lateinamerikanischer Befreiungspädagogik spielen hier Bildungsüberlegungen oft eine strategische Rolle. Gramsci dient für manche Strömungen als Werkzeug, um die Wandlung "from revolution to democratic transition"(1) zu argumentieren.

In Lateinamerika hat seit der Machtübernahme von Chávez und aufgrund der Unausweichlichkeit und Schärfe sozialer Konflikte, die offensichtlich nicht nur durch Bildung gelöst werden können, die Diskussion um Macht und Veränderung zumindest teilweise wieder eine andere Richtung genommen. In den USA und Europa entwickelten sich die Neogramscianer zwar als durchaus heterogene Theorie-Strömung, doch in den dominanten Interpretationen fehlt, zumindest in Deutschland, Gramscis antagonistischer Ansatz weitgehend, wobei Bildung ebenfalls eine zentrale Stellung einnimmt. Nachzulesen ist auf der Website der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung, dass Gramscis "Konzept einer regierungsfähigen Zivilgesellschaft [...] die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Demokratie [postuliert]. Diese wiederum setzt einen Kampf um "Bildung und Kultur für alle" voraus."(2)


Gramscis Politisierung des Bildungsbegriffs

Tatsächlich hat Gramsci nie systematisch über Bildung geschrieben, sondern seine Reflexionen und Ausführungen zu diesem Thema bruchstückhaft über sein gesamtes Werk verstreut. Das alleine deutet darauf hin, dass er Lernprozessen, zumal isoliert von einer politischen Konzeption der gesellschaftlichen Verhältnisse und der sie verändernden Praxis, wohl kaum jemals die strategische Bedeutung beigemessen hat, wie dies heute in der dominanten Gramsci-Rezeption geschieht.

Zwei unterschiedliche Reflexionsstränge lassen sich im Zusammenhang mit Gramscis Bildungsbegriff unterscheiden, die hier von Bedeutung sind: zum einen seine Auseinandersetzung mit der Entwicklung von (hegemonialem oder antagonistischem) Bewusstsein im Rahmen des Hegemoniekonzeptes - hierzu zählen auch seine Überlegungen zum Menschen als historischem Block -, zum anderen Gramscis Idee der Einheitsschule.


Bildung und Hegemonie

Bekanntermaßen verstand Gramsci unter Hegemonie die Fähigkeit der herrschenden Klasse, vor allem stabilen kapitalistischen Gesellschaften, ihre Herrschaft nicht nur über Zwang, sondern auch mit Hilfe eines Konsenses zu sichern. Wie nun dieser hergestellt wird, mit welchen komplexen und kapillaren Mechanismen ein permanenter Prozess der Überzeugung innerhalb der subalternen im Interesse der herrschenden Klasse stattfindet, das hat zweifellos viel mit Bildung zu tun. Zunächst ist das Schulsystem ein zentrales Instrument zur Vermittlung der herrschenden Ideologie und zur Herstellung von gesellschaftlichem Konformismus - in Gramscis Sinn ist damit Gesellschaftsfähigkeit gemeint, also die Homogenisierung von Fähigkeiten, Kenntnissen, Wertesystemen, Verhaltensweisen etc. gemäß dem Bedarf der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Zur Hegemoniesicherung zählt auch die Reproduktion der sozialen Stratifizierung - eine zentrale Funktion des Bildungssystems. Diese erfolgt zunächst über die bildungsmäßige Differenzierung und spätere beruflich-soziale Zuordnung. Darüber hinaus bewirkt das Bildungssystem eine Verinnerlichung der herrschenden diskriminierenden Bildungsvorstellungen, die als "natürlich" wahrgenommen werden. So, wie das Schulsystem ungebildete subalterne Klassen reproduziert, reproduziert sie die Selbstwahrnehmung dieser Klassen als ungebildet.

Neben der schulischen Bildung wird Konsens über eine Vielzahl von kulturellen Vermittlungsprozessen - in der Bildungswissenschaft mit informeller Bildung bezeichnet - hergestellt.

Diese Vermittlung von Konsens ist es, im Gegensatz zum offenen Zwang, was Gramscis Hegemoniekonzept aus bildungswissenschaftlicher Sicht interessant macht und wo die pädagogisierende Interpretation ansetzt. Denn die Herstellung von Hegemonie setzt, so Gramsci, die Fähigkeit, Führung auszuüben, voraus, was als pädagogisches Verhältnis verstanden wird. Gramsci selbst schreibt dazu: "Jedes Verhältnis von Hegemonie ist notwendigerweise ein pädagogisches Verhältnis"(3).

An diesem Zitat aus den Gefängnisheften setzt in vielen Fällen die pädagogisierende Interpretation von Gramscis Bildungsbegriff an. Merkens leitet daraus etwa die Zentralität der Überwindung von im Alltag omnipräsenten Lehrer-Schüler- bzw. Herrschende-Beherrschte-Verhältnissen ab, um sie durch ein dialogisches Verhältnis zu ersetzen.(4) Im Allgemeinen wird diese Aussage Gramscis in der dominanten Interpretation auf ein pädagogisches Binnenverhältnis reduziert, d. h. die Schaffung einer Gegenhegemonie sei in erster Linie eine pädagogische Aufgabe, die durch eine Veränderung der Organisation von kollektiven Lernprozessen von manipulativ-repressiven zu dialogisch-emanzipatorischen umgesetzt werden müsse.

Stellt man Gramscis Denken in seiner Gesamtheit in Rechnung, so ist es nicht schwer, im Postulat des pädagogischen Charakters von Hegemonieverhältnissen nichts anderes als die Notwendigkeit für die subalternen Klassen zu erkennen, als Klasse Führungsfähigkeit zu erlangen, was bedeutet, die Fähigkeit zu entwickeln, permanente Überzeugungsprozesse für die eigenen politischen Konzeptionen in Gang zu setzen.

Die Veränderung individueller und kollektiver Lernprozesse mag dazu hilfreich sein, sie ist in Gramscis Bildungsdenken sicherlich enthalten, doch sie zum Kernelement zu erklären, das verfälscht Gramscis ungleich politischeres Verständnis von Bildung. Gramsci versteht die Entwicklung von Führungsfähigkeit unzweifelhaft als Fähigkeit zur politischen Auseinandersetzung mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen.


Mündigkeit durch Praxis

Gramscis Überlegungen, dass auch der Mensch als solcher einen historischen Block darstelle, sind in den Gefängnisheften nicht stark ausdifferenziert, lassen jedoch einige interessante Schlüsse zu. Sie stehen eng in Zusammenhang mit Gramscis, von Marx entlehnter, sozialanthropologischer Konzeption, nachdem "... das 'menschliche Wesen' das 'Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse' sei..."(5). Dadurch rückt die historische Determiniertheit des Menschen durch seine Umwelt ins Zentrum: "... Man kann auch sagen, dass das Wesen des Menschen die 'Geschichte' ist..."(6) Andererseits wird die "... Idee des Werdens [eingeschlossen]: der Mensch wird, er verändert sich fortwährend mit dem Sich-Verändern der gesellschaftlichen Verhältnisse..."(7) Damit setzt Gramsci den Menschen in ein dialektisches und tätiges Verhältnis zu seiner Umwelt, das für sein Wesen konstitutiv wird.

In Auseinandersetzung mit den deutschen idealistischen Bildungsvorstellungen entwickelt Gramsci ein Konzept von Mündigkeit, das diese nicht wie bei Humboldt an die geistige Welterkenntnis, sondern vielmehr an die politische Praxis des Menschen knüpft. Die Selbstpotenzierung des Menschen ist an seine verändernde Praxis gebunden: "Die Außenwelt, die allgemeinen Verhältnisse zu verändern, heißt sich selbst zu potenzieren, sich selbst zu entwickeln."(8)

In Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus entwickelt Gramsci ein Konzept von Mündigkeit, das an die politische Praxis des Menschen anknüpft.

In Umkehrung dieser Überlegung setzt die gängige pädagogisierende Gramsci-Interpretation die Selbstpotenzierung durch Bildung, die Veränderung und Entwicklung des eigenen Ich als Voraussetzung für gesellschaftliche Veränderung, weil verändernde Praxis die Selbst- und Welterkenntnis - als Lernprozess verstanden - bedingen würde. Die Umkehrung der Wertigkeit, so geringfügig sie auf den ersten Blick erscheinen mag, nimmt Gramscis Idee jedoch die gesamte antagonistische Kraft, die im Primat des gegenüber seiner Umwelt bewusst tätigen Menschen enthalten ist.

Gramsci selbst wird an dieser Stelle noch deutlicher: "... dass der Mensch wesentlich (d. h. von seinem Wesen her, M.B.) 'politisch' ist, denn die Tätigkeit zur bewussten Umformung und Leitung der anderen Menschen verwirklicht seine 'Menschlichkeit', sein 'menschliches Wesen'."(9)


Einheitsschule

Gramscis eigentliche Überlegungen zur Bildung widmete er vor allem der Auseinandersetzung mit der Idee der Einheitsschule, die er aus der Analyse des italienischen Bildungssystems Anfang des 20. Jahrhunderts, der Bildungsreformen zu Beginn der faschistischen Herrschaft in Italien sowie der damals verbreiteten reformpädagogischen Konzeptionen entwickelte.

Was die Reformpädagogik betrifft, so erkennt er zwar deren Protesthaltung gegenüber dem katholisch dominierten Schulsystem als fortschrittlich an, lehnt sie aber, abgesehen von einigen didaktischen Aspekten, insgesamt aufgrund ihrer auf Rousseau zurückgehend Mystifizierung kindlicher Spontanität ab. Er setzt dieser sein bereits beschriebenes Konzept der historisch-sozialen Verfasstheit des menschlichen Wesens entgegen, aus der folgt, dass jedweder Lernprozess des Kindes ein gesellschaftlicher Prozess ist. Auf bewusste Erziehung zu verzichten, würde daher bedeuten, das Kind schutzlos der gesellschaftlichen Beeinflussung auszuliefern und daher dessen Fremdbestimmung zu begünstigen, anstatt sie zu verhindern.

Gramscis Konzept der Einheitsschule beruht im Gegensatz zur Reformpädagogik nicht auf der Ablehnung, durch Schule gesellschaftlichen Konformismus (d. h. Gesellschaftsfähigkeit) herstellen zu wollen. Im Gegenteil, Gramsci hält diesen Prozess der Homogenisierung intellektueller Kenntnisse und sozialer Fähigkeiten für zentral. Das Kernelement seiner Einheitsschule ist vielmehr, diesen Prozess der Homogenisierung, der in der Schule der Klassengesellschaft nach sozialen Kriterien differenziert und in seiner umfassendsten Form einer Elite vorbehalten bleibt, auf die Allgemeinheit auszuweiten.

Die Aufhebung der sozialen Stratifizierung durch die kapitalistische Schule ist die Hauptstoßrichtung von Gramscis Einheitsschulkonzept, nicht, wie es in einer pädagogisierenden Interpretation im Vordergrund steht, die "... Heranwachsenden als aktive Subjekte in das gesellschaftliche Leben freizusetzen..."(10)

Zweifellos geht es Gramsci um Subjektwerdung, aber um jene der subalternen Klassen - für die im Übrigen (Schul)Bildung nur ein Faktor und nicht das zentrale Instrument ist. Es geht ihm nicht um die Subjektwerdung von außerhalb von Klassenstrukturen gedachten heranwachsenden Individuen. Dies lässt sich auch an den ausführlichen Überlegungen Gramscis dazu ablesen, dass die Einheitsschule die kapitalistische Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit aufzuheben hat. Ihr Ziel ist die Entwicklung der manuellen und der intellektuellen Fähigkeiten, des Denkens und Handelns in ausgewogenem und v. a. miteinander verwobenen Verhältnis. Sie dient damit auch als Modell einer neuen Gesellschaftsformation.


Von der Revolution zum friedlichen Übergang

Es kann der in der heutigen universitären Linken dominanten Gramsci-Rezeption nicht vorgeworfen werden, Gramsci Dinge unterzuschieben, die dieser nicht geschrieben hätte. Im Gegenteil: Man muss die Leistung, Gramscis verstreute Bildungsreflexionen zusammengetragen und systematisiert zu haben, durchaus als solche anerkennen. Allein, die offensichtliche Weigerung der "Bildungsinterpreten", Gramscis Werk insgesamt als Beitrag zu einer revolutionären Strategie zu sehen, geschrieben für eine Zeit, in der die Revolution nicht unmittelbar vor der Tür stand, sondern zu einer längerfristigen Aufgabe wurde, führte dazu, seine Überlegungen zu dekontextualisieren und zu entpolitisieren.

So werden dann bei Gramsci angeblich "... Fragen der Erziehung und Bildung [...] zu zentralen Feldern der Aufkündigung und Überwindung der bestehenden [...] Ordnung..." und die "...Umkehrung der politisch-pädagogischen Binnenstruktur [erlangt] eine herausragende Bedeutung..."(11)

Damit tappt die dominante Gramsci-Rezeption - so paradox es ist - in jene Pädagogisierungs-Falle, die sie selbst dem neoliberalen Kapitalismus anlastet.

Von Gramscis antagonistischem Denken, das in der hoffnungslos erscheinenden Realität des faschistischen Kapitalismus dennoch danach getrachtet hat, in den kapillaren Absicherungsmechanismen der herrschenden Gesellschaftsform Möglichkeiten des Bruchs zu finden, bleibt nicht viel mehr übrig als die Forderung nach "... permanenter Erziehungs- und Bildungsarbeit im Rahmen gesellschaftsverändernder Praxis...".(12)

Damit tappt die heute dominante Gramsci-Rezeption in die Pädagogisierungs-Falle, die sie, was paradox erscheinen mag, selbst dem neoliberalen Kapitalismus anlastet. Denn die "totally pedagogised society"(13) neutralisiert nicht nur gesellschaftliche Widersprüche, sondern gibt auch vor, dass diese durch Bildung gelöst werden könnten. Das gilt für das EU-Konzept des "lebenslangen Lernens" in gleichem Maße wie für politische Theorien, die Bildungsprozesse als Lösungsstrategien propagieren.


Literatur

1) Morrow, Raymond Allen; Torres, C. A.: Gramsci and Popular Education in Latin America. From revolution to democratic transition, in: International Journal of Educational Development 21, 2001, 331-343.

2) www.rosalux.de/cms/index.php?id=15852

3) Gramsci, Antonio: Erziehung und Bildung. Gramsci-Reader, Hamburg 2004, S. 80.

4) Merkens, Andreas: Hegemonie und Gegen-Hegemonie als pädagogisches Verhältnis. Antonio Gramscis politische Pädagogik, Hamburg 2006. (= Hamburger Skripte. 15)

5) Gramsci, Antonio: a.a.O., S. 113
6) Gramsci, Antonio: a.a.O., S. 113.
7) Gramsci, Antonio: a.a.O., S. 113.
8) Gramsci, Antonio: a.a.O., S. 96.
9) Gramsci, Antonio: a.a.O., S. 96.

10) Bernhard, Armin: Antonio Gramscis Verständnis von Bildung und Erziehung, in: UTOPIE kreativ, Nr. 183, 2006, S. 10-22.

11) Merkens, Andreas: Hegemonie, Macht und pädagogisches Verhältnis. Ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf Gramsci statt Foucault bei der Beurteilung neoliberaler Entwicklungen der pädagogisch vermittelten Selbststeuerungen, in: Phase2. Zeitschrift gegen die Realität, Nr. 17, 2005.

12) Bernhard, Armin: a.a.O., S.19

13) Bernstein, Basil, zitiert in Merkens (2005, a.a.o).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildung und Subjektwerdung sind wesentliche Problemfelder in Gramscis Theorie.

Revolutionäre Praxis und Pädagogik greifen bei Gramsci ineinander.

Raute

AKTIVISMUS

Sumud: Standhaftigkeit 2010

Widerstand zum Mitmachen im Libanon und in Indien

Von Wilhelm Langthaler

Freiwillige können mit Sumud eine Zeit lang das Leben mit Menschen teilen, die in anderen Weltregionen Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung leisten.


Sumud ist einzigartig, weil wir uns bewusst von den NGOs abgrenzen, die bei den Menschen im Widerstand berechtigterweise verhasst sind. Denn diese gehören meistens zur "soft power" der globalen kapitalistischen Herrschaft. Während sie materielle Hilfe bringen, vermitteln sie die "westlichen Werte" (egal ob christlich oder säkular) und halten vom Widerstand gegen die Unterdrückung ab.

Sumud stellt sich gegen die koloniale Tradition der "zivilisatorischen Mission". Wir glauben im Gegenteil, dass es der globale Widerstand ist, der die Zivilisation vor der Zerstörung durch Kapitalismus und imperialen Krieg bewahren kann. Wir wollen Botschafter dieses Widerstands in Europa sein, eine Brücke gegen den "Krieg der Kulturen" errichten. Unser Ziel ist eine internationale und interkulturelle Koalition der Befreiung vom "American way of live".(1)

Wie es Evo Morales, der von der Volksbewegung getragene Präsident Boliviens, beim Klimagipfel in Kopenhagen ausdrückte: "Die eine Lebensart ist jene des Konsumismus, der Verschwendung, des Egoismus und des Individualismus - eben des Kapitalismus. Die andere ist das gute, glückliche Leben, wo jeder das Notwendige hat und in Solidarität mit den anderen und in Einklang mit der Mutter Erde lebt."


Palästinenserlager Ein el-Hilwe im Libanon

Sumuds erste Mission fand im Sommer 2009 im größten palästinensischen Flüchtlingslager des Libanon, Ein el-Hilwe, bei Saida statt. Dort vegetieren an die 100.000 Menschen entrechtet, erwerbslos und auf ein winziges Territorium zusammengepfercht unter miserablen Bedingungen dahin.

Gemeinsam mit unseren Freund/innen von Nashet, einer linken libanesisch-palästinensischen Freiwilligengruppe, restaurierten wir ein Jugendzentrum direkt im Flüchtlingslager.(2) Die Mittel dafür wurden im Vorfeld durch eine Spendenkampagne vor allem in Italien aufgetrieben, auch wenn sie nur knapp ausreichten. Nun gilt es den zweiten Schritt zu tun: das Zentrum einzurichten. Und gleich darauf auch den dritten: das Zentrum in Zusammenarbeit mit Nashet und der lokalen Jugend in Betrieb zu nehmen.

Eine italienische Theatergruppe plant einen Kurs für Jugendliche, in dem sie Leid und Widerstand in künstlerischer Form ausdrücken und der Öffentlichkeit präsentieren können. Weiters überlegen wir Kurse und Veranstaltungen von der Vermittlung von beruflichen Fertigkeiten bis hin zum politischen Austausch. Freiwillige sind mit ihren Ideen willkommen.

Entwickelt sich Sumud, so gibt es im Libanon weitere Betätigungsfelder wie beispielsweise im völlig zerstörten Flüchtlingslager Nahr el-Bared oder mit dem Widerstand im Südlibanon.


Indiens Krieg

Seit jeher waren die Ureinwohner Indiens, die Adivasis, unterdrückt, denn sie wurden automatisch der Kaste der Unberührbaren gleichgesetzt. Doch die neoliberale Globalisierung der letzten Jahrzehnte hat ihre Situation schier unerträglich gemacht. Die Regierung verkauft ihren Lebensraum an indische und internationale Großkonzerne, die die reichen Rohstoffvorkommen ausbeuten. Abholzung, Staudammprojekte, Sonderwirtschaftszonen, Umweltzerstörung... Die Adivasis werden massenhaft von ihrem Land vertrieben und ohne Lebensunterhalt dem Hunger preisgegeben.

Dagegen regt sich seit einigen Jahren wachsender Widerstand, der oft von Maoisten organisiert wird. Die Rebellion der Ureinwohner wird von den Großgrundbesitzern, den Hindu-Nationalisten (die die Adivasis auch aufgrund ihrer eigenen uralten Religionen als Sklaven betrachten), Militär und Polizei mit Unterstützung der Konzerne und des Westens mit brutaler Gewalt bekämpft.(3) Die indische und amerikanische Regierung sprechen im Gleichklang von "Terrorbekämpfung". In der "größten Demokratie der Welt" wurden Gesetze erlassen, die dafür sorgen, dass man für die politische Unterstützung der Rebellion für Jahre hinter Gitter wandert. Und unsere "freien Medien" schweigen.

Doch der Kampf der Adivasis kennt auch Erfolge. In einigen extrem armen Regionen gibt es praktisch befreite Gebiete, die Dank der Maoisten von den Adivasis selbst regiert werden. Gestützt auf die eigenen kollektiven Wurzeln werden die Bewässerung organisiert, ökologisch verträgliche neue Agrartechnik und Pflanzen eingeführt, Kleingewerbe entwickelt, Ausbildungs- und Justizwesen gebildet - und mittels Milizen die neue Freiheit gegen Großgrundbesitzer, ihre Banden und den Staat verteidigt. Gleichzeitig fordern sie die Anerkennung ihrer Sprache und teilweise auch eigene, neue Bundesstaaten im Rahmen der indischen Föderation.

Diese Bewegung der Gegenmacht von unten wollen wir miterleben, unterstützen und gegen die Verleumdungen der globalen Eliten verteidigen. Irgendwo am Rande der militärischen Sperrgebiete wollen wir uns nach Vorbild der zapatistischen Bewegung der 1990er Jahre mit unseren beruflichen Fähigkeiten und unserer menschlichen Solidarität an einer Widerstandsgemeinschaft beteiligen und damit auch als Schutz gegen die Übergriffe dienen.

Wir sagen: Wehret den Anfängen! Der Genozid an den Indianern, der den "American way of live" begründete, darf sich nicht wiederholen.

Wir brauchen und suchen:

- Freiwillige mit einem Herz für die Rebellion gegen das ungerechte Weltsystem mit all ihrer Tatkraft und ihrem Initiativgeist;
- Spenden, Spenden, Spenden ...


Quellen:

1) Manifest von Sumud: "Wir haben ihnen nichts beizubringen", auf www.sumud.org.

2) Bericht vom Arbeitseinsatz auf www.sumud.org

3) Aufruf zu einer Demo gegen den Krieg in Neu Delhi am 17.12.09, auf www.antiimperialista.org

Mehr Informationen: www.sumud.org


INFO

Gaza in unseren Herzen und Köpfen

Als eines der nächsten Projekte plant Sumud einen Einsatz im Gazastreifen. In Gaza geht unter unseren Augen ein schleichender Völkermord vor sich - und die Welt schweigt.

Die israelische Armee hat im Januar 2006, nachdem Hamas die Parlamentswahlen gewonnen hatte, eine vollständige Blockade über den Gazastreifen verhängt. Seit dem ist die Bevölkerung von der Außenwelt fast vollständig abgeriegelt. Die Armut ist sprunghaft angestiegen: 80 Prozent der Menschen sind von Hilfe abhängig. Nahrungsmittel und Energie sind knapp: 90 Prozent der Bevölkerung leiden unter Stromausfällen von vier bis acht Stunden pro Tag. Fast 500 Menschen sind seit Beginn der Blockade infolge von Mangel an Medikamenten oder der Ausreiseverweigerung durch die israelische Armee gestorben.

Der Angriff der israelischen Armee im Dezember 2008 hat 1417 Palästinenserinnen und Palästinensern das Leben gekostet, zum Großteil Zivilisten. 5303 Menschen wurden verletzt, mehr als 50.000 obdachlos. Seitdem hat sich die humanitäre Situation weiter verschlechtert. Bereits im Mai 2008 lebten 70 Prozent der Familien von weniger als einem US-Dollar pro Tag. Durch den Angriff wurden die Infrastruktur, Wasser. und Stromversorgung, Schulen und Krankenhäuser sowie Wohnhäuser zerstört, die Landwirtschaft und industriellen Einrichtungen beschädigt. Die Sterblichkeitsrate aufgrund von Durchfallerkrankungen, ausgelöst durch die verschlechterte Wasserqualität, liegt bei Kindern und Jugendlichen bei 12 Prozent. Schulischer Misserfolg ist enorm angestiegen und in den meisten Fällen durch Mangelernährung und Anämie bedingt.

Mit dem Argument, Staat der Holocaust-Überlebenden zu sein, darf Israel den westlichen Kolonialismus fortsetzen und sich dabei auch noch als Opfer des palästinensischen Terrorismus darstellen. So können 1,5 Millionen Menschen ausgehungert werden, nachdem man ihnen zuvor ihr Land gestohlen und sie in einem Freiluftgefängnis zusammengepfercht hat. Gaza ist ein Symbol für das ganze imperial-kapitalistische Weltsystem.

So wie alle, die Menschenrechte nicht nur dort fordern, wo es den westlichen Herrschaftsinteressen in den Kram passt, behalten wir von Sumud Gaza in unseren Herzen und Köpfen. Sobald es uns möglich ist, werden wir daher für Gaza ein Hilfsprojekt konzipieren.

Raute

KULTUR

Krammer, Hubert: Jenseits der Mythen: Imperialismus - Zionismus - Faschismus. Eine Quellenrecherche,
Hamburg: Theorie und Praxis Verlag, 2009. (360 S., br., 19,00 Euro, ISBN 978-3939710028)

Besprochen von Stefan Hirsch

Hubert Krammer liefert nach praktisch zehnjähriger Recherche eine umfangreiche Darstellung zionistischer Mythen. Das beginnt mit dem Zionismus als Ideologie jüdischer Emanzipation und des Humanismus: Krammer zeigt den Kern des Zionismus als im irrationalistischen und rechten Nationalismus des Endes des 19. Jahrhunderts verwachsen. Inklusive dem Bild der Nation als quasi-biologischem Wesen, einem Standard-Topos des rechten Nationalismus. Und der Verachtung der europäischen Juden als gierig und arbeitsscheu, die erst in Palästina ihre Minderwertigkeit abschütteln könnten.

Krammer setzt fort mit dem Mythos des Zionismus als Kraft der Zivilisation im Nahen Osten, der ein leeres Land besiedelt hätte, und zeigt die Verbindung der zionistischen Besiedlung mit dem Großmachtsstreben vor allem Deutschlands und Großbritanniens. In einem Hauptteil des Buches wird der Mythos von Israel als Zufluchtsstätte während des Holocaust angegriffen und die tatsächliche Selektion der Einwanderer durch die Jewish Agency offengelegt, inklusive der Episoden der Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland. Der letzte Mythos ist jener von Israel als "einziger Demokratie im Nahen Osten". Hier wird die Realität nicht nur der israelischen Verbrechen während Jahrzehnten von Krieg und Besatzung, sondern auch die systematische Zusammenarbeit mit lateinamerikanischen Militärdiktaturen herausgestellt.

Aufgrund Krammers gewissenhafter Recherchen ergibt sich dann auch ein stattlicher Umfang von 350 Seiten. Es scheint, als hätte Hubert Krammer in einem Gewaltakt versucht, die prozionistische Linke Kraft der gesammelten besseren Argumente zu zerschlagen. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass ihm diese Leute Aufmerksamkeit schenken werden.

Krammer ist dabei wenig vorzuwerfen. Einige Episoden des arabischen Nationalismus lassen schmunzeln, etwa die Behauptung, der Zweite Weltkrieg wäre von arabischen Freiwilligen bei El Alamein entschieden und eigentlich um die Beherrschung Afrikas geführt worden. Diese tun der Kraft der restlichen Analyse aber keinen Abbruch. Was man tatsächlich fragen muss, wäre, ob hier nicht zu viel gewollt wird. Alle zionistischen Mythen in einem Buch? Vielleicht wäre ein einziger dieser Mythen das sinnvollere Ziel gewesen, dafür etwas vertieft und mit einem theoretischen Apparat, der die Arbeit ein wenig strukturiert hätte. Notwendigerweise wird die Auswahl des zu Behandelnden bei 150 Jahren Geschichte ein bisschen willkürlich.

Raute

Autoren der Intifada Nr. 30

Mohammad Aburous - geboren 1976 in Palästina. Lebt derzeit in Österreich. Studierte technische Chemie an der TU-Wien und dissertierte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Aktivist des Arabischen Palästina-Clubs (APC) und des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums (OKAZ) in Wien.

Sebastian Baryli - geboren 1979 in Wien, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination (AIK).

Margarethe Berger - geboren 1968 in Wien, studierte Slawistik an der Universität Wien, wiederholte Reisen in den arabischen Raum und Südamerika.

Jonas Feller - geboren 1990 in Berlin, verbringt derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr an der Ostsee.

Stefan Hirsch - geboren 1976 in Wien, studierte Geschichte und Geografie an der Universität Wien, arbeitet im Bildungsbereich.

Stefan Kainz - geboren 1975, lebt als freier Publizist in Wien.

Bjarne Köhler - geboren 1982, Student in Graz.

Wilhelm Langthaler - geboren 1969, arbeitet als technischer Angestellter in Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination. Zahlreiche Reisen zu den Zentren des Widerstands, insbesondere am Balkan, in den Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent, Koautor des Buches Ami go home, erschienen im Verlag Pro-Media.

Reinhard Loidl - geboren 1969, Studium der Publizistik, Lektor an der Universität Wien.

Charlotte Malterre - geboren 1977 in Frankreich, studierte in Marseille und Wien Architektur, arbeitet in Zürich als Architektin und Künstlerin. Aktivistin der Antiimperialistischen Koordination (AIK).

Raute

Die Zeitschrift Intifada ist ein Forum für Information und Diskussion und will damit einen Beitrag zur Zusammenarbeit der mit der palästinensischen Bewegung solidarischen Kräfte im deutschsprachigen Raum leisten.


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Impressum

AIK
www.antiimperialista.org

Medieninhaber, Herausgeber und Verleger:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien, Österreich;
Verlags- und Herstellungsort: Wien; Druck: Printfactory, Wien
Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz der Republik Österreich:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien
Grundlegende Richtung: Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

Redaktion
Mohammad Aburous, Sebastian Baryli, Margarete Berger, Gernot Bodner,
Stefan Hirsch, Bjarne Köhler, Wilhelm Langthaler

Kontakt
www.intifada.at

Antiimperialistische Koordination
Postfach 23, 1040 Wien, Österreich

Konto lautert auf Verein Vorstadtzentrum
Bank: BAWAG (BLZ 14000)
Konto-Nr.: 02510080702
BIC: BAWAATWW
IBAN: AT 38 14000 02510080702

Beiträge
Die nächste Ausgabe der Intifada erscheint im Sommer 2010. Wir freuen uns über die zeitgerechte Zusendung von Texten.

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Quelle:
Intifada Nummer 30 - Frühjahr 2010
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand
Internet: www.antiimperalista.org/intifada.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2010