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INTIFADA/009: Zeitschrift für antiimperialistischen Widerstand Nr. 33 - Frühjahr/Sommer 2011


Intifada Nummer 33 - Frühjahr/Sommer 2011
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand



INHALT
Editorial
Die lang ersehnte arabische Revolution
SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM
Ägypten: Verfassungsfrage spaltet Opposition
Regime durch Volksabstimmung gestärkt
Die Innovationen des ägyptischen Volksaufstandes
Ohne Führung und selbstverwaltet
Nein zum Nato-Angriff, aber nicht mit Ghadaffi
Zum Wandel der Protestbewegung in Libyen
Die Lektion nicht verstanden
Die Lehren von Tunesien und Ägypten für Jordanien
Syrien: Der Antiimperialismus bedarf des Volkes
Demokratische Rechte stärken die arabische Revolution
Verfassungsgebende Versammlung in Tunesien
Bisher größter Erfolg des arabischen Frühlings
Der kurze Frühling der Demokratie
Revolten und Gegenoffensive im Arabischen Raum
Ein weiterer Riss in der Mauer
Arabische Revolte erschüttert US-Architektur
ARABISCHER RAUM
Eine Ahnung von Freiheit
Ein Nachruf auf Juliano Mer-Khamis
Zuverlässige Waffe des Regimes
Die Salafiten sind ein angenehmer und nützlicher Feind
"Die palästinensische Einheit ist das Wichtigste"
Maryam Abu Dagga im Gespräch
Palästina, 1936
Eine Analyse von historischer Gültigkeit
AKTIVISMUS
Adivasi trommeln gegen Globalisierung
Sumud auf Fact-Finding bei den indischen Ureinwohnern
INTERNATIONAL
Neue Revolution mit alten Problemen
Venezolanische Volksbewegung im Kampf gegen die Bürokratisierung
THEORIE
Solidarität, eine Waffe?
Überlegungen zu einem neuen Internationalismus
Vierzig Jahre Schwarzer September
Die Kinderkrankheiten der palästinensischen Bewegung

Raute

EDITORIAL

Die lang ersehnte arabische Revolution

Niemand hätte das, was in den letzten Monaten den Arabischen Raum erschüttert hat, noch wenige Wochen zuvor für möglich gehalten: Massenaufstände, spontan, von unten, säkular, mit demokratischen und sozialen Forderungen und noch dazu erfolgreich. Ganz im Gegenteil, war der Arabische Raum in der Linken vielfach als trauriges, weil hoffnungsloses Terrain angesehen worden, mit geschlagenen und zerstörten linken Organisationen, mit eingeschüchterten und passiven Massen und mit rückgradlosen Kompradoren-Regimen.

In dieses Szenario platzen die Volksaufstände, die in zahlreichen arabischen Ländern im Domino-Effekt die Verhältnisse ins Wanken bringen. Ihre Bedeutung reicht weit über die betroffenen Länder hinaus. Sie erschüttern nachhaltig die seit Jahren verkrusteten Verhältnisse in dieser geostrategisch zentralen Weltregion. Die Aufstände werden zwar nicht in allen Ländern erfolgreich sein. Dort, wo sie die alten Regime bereits gestürzt haben, zeigt sich, dass ihre Dynamik mit nur kosmetischen Reformen gebremst wurde. In anderen Ländern, jenen die eine antiimperialistische Vergangenheit und teilweise noch Gegenwart haben, ist ihr Charakter und ihre Stoßrichtung umstritten. Trotzdem ist es unumstößlich, dass im Arabischen Raum und darüber hinaus nichts beim Alten bleiben wird.

Grund genug, die vorliegende Ausgabe der Intifada den arabischen Revolten zu widmen. Wir bringen Berichte zu Ägypten, Libyen, Jordanien und Syrien sowie zwei Analysen, die grundsätzliche Überlegungen zu den Ereignissen anstellen. Darüber hinaus findet sich in dieser Ausgabe ein Nachruf auf den palästinensischen Regisseur Juliano Mer-Khamis, eine Analyse zum Salafismus, ein Interview mit der palästinensischen Aktivistin Maryam Abu Dagga und ein historisches Dokument zur Situation in Palästina 1936. Wir präsentieren außerdem ein Interview zur aktuellen Situation in Venezuela und einen Reisebericht der Solidaritätsorganisation SUMUD aus Indien, wo das nächste Projekt stattfinden soll: An theoretischen Beiträgen bietet diese Ausgabe Überlegungen zum Konzept der Solidarität sowie eine Analyse des Schwarzen September 1970 in Jordanien.

Raute

SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM

Ägypten: Verfassungsfrage spaltet die Opposition

Regime durch Volksabstimmung gestärkt

Von Mohammad Aburous

Am Samstag, 19. März 2011 gingen die Ägypter zu den Wahlurnen, um über die vom Militärrat vorgeschlagenen Verfassungsänderungen abzustimmen. Egal wie das Ergebnis ausschauen wird, das Regime hat die politische Initiative wieder erlangt und bestimmt die politische Agenda.


Das ägyptische Regime, gestützt auf dem Apparat des ältesten Staates der Welt, beweist von neuem seine Fähigkeit, sich zu reproduzieren. Schon nach dem erzwungenen Abgang Mubaraks war das Regime in der Lage, die Opposition zu spalten. Ohne den aufständischen Kräften irgendwelche Legitimität anzuerkennen, setzte der Militärrat eine neue Regierung aus alten Gesichtern und ein juristisches Komitee zur Veränderung der Verfassung ein. Die Armee kündigte sich als Schützer der Demokratie an, während sie Straßendemonstrationen brutal unterdrückte.


Überlebensstrategie des Regimes

Die Opposition ist sich darüber einig, dass es sich bei den Verfassungsänderungen um kosmetische Reformen handelt, die dem Fortbestehen des Regimes dienen. Diese betreffen nur das Wahlsystem hinsichtlich Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Nicht einig ist sich die Opposition jedoch über die Vorgangsweise gegenüber dem Regime.

Die Initiatoren des Volksaufstands verlangen eine neue Verfassung, die einen tatsächlichen Bruch mit dem alten Regime darstellt. Diese soll von einer konstituierenden Versammlung verabschiedet werden, die demokratisch repräsentativer ist. Pragmatische Befürworter der jetzigen Verfassungsänderung sehen in neuen Wahlen, einer zivilen Regierung und der Abschaffung des dreißig Jahre alten Ausnahmezustands einen Etappensieg der Bewegung.


Ausdruck der politischen Konjunktur

Da der Aufstand nicht über Kräfte verfügte, die in der Lage waren, die Macht zu ergreifen, intervenierte der Staatsapparat selbst und entfernte die verhassten Spitzen des Regimes. Die Moslemischen Brüder sind trotz langen Verbotes die Oppositionspartei mit der größten Infrastruktur und Verankerung. Sie sind bei keiner Konstellation zu übergehen. Keine andere politische Kraft ist in der Lage, Hegemonie innerhalb der Massenbewegung zu erlangen und der inhärenten antagonistischen Position zum Regime politischen Ausdruck zu verleihen.

Ohne den aufständischen Kräften irgendwelche Legitimität anzuerkennen, setzte der Militärrat eine neue Regierung aus alten Gesichtern und ein juristisches Komitee zur Veränderung der Verfassung ein.

Ziel des Regimes ist jetzt, seine Existenz mit einem Minimum an politischen Verlusten zu sichern, das heißt ohne fundamentale Veränderungen in seiner Abhängigkeitsbeziehung zum Westen sowie in der neoliberalen Marktwirtschaft. Daher gilt es, Sozialproteste zu isolieren und ihre Politisierung zu unterbinden, und die linken Kräfte zu marginalisieren. Doch auch die liberalen Strömungen sind für das Regime eine Bedrohung. Auch wenn diese unter der Forderung nach moderner Demokratie liberale Marktwirtschaft verstehen, stellen sie für das Regime in seiner Rolle als Agenten der USA eine Konkurrenz dar. Auf diese setzen auch die USA, falls das alte Regime nicht mehr in der Lage ist, das Land am Zügel zu halten. Hingegen sind die Moslemischen Brüder eine pragmatische politische Kraft, die keine großen sozialen Reformen verlangt. Sie ist im Gegenteil bereit, die Macht mit dem Regime zu teilen und den kleineren Teil zu akzeptieren. Die Moslemischen Brüder sind auch weit davon entfernt, eine Konkurrenz in der Beziehung zum Westen zu sein. Dessen bewusst einigten sich der Militärrat und die Moslemischen Brüder auf baldige Volksabstimmung und Wahlen.


Neue Bündnisse

Die Polarisation in Bezug auf diese Frage spaltete das Bündnis, das sich gegen den Diktator Mubarak gebildet hatte, und brachte das Regime und die Staatspartei wieder in die Offensive: Bis auf die Moslemischen Brüder sind durch die jahrelange Repression keine Oppositionskraft organisatorisch und infrastrukturell in der Lage, einen Wahlkampf zu führen. Entsprechend sind sowohl die Moslemischen Brüder und die Staatspartei (Nationale Demokratische Partei, NDP) mit den Verfassungsänderungen und baldigen Wahlen einverstanden. Diese werden erwartungsgemäß in eine Machtaufteilung zwischen den Moslemischen Brüdern und dem Staatsapparat münden.

Die Moslemischen Brüder hielten sich zu Beginn des Aufstands zurück, um danach tonangebend zu intervenieren. Sie schließen sich zwar den Forderungen nach politischen Reformen im Staat an und fordern ebenfalls Maßnahmen gegen die Korruption, sind jedoch nicht an sozialen Reformen interessiert. Gestützt auf das städtische Bürgertum streben sie ein Bestehen der jetzigen Ordnung an. Da sie die jedoch in der Lage sind, Teile der Bevölkerung zu bewegen (und auch nach Hause zu schicken), sind sie durch den Aufstand in eine bessere Verhandlungsposition gekommen: Sie werden zum ersten Mal zu einer legalen Partei und genießen politische Freiheiten, die sie seit 1949 nicht kannten. Sie werden ihre Kandidatur und ihren Einzug ins Parlament mit dem Regime so aushandeln, dass sie eine bedeutende, jedoch keine absolute parlamentarische Mehrheit bekommen.

Diese Haltung der Moslemischen Brüder zog einige bekannte Persönlichkeiten der säkularen Opposition mit, etwa Hamdin Sabahi, den populärsten nasseristische Politiker oder Georg Ishaq, der ehemalige Sprecher von Kifaya.

Ziel des Regimes ist es, seine Existenz mit einem Minimum an politischen Verlusten zu sichern, ohne fundamentale Veränderungen seiner Abhängigkeitsbeziehung zum Westen sowie in der neoliberalen Wirtschaftspolitik.

Dass die NDP ebenfalls zustimmt, das liegt in ihrer Natur als Apparat. Nach dem Abgang der Mubaraks und der Entfernung des Parteivorsitzenden Ahmad Izz produzierte der Apparat eine neue Führung, die sich als Opfer der Diktatur von Mubarak und als Befürworter des Aufstands deklariert.

Auch die traditionellen Salafiten, die sich während des Aufstandes neutral verhielten, riefen dazu auf, mit "Ja" zu stimmen. Sie betrachten diese nun als "religiöse Aufgabe".

Auf der "NEIN"-Seite stehen die säkularen Kräfte der Opposition: Nasseristen (Die Karama sowie die Nasserisitische Partei), Liberale (die Wafd und Ghadd Parteien der Präsidentschaftskandidaten Baradai und Amre Moussa) und die Kommunisten. Dies sind auch die Kräfte von "Kifaya", welche die demokratische Protestbewegung gegen das Regime initiiert hatten. Auch innerhalb der ägyptischen Christen bildete sich eine Mehrheit, die eine neue Verfassung auf säkularer Basis fordert. Die jetzige Verfassung, die 1971 von Anwar Saadat im Rahmen der Liquidierung des Sozialismus eingeführt wurde, betont den moslemischen Charakter des Staates. Ihre Forderung nach "Neue Verfassung" als dritte Option in der Volksbefragung (neben JA und NEIN) wurde ignoriert.


Demokratiebewegung in Kinderschuhen, Regime in Militärstiefeln

Dass eine Mehrheit gegen das Regime besteht, ist unumstritten. Die Differenz zwischen beiden Lagern besteht nur hinsichtlich einer sinnvollen Methode, die Verhältnisse zu demokratisieren. Die Mobilisierung um diese Volksabstimmung sowie das Ergebnis sind eine wichtige politische Prüfung für die radikalen Regimegegner. Es drückt die politischen Kräfteverhältnisse und die jetzige Mobilisierungskraft der säkularen Opposition aus.

Diese Volksbefragung ist die erste ihrer Art, die ohne Staatsterror und offene Fälschung abläuft. Die Tatsache, dass sie auf dieser niedrigen Basis stattfindet, weist auf den begrenzten Etappensieg der ägyptischen Demokratiebewegung hin.

Nichtsdestotrotz findet in Ägypten heute ein Prozess voller Umwälzungen statt. Wo nach dem Abgang von Mubarak der Konsens der politischen Kräfte fehlt, kommen die unterschiedlichen Charaktere an die Oberfläche und die politischen Allianzen verändern sich.

Die Schlacht um Demokratie, soziale Gerechtigkeit und nationale Souveränität hat begonnen und wird, so quecksilbrig das Regime und die Scheinopposition sind, keine kurze sein.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Die ägyptische Armee - Beschützerin der Demokratie oder des Regimes?

Raute

SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM

Die Innovationen des ägyptischen Volksaufstands

Ohne Führung und selbstverwaltet

Von Yasser Abdallahmi

Seit dem Abgang Mubaraks konzentrieren sich die arabischen und internationalen Medien auf die Rolle der virtuellen sozialen Netzwerke und der modernen Kommunikationsmittel im ägyptischen Volksaufstand. Sie vergessen dabei bewusst andere revolutionäre Innovationen der Ägypter im Kampf gegen den Diktator - die Demonstrationen, die ohne hierarchische Führung verliefen, und die selbstverwaltete Dauerkundgebung am Tahrir-Platz.


Die Taktik des Black Block tauchte zum ersten Mal im Deutschland der 1980er Jahre in der Antinuklearbewegung auf Sie beruht auf der Ansammlung von Demonstranten in großen Blöcken, die sich durch schwarze Bekleidung und Masken von den übrigen Demonstrationsteilnehmern unterscheiden. Die Teilnahme am Black Block ist freiwillig und der Modus Operandi schließt die Existenz einer zentralen Führung aus.

Im Gegensatz zu den früheren Demonstrationen in Ägypten, die von Parteien und politischen Organisationen abgehalten wurden, hatten die Demonstrationen des Volksaufstands einen spontanen Charakter, was Mobilisierung und Bewegung betraf Niemand fragte nach der Person und der politischen Identität des Nachbarn. Die erste Millionenmobilisierung am 28. Jänner war die Entscheidungsschlacht dieses Aufstands. Sie fand an einem Freitag statt, als eine große Anzahl von Menschen nach dem Freitagsgebet auf den Straßen war. Die Menschenmenge bewegte sich spontan in Richtung Hauptplätze. Die Dynamik ähnelt dem Black Block hinsichtlich der Spontaneität und des Fehlens einer zentralen Führung. Die Demonstrationen konnten ohne Führung bestehen, bis der Tahrir-Platz unter Kontrolle der Demonstranten gebracht und die Truppen Mubaraks vertrieben wurden.


Temporäre autonome Zonen

In seiner Studie über temporäre autonome Zonen (TAZ) definiert der US-amerikanische Anarchist Hakim Bey diese Zonen als Orte, die vorübergehend von jeder Form hierarchischer Autorität isoliert werden. Als Beispiel führt er die sicheren Unterschlüpfe der Piraten (eng.: pirate utopias) an. Das Hauptmerkmal dieser Zonen ist das Entfallen der Autorität und die nicht hierarchische Kontrolle der Zone durch die Besatzung. Dies galt fünfzehn Tage lang für die Besetzung des Tahrir-Platzes vor dem Abgang Mubaraks und kurz danach. Andere verglichen den Platz mit der Pariser Kommune, wobei bestimmte Autoren gegen diesen Vergleich waren, weil die Besetzung von Tahrir keinen expliziten Klassencharakter hatte.

Das Fehler einer zentralen Führung machte es dem Regime schwer, den Aufstand unter Kontrolle zu bringen. Das erklärt die wiederholte Forderung seitens der Vertreter des Regimes nach Bildung einer Führung, mit der sie verhandeln könnten.

Als Teilnehmer an der Besetzung kann ich bestätigen, dass die Selbstverwaltung des Platzes unhierarchisch verlaufen ist. Es gab keine Form der Autorität. Auch die "Ordnungskomitees" und "Schutzkomitees" waren nur Namen von spontaner und momentaner Zusammensetzung, die sich nach Megaphonaufrufen bildeten und sich zur Abwehr zu einem der Platzeingänge begaben. Diese "Komitees" bestanden aus jedem, der an der Besetzung, egal wie lange, teilnahm. Als Alarm geschlagen wurde, trugen alle Stöcke und Steine und gingen zu den Eingängen, um den Platz gegen die Angriffe der Schläger zu verteidigen. Dies war eine spontane Innovation des ägyptischen Aufstands. Das Fehlen einer zentralen Führung machte es dem Regime schwer, den Aufstand unter Kontrolle zu bringen. Das erklärt die wiederholte Forderung seitens der Vertreter des Regimes nach Bildung einer Führung, mit der sie verhandeln könnten.


Was nach dem Abgang Mubaraks?

Sobald Mubarak gegangen war, kamen Aufrufe zu Putzkampagnen und zur Verschönerung der Stadt. Es wurde aufgefordert, neue Bäume zu pflanzen, die Verkehrsregeln zu respektieren und auf den Straßen keine Mädchen zu belästigen. Dies war der Diskurs der städtischen Bourgeoisie, die sieh ebenfalls in Opposition zu Mubarak befand, weil sein korruptes Regime auch ihre Entwicklung gehemmt hatte. Die städtische Bourgeoisie rebellierte nicht gegen das kapitalistische Regime, sondern gegen die Reste der mafiösen Militärbürokratie, deren Verwaltung die Entwicklung einer freien Marktwirtschaft im Lande behindert hatte.

Gleichzeitig brachen in mehreren Orten und Städten Arbeiteraufstände, die pure gewerkschaftliche Forderungen hatten, aus. Einige Initiativen kombinierten das Wirtschaftliche mit dem Politischen, wie jene der Postangestellten, deren Aufruf vom "Komitee der Postangestellten zum Schutz der Revolution" unterzeichnet wurde.

Die Gefahr liegt in den Aufrufen der bürgerlichen Kräfte zur Einheit. Gemeint ist eine Einheit unter dem Banner der Bourgeoisie.

Die Gefahr liegt in den Aufrufen der bürgerlichen Kräfte zur Einheit. Gemeint ist eine Einheit unter dem Banner der Bourgeoisie. Diese ist durch eine mögliche Radikalisierung des Aufstandes und seine potentielle Umwandlung von bloßen konstitutionellen Forderungen in eine soziale Revolution gegen die kapitalistische Ausbeutung und die Lohnarbeit verängstigt. Daher wird jeder Arbeiterstreik als eine sektiererische Aktion dargestellt, welche die Kräfte spaltet und zur falschen Zeit stattfindet. Einige stellen Arbeiterproteste sogar als eine Gegenbewegung, die vom alten Regime gesteuert werde, dar. Diese Stimmen klingen synchron mit den Warnungen des regierenden Militärrates vor allen Formen von Protesten und Demonstrationen.

Eine Radikalisierung der ägyptischen Intifada hängt von der Beteiligung und der Selbstorganisierung der Arbeiterkräfte gegen die Macht des Kapitals, des Staates und des Militärs ab. Das ist der einzige Garant für die Entwicklung des Aufstandes und seine Umwandlung in eine soziale Revolution.


Heute zeichnen sich drei Hauptszenarien für den ägyptischen Aufstand ab:

- Der Aufstand beschränkt seine Forderungen auf die Verbesserung der Bedingungen des politischen Konfliktes und einige konstitutionelle Reformen, welche die Hauptelemente des sozialen und politischen Systems nicht in Frage stellen. Dies würde eine neue, weniger hässliche Auflage des Mubarak-Regimes bedeuten.

- Die Entwicklung der sozialen Proteste der Arbeiter in eine Bewegung, die das Wirtschaftliche mit dem Politischen verbindet. Diese Weiterentwicklung der Arbeiter "von einer Klasse an sich in eine Klasse für sich" würde den Aufstand in eine echte soziale Revolution verwandeln.

- Das dritte und schlimmste Szenario ist die Entwicklung einer neuen faschistoiden Macht, welche die Rufe zu "Einheit" für die Beseitigung jeder Pluralität ausnützt. Diese Gefahr kommt nicht nur von religiöser Seite, sondern auch von Populisten, welche die sozialen und antiimperialistischen Forderungen des Volkes teilweise erfüllen und im Gegenzug jede demokratische Entwicklung unterbinden.

Die Entwicklung der ägyptischen Intifada ist daher ungewiss. Sie ist ein Aufstand des Zornes, der das Stadium der Revolution noch nicht erreicht hat.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Eine Mubarak-Puppe wird über dem Tahrir-Platz erhängt.

Raute

SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM

Nein zum Nato-Angriff, aber nicht mit Ghaddafi

Zum Wandel der Protestbewegung in Libyen

Von Wilhelm Langthaler

Die Ereignisse rund um Libyen passen nicht zum Schema der vergangenen Jahrzehnte, in denen der sich humanitär-demokratisch legitimierende Imperialismus gegen Antiimperialisten in den Krieg zog, die er als Menschenfresser deklarierte. Natürlich geht es dem Westen auch bei seinem jüngsten Krieg um die Absicherung seiner Interessen. Doch bleibt offen, ob dies so einfach sein wird. Auf der anderen Seite hat Ghaddafi jedes Potential verspielt, einen Beitrag zum arabischen Befreiungskampf zu leisten.


Die zur Debatte stehende Frage ist von tieferer Bedeutung, denn sie berührt den Charakter des Antiimperialismus. Diesem wird vielfach vorgeworfen dem Prinzip vom Feind meines Feindes, der zum Freund würde, anzuhängen. Am libyschen Fall zeigt sich, dass dem nicht so ist. Vielmehr ist das Kriterium, ob eine Kraft auf die eine oder andere Weise, direkt oder indirekt, mit welchen Schwächen und Fehler auch immer behaftet - die gegen den Imperialismus gerichteten Interessen der Volksmassen repräsentiert.


Charakter des Ghaddafi-Regimes

In der oppositionellen Medienlandschaft findet man nicht selten den Verweis auf die notorischen Listen der Neocons von Schurkenstaaten, denen man im Sinne des "regime change" einen militärischen Schlag versetzen müsse. Libyen stand mit auf der Abschussliste. Diese Liste gab es wirklich und mit den Kriegen gegen Afghanistan und Irak begann die Phase der Umsetzung. Es war ein imperiales Maximalprogramm, aufgelegt im Rausch der Omnipotenz. Nach einem Jahrzehnt des Krieges gilt es selbst in der US-Elite als glamourös gescheitert. Der massive Widerstand auf vielen Ebenen brachte es zu Fall.

Ghaddafi war in der Zwischenzeit mit allen Ehren in die "internationale Gemeinschaft" aufgenommen worden, also unter die Fittiche des Imperialismus zurückgekehrt. Er hatte dafür hohe Ablasszahlungen getätigt und wurde im Gegenzug im Westen nicht nur allseits beliebter Geschäftspartner, sondern sogar zum persönlichen Freund von Berlusconi & Co. Es ging um Ölgeschäfte, Infrastruktur und alles, was von der Ölrente sonst noch gekauft werden kann. Dafür hielt der "Revolutionsführer" Europa die afrikanischen Hungerleider vom Hals und verkaufte sich wie so viele Diktatoren in Nahost als Bollwerk gegen den drohenden Islamismus.

Ghaddafi war mit allen Ehren in die "internationale Gemeinschaft" aufgenommen worden. Er hatte dafür hohe Ablasszahlungen getätigt und wurde im Gegenzug allseits beliebter Geschäftspartner. Dafür hielt der "Revolutionsführer" Europa die afrikanischen Hungerleider vom Hals.

Ghaddafis zahllose panarabische, panafrikanische und in einem gewissen Sinn auch panislamische Abenteuer - allesamt gescheitert aufgrund autokratischer Schrullen - sollen hier nicht weiter erwähnt werden. Sie hatten aber zum Schluss jeden antiimperialistischen Charakter verloren. Letztlich ging es um Macht und Einfluss in den diversen afrikanischen und subsaharischen Staaten, insbesondere dem Tschad und dem Sudan, wo es auch immer wieder zu Kongruenzen mit imperialistischen Interessen kam.


Warum der Nato-Angriff?

Warum greift der Westen ein solches Regime an, das augenscheinlich eng kollaboriert? Viele vermuten angesichts dieser verwirrenden Tatsache eine "hidden agenda", also eine Verschwörung.

Der Imperialismus funktioniert jedoch nicht nach einem diabolischen Plan der Weltherrschaft. Auch die herrschenden globalen Eliten bilden sich eine Meinung, reagieren auf veränderte Umstände, machen Schätzungen, die sich mitunter als verfehlt erweisen. Und selbst wenn es diesen Plan gäbe oder gab, wie ihn teilweise die Neokons formulierten, so musste er immer wieder geändert und angepasst werden, bis sich nun Obama mit der Linie durchsetzte, zu retten was noch zu retten ist. Wo möglich mit soft power, wo nötig mit hard power.

Hauptmotiv des westlichen Eingreifens war, das eigene, schwer beschädigte demokratische Image aufzupolieren. Ben Ali und Mubarak hatte man bis zum letzten Moment gehalten, die blutigen Diktaturen am Golf stützt man trotz aller schönen Worte weiterhin. Angesichts der sich schnell entwickelnden Revolte dachte man wohl an einen schnellen Sturz. Warum die Volkserhebung nicht gleich unterstützen, zumal Ghaddafi nicht aus der eigenen Zucht stammt, sondern ein spätberufener und zudem unberechenbarer Partner blieb. Als der Vormarsch der Rebellen ins Stocken geriet, dachte man, mit Luftangriffen die Sache schnell in den Griff zu bekommen.


Ein anderer Verlauf der Bewegung

Das erwies sich als Fehleinschätzung. Die durch die Umstürze in Tunesien und Ägypten inspirierte Bewegung findet in Libyen unterschiedliche Bedingungen vor und verläuft entsprechend anders. Ghaddafi reagierte anders als seine Amtskollegen sofort mit heftiger Repression und zeigte demonstrativ seine Bereitschaft den Volksaufstand in Blut zu ertränken. Dies ließ ihm keine andere Wahl als zu den Waffen zu greifen. Im Osten des Landes löste sich die Armee einschließlich der Kommandostruktur schlagartig auf. Doch scheinen diese Truppenteile schon zuvor von Tripolis marginalisiert worden zu sein, denn außer leichten Waffen ist nicht viel zurückgeblieben.

Auf der anderen Seite stimmt es wohl, dass Ghaddafis Herrschaft sich auch auf Stammesloyalitäten stützt, die in einer Revolte nicht so ohne weiteres unwirksam werden. Die Armee bzw. die direkt Ghaddafi unterstellten bewaffneten Kräfte scheinen in extremer Weise auf und um ihn konzentriert zu sein. Für die politische Variante der Nachbarländer, wo die Militärs letztlich zu dem Schluss kamen, dass der Verbleib der Potentaten das System selbst gefährdet, bleibt kein Platz. Zudem mag auch eine Rolle spielen, dass durch die Verteilung der Ölrente der Lebensstandard in breiten Schichten wesentlich höher ist als in den zwei arabischen Nachbarländern.

Wenn der Westen Ghaddafis Eigeninteressen halbwegs befriedigen kann, dann wird seine antiimperialistische Rhetorik schnell Schall und Rauch sein.

Das Zwischenergebnis besteht in der Spaltung des Landes. Ein stabiles prowestliches Regime ist weiter entfernt als vor dem Angriff. Während man Ghaddafi als Partner verbrannt hat, bleibt die Führung von Benghasi äußert rachitisch.

Im Gegensatz zu den französischen Kriegstreibern streben die USA einen Kompromiss an. Sie wollen Ghaddafis Staatsapparat nicht zerschlagen, denn ihnen sitzt ihr irakisches Fiasko noch zu tief in den Knochen. Die Führung in Benghasi hat indes nichts anzubieten und müsste praktisch von null auf anfangen - mit erheblichen Gefahren für den Westen, denn Demokratie zu versprechen, ist nicht gänzlich gratis. Auch in Libyen gibt es antiimperialistische Kräfte, die mehr oder weniger islamisch sind. Darum auch das Zögern hinsichtlich der Bewaffnung der Rebellen.

Noch sträuben sich sowohl Ghaddafi als auch Benghasi gegen einen Kompromiss. Doch wenn der Westen Ghaddafis Eigeninteressen (zumindest die materiellen) halbwegs befriedigen kann, dann wird seine antiimperialistische Rhetorik schnell Schall und Rauch sein.


Reaktionäre Volkserhebung?

Angesichts der medialen Unterstützung für die Bewegungen in Tunesien und Ägypten gab es einige Stimmen, die von farbigen Revolutionen osteuropäischen Typs sprachen. Die Ereignisse in Libyen lesen sie als klare Bestätigung für den prowestlichen, reaktionären Charakter der arabischen Revolutionen. Insbesondere in Libyen sehen sie den gestürzten König, die alten Sanussi-Eliten und die CIA am Werk.

Unbestreitbare Tatsache ist, dass die Führung von Benghasi den Westen zu den Luftangriffen einlud und wiederholt deren Intensivierung forderte - jedoch mit der Einschränkung, dass westliche Bodentruppen unerwünscht seien. Die Gegenregierung hat sich insgesamt voll auf die Seite des Westens gestellt.

Das heißt den Bock zum Gärtner zu machen. Eine demokratische Revolution ist antiimperialistisch oder sie ist nicht. Die Benghasi-Führung servierte dem Imperialismus auf dem Silbertablett die Legitimation für seine Militärintervention. Damit konnte ein Gegenmoment zu jenem der arabischen Revolutionen gegen die Westdiktaturen eingebracht werden um deren Dynamik zu bremsen.

Die Erklärung für diesen Verlauf ist einfach: Vermutlich wäre die Rebellion unter den Schlägen Gaddafis zusammengebrochen. Diese militärische Schwäche transformierte sich umgehend in eine politische Schwäche, obwohl es anfangs durchaus Stimmen gegen das westliche Eingreifen gab. Doch gerade die scheinbar dominanten islamischen Kräfte folgen dem Prinzip, gegen den Feind mit dem Teufel zu paktieren, ohne Rücksicht darauf sich damit an den Westen zu binden.

Die Benghasi-Führung servierte dem Imperialismus die Legitimation für seine Militärintervention. Damit konnte ein Gegenmoment zu den arabischen Revolutionen gegen den Einfluss des Westens eingebracht werden, um deren Dynamik zu bremsen.

Die Behauptung Ghaddafis gegen al Kaida zu kämpfen ist lächerlich. Warum sollte der Westen mit dem militanten Salafismus kooperieren, während er sich in Afghanistan in einem zehnjährigen Krieg gegen ihn aufreibt? Das können nur Leute glauben, die die gegenwärtigen Taliban als Handlanger der USA ansehen. (In dieser bestechenden Logik der Verschwörung würden die USA am Hindukusch also gegen sich selbst kämpfen.) Aber mehrheitlich islamisch mag die Bewegung durchaus gefärbt sein, was im Übrigen nicht im Widerspruch zu den demokratischen Forderungen steht. Nimmt man das ägyptische Panorama als Vergleich her, dann werden sowohl die städtischen liberalen, verwestlichten Mittelschichten als auch die linke Komponente schwächer sein. Doch die Grundstimmung wird sich von jener im Rest der arabischen Welt nicht grundlegend unterscheiden. So wie die schiitische Führung im Irak vermeint man den Westen für sich zu instrumentalisieren und nicht umgekehrt.

Noch eine Bemerkung zur Lynchjustiz gegenüber Afrikanern: Nicht nur, dass es glaubhafte Berichte gibt, dass Afrikaner unter dem Pauschalvorwurf, Handlanger Gaddafis zu sein, gelyncht wurden. Es liegt auch in der Logik der Situation, da Ghaddafi seit Jahrzehnten tatsächlich Söldner benutzt so wie die meisten Öldiktaturen auch. Doch der Chauvinismus gegenüber Afrikanern ist nicht spezifisch für die Benghasi-Revolte. Sie ist Ausdruck eines arabischen Suprematismus gegenüber den subsaharischen Völkern, die über Jahrhunderte als Sklaven gehalten wurden. Der Ölreichtum und die Millionen Fremdarbeiter, die die niedrigen Arbeiten verrichten, befördern diese Stimmung, wie man nicht nur vom Golf, sondern auch aus Europa selbst weiß. Ghaddafi bediente trotz seiner panarabischen Anwandlungen immer wieder dieses Überlegenheitsgefühl. Die Benghasi-Revolte liegt da auf der selben Linie, wobei Gaddafi natürlich kein Motiv hat gegen seine eigenen Söldner vorzugehen.


Antiimperialistische Position?

In einer ersten Stellungnahme sprach die "Antiimperialistische Koordination" (AIK) von einem Dreifrontenkrieg: "Potenziell antiimperialistische Kräfte in Libyen haben es nun schwer. Sie müssen gegen drei Fronten politisch wie letztlich auch militärisch kämpfen. Zuerst gegen die westliche Intervention und dann sowohl gegen Ghaddafi als auch die Diener des Westens von Benghasi."(1) Das wäre zwar äußerst heldenhaft und mutig, ist aber ein extremes Minderheitenprogramm, denn die Revolte war gegen Ghaddafi einfach politisch wie militärisch zu schwach.

Am ehesten kann man die Solidarität von der arabischen Welt in Rebellion, insbesondere von Ägypten und Tunesien, erbitten. Dabei sind Freiwillige aus der Volksbewegung gefragt. Das Vorbild des spanischen Bürgerkriegs kommt einem in Erinnerung. Doch ohne das Wohlwollen und eine gewisse Beteiligung der Armeen dieser Länder wird es wohl nicht gehen. Trotz aller Schwierigkeiten wäre das politisch leichter von der Volksbewegung kontrollierbar als die imperialistische Intervention. Gerade die kürzlich erfolgten Umstürze machen die Armeen des westlichen und östlichen Nachbarn vom Druck der Bevölkerung besonders abhängig. Ein derartiges Unternehmen könnte die Kräfteverhältnisse in diesen Ländern selbst zugunsten der revolutionären Kräfte verändern.


Der Unterschied zu den anderen Schurken

Warum kann nicht Ghaddafi selbst zum Kristallisationspunkt des antiimperialistischen Widerstands werden, wie es in Jugoslawien, dem Irak und dem gegenwärtigen Iran der Fall ist. Was macht den entscheidenden Unterschied aus?

Man kann nicht abstreiten, dass Ghaddafi noch auf eine gewisse Unterstützung zählen kann, denn sonst wäre sein Regime implodiert. Doch dabei handelt es sich weder um die Unterdrückten und Ausgebeuteten, noch um die politisch artikulierten Antiimperialisten. Es sind die Eigeninteressen Ghaddafis, seiner engsten Familie, seines Clans, seines Stammes, der Wirtschaftselite, die ihn zur Selbstverteidigung treiben. Aus diesem Grund ist auch damit zu rechnen, dass er und seine Entourage einen Kompromiss akzeptieren werden. Die Bedingung dafür ist, dass seine wirtschaftlichen Interessen und vermutlich auch seine persönliche Würde gewahrt bleiben.

Milosevic, Saddam und Ahmadinejad spiel(t)en eine andere Rolle. Trotz aller Fehler, Schwächen, ja Verbrechen betrachten die antiimperialistischen Kräfte diese Führungsfiguren als ein Moment der Verteidigung gegen den Imperialismus. Das heißt nicht sich ihnen auszuliefern, sich ihnen politisch unterzuordnen, sich auf sie zu verlassen. Aber ein Block mit ihnen ist im Sinne der Stärkung des Widerstands unumgänglich.

Ghaddafi ist eher mit Noriega in Panama vergleichbar. Ein ehemaliger US-Diktator fällt in Washington in Ungnade. Es folgt eine amerikanische Militärintervention. Diese muss natürlich bekämpft und abgelehnt und die Souveränität des Landes verteidigt werden, so wie in Libyen auch. Dort kommt noch hinzu, dass die Ereignisse sich im Kontext eines Umsturzversuchs als Teil einer gesamtarabischen Bewegung entspinnen, die objektiv gegen als Teil einer gesamtarabischen Bewegung entspinnen, die objektiv gegen die imperialistische Architektur gerichtet ist.

Die Antiimperialisten müssen Teil dieser demokratischen Massenbewegung sein, die erst an ihrem Anfang steht. Nur so kann sie entwickelt und Fehlentwicklungen wie in Libyen korrigiert werden.


Anmerkung

(1) Nein zur Militärintervention gegen Libyen! Die Befreiung muss das Werk des libyschen und arabischen Volkes selbst sein,
www.antiimperialista.org/de/node/6891e/6891


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Die alte Fahne der libyschen Monarchie tauchte tausendfach in den Demonstrationen auf.

Raute

SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM

Die Lektion nicht verstanden

Die Lehren von Tunesien und Ägypten für Jordanien

Von Hisham Bustani

In Jordanien scheint niemand die Lektionen der Revolutionen in Tunesien und Ägypten gelernt zu haben, weder die offizielle noch die sogenannte alternative Opposition. Sie beschränken sich auf Forderungen nach kosmetischen Veränderungen und festigen dabei eine antipalästinensische "jordanische" Identität.


Die offizielle Opposition versucht noch immer, schwache reformistische Entscheidungen zu vertreten, die ihren seit 1989 zum Scheitern verurteilten Kurs fortführen (1989: das Jahr, in dem der Ausnahmezustand aufgehoben und der Beginn der "demokratischen Ära" erklärt wurde).

Die "alternative" Opposition hat sich selbst zur fähigen Option erklärt, die das politische Vakuum füllen könnte, ist aber nicht viel besser: Sie hat einen "östlich-jordanischen", isolierenden Charakter; gründet sich auf eine postkoloniale Identität, die keinen internen Konsens aufweist; ähnelt der Identitätspropaganda der politischen Autorität ("Jordanien zuerst", und "wir sind alle Jordanier", beides vom Regime gesponserte PR-Kampagnen zum Aufbau einer "jordanischen nationalen Identität").

Es ist bemerkenswert, dass diese "alternative Opposition" über enge Verbindungen zur "alten Garde" verfügt, einer der zwei rivalisierenden "Flügel" des jordanischen Regimes, der teilweise marginalisiert wurde, als der junge König Abdullah II die Krone empfing und einen "Flügel" der herrschenden Klasse einführte, der aus jungen Wirtschaftsleuten (vor Ort "die Neoliberalen" genannt) besteht. Die "alte Garde" ist nicht weniger "neoliberal", schließlich hat sie mit den Reformen des Internationalen Währungsfonds, der Privatisierungspolitik und dem Rückzug des Staates von seinen sozialen Aufgaben angefangen.

Von den auf ihrem Höhepunkt angelangten Protesten in Tunesien beeinflusst, ist der erste "Tag des Zorns" in Jordanien (von der "alternativen Opposition" ausgerufen) am Freitag dem 14. Januar 2011 mit einer bescheidenen Menge von 500 Menschen abgehalten worden. Die offizielle Opposition boykottierte ihre Teilnahme an der Protestveranstaltung, doch als die tunesische Revolution sich als erfolgreich herausstellte, beteiligte sie sich am nächsten Freitag, dem 21. Januar 2011, und ließ die Teilnehmerzahlen auf 10.000 steigen. Am dritten Freitag (28. Januar) sank die Teilnehmerzahl, am vierten Freitag (4. Februar) teilte sich die Menge: Ein Teil sammelte sich auf dem gewohnten Platz in der Innenstadt, der andere Meilen entfernt vor dem Büro des Premierministers. Die Spaltung wird das "isolationistische" Element in den Oppositionskräften vermutlich bestärken. In der Hauptforderung der "alternativen Opposition" (später von der offiziellen Opposition übernommen) wird das deutlich: Die Ersetzung des Premierministers Sameer al-Rifa'i (der später als erwartet entlassen wurde) und die Bildung einer Regierung der "nationalen Einheit".


Wer sind die Hauptträger dieser "alternativen Opposition"?

Die wichtigen Elemente sind die Jordanische Sozialistische Linke Bewegung, die Jordanische Nationalinitiative, die Nationale Progressive Bewegung, das Nationalkomitee der Militärveteranen, der jordanische Schriftstellerverband, die Nationalistische Progressive Bewegung, sowie sehr kleine Gruppen wie der Demokratische Jugendverband, die Philosophengesellschaft, das Sozialistische Denkerforum, die Versammlung der Tscherkessen-Jugend und der Verband gegen Zionismus und Rassismus.

All diese Gruppen bilden die "Jordanische Kampagne für Veränderung - Jayeen", und stehen sich auf der Ebene der Koordination politisch nahe.

Ein paar kurze Bemerkungen zum Überblick zu den Komponenten der Bewegung zeigen, was sie wirklich repräsentieren: Nahed Hatter, der gegenwärtige Vorsitzende der Nationalen Progressiven Bewegung, früherer Führer der Jordanischen Sozialistischen Linken Bewegung und eine der Hauptfiguren der "alternativen Opposition", verriet in einem Artikel, mehrere "lange Brainstorming-Treffen" mit dem Chef des Generalgeheimdienstbüros gehabt zu haben. Darüber hinaus bescheinigt er ihm, "ein Symbol der jordanischen Nationalbewegung" zu sein. Omar Shaheen, derzeitiger Vorsitzender der Jordanischen Sozialistischen Linken Bewegung, schrieb über diese Treffen, dass sie mit der Zustimmung und dem Segen der Bewegung stattgefunden hätten. Mehr noch, Hattar und die Jordanische Sozialistische Linke Bewegung waren unter den Ersten, welche die isolationistische postkoloniale Identität auf theoretischer Grundlage als rechtmäßig vertreten haben, auf die eine nationale Befreiungsbewegung gründen könne.

Die "alternative" Opposition hat einen "östlich-jordanischen", isolierenden Charakter und gründet sich auf eine postkoloniale Identität, die keinen internen Konsens aufweist.

Diese Vision wird von der Jordanischen Nationalinitiative geteilt, die in ihrer veröffentlichten Literatur zu einer "vollständigen jordanischen Identität" aufruft und die Gründung einer von der palästinensischen getrennten jordanischen Nationalbewegung fordert. Sie geht mit der "jordanischen Gesellschaft" als einem von der "palästinensischen Gesellschaft" getrennten, isolierten Gebilde um, die gemeinsame Interessen teilen.

Der Jordanische Schriftstellerverband ist einer der größten Empfänger von Regierungsgeldern durch das Kulturministerium und die Stadtverwaltung von Amman. Die meisten seiner Führer und Prominenten sind entweder vom Regierungsapparat für Kultur und Medien angestellt oder erhalten verschiedene Vergünstigungen durch ihn.

Die Führer der Nationalen Progressiven Bewegung beteiligten sich an den letzten, weitgehend boykottierten Parlamentswahlen, die als Fortsetzung der Aufspaltung der jordanischen Sozialstruktur in Clans, Familien und Regionen galten. Die Wahlen und Wahlgesetze wurden auch als Knock-out jeder Reformmöglichkeit angesehen.

Niemand arbeitete ernsthaft daran, das palästinensische Flüchtlingslager an der Initiative der "Tage des Zorns" zu beteiligen. Unterdessen sehen einige Organisationen in der Jayeen-Koalition die Palästinenser als Reservoir für den Neoliberalismus und stellen sie in einen Konflikt mit den Ost-Jordaniern.

Niemand arbeitete ernsthaft daran, das palästinensische Flüchtlingslager an der Initiative der "Tage des Zorns" zu beteiligen. Einige Organisationen sehen die Palästinenser als Reservoir für den Neoliberalismus und stellen sie in einen Konflikt mit den Jordaniern.

Das zentrale Problem dieser Opposition ist indes ihre Hauptforderung, die von der offiziellen Opposition übernommen wurde: Die Entfernung der Sameer al-Rifa'i-Regierung und der Bildung einer Regierung der "nationalen Einheit".

Es ist in Jordanien bekannt, dass Minister "Führungskräfte" sind, nicht Leute, die Politik und Strategien entwickeln. Eine Auswechslung von Ministern zu fordern, wird auf der strategischen Ebene nichts bewirken und muss als subtiler Versuch derer gelten, die Änderungen fordern um die Leute zu ersetzen, die sie absetzen wollen.

Niemand diskutiert die Legitimität des politischen Systems in Jordanien, im Gegenteil: Sowohl die offizielle wie die alternative Opposition sieht den Kopf der politischen Autorität als eine Art moderierenden Weisen an. Beide Oppositionen rufen zu "einer Veränderung der Politik, nicht einer Veränderung des Regimes" auf.

Es geschah, was erwartet wurde: Die al-Rifa'i-Regierung wurde entlassen und ein Vertreter der alten Garde, Ma'rouf al-Bakheet, ehemaliger General und früherer Botschafter in Israel, wurde Premierminister. Ebenso gab es, wie erwartet, eine Erleichterung in beiden Oppositionszirkeln. Das Nationalkomitee der Militärveteranen und die Führung der Nationalen Progressiven Bewegung hießen den neuen Premierminister deutlich willkommen. Der Sprecher der Jordanischen Kampagne für Veränderung (Jayeen) beschrieb seine Amtseinführung als "Schritt in die richtige Richtung". Bei einem Sit-In der Islamisten und anderer legaler Parteien verschwanden die früheren Slogans für die Entfernung der Regierung, während sie erklärten, der al-Bakheet-Regierung eine "Testphase" zu geben.


Kein Interesse an grundlegenden Veränderungen

Denken die Teilnehmer an den jordanischen "Tagen des Zorns" mit der Absetzung eines Ministers oder Premierministers, oder einer Art Regierungsumbildung genug erreicht zu haben um wirtschaftliche, soziale oder politische Veränderungen in dem Land zu bewirken?

Erhielte sie die Befugnis, eine Regierung zu bilden - glaubt die alternative Opposition Jordanien, das stark von Auslandshilfe abhängig ist und leicht wie der Gazastreifen stranguliert werden kann, aus der Abhängigkeit in einen souveränen und unabhängigen Staat verwandeln zu können?

Innerhalb der bestehenden Formeln wird jeder, der auf einer lokalen "nationalen" Agenda gründend in die Regierung geht, nur eine von zwei Möglichkeiten wählen können: Zurückzutreten oder "mit der Realität umzugehen". Die Realität des postkolonialen Staates und der sich aus ihr ergebenden Identität ist eingebaut in Unterwürfigkeit, Korruption und Funktionalität. Eine Regierung zu bilden oder einer beizutreten, ist der erste Schritt des Beitritts zu Regeln und Mechanismen, die von der politischen Obrigkeit geschaffen wurden und denen man sich unmöglich entziehen kann.

Wir sollten nicht vergessen, dass die politische Obrigkeit unter der Hand des früheren Königs Hussein den einzigartigen Charakter, Opposition aufzusaugen, hatte. Sie vereinnahmte sogar jene, die Putsche gegen ihn versucht hatten, wandelte sie in Minister, Botschafter und selbst Geheimdienstchefs um. Die Eingemeindung der Opposition war eine wichtige Säule, die während der neuen Herrschaft schwand, als den jungen Wirtschaftsleuten neue Prioritäten entgegengebracht wurden, die nur dem Profit gegenüber loyal sind und sich aus jeder regionalen oder Clan-basierten Zugehörigkeit ausgeklinkt haben.

Dementsprechend gründete die politische Obrigkeit in Jordanien eine Klassenidentität, während die Opposition die Klassengegensätze durch ihre Bemühungen, sich der Regimestruktur anzuschließen, verwässert. Die Opposition versucht die alte Garde zurückzudrängen mitsamt der Persönlichkeiten, die die herrschende Elite mit den traditionellen Bestandteilen der Gesellschaft verbindet.

Das wird die sichtbar werdende Klassenstruktur verdecken und Spannungen zwischen den Klassen auflösen, was zur Langlebigkeit von Korruption und Unterwerfung führt. Die Forderung nach einer Regierung der "nationalen Einheit" zeigt den Wunsch der von den Machtstrukturen Ausgeschlossenen, ihre Positionen in ihr zurückzuerlangen und ihren Teil vom Kuchen abzukriegen. Es zeigt mit Sicherheit keinen Wunsch nach "umfassender Veränderung" an, der gereift wäre, wären sie außerhalb der Machtstrukturen geblieben.

Niemand arbeitete ernsthaft daran, das palästinensische Flüchtlingslager an der Initiative der "Tage des Zorns" zu beteiligen. Einige Organisationen sehen die Palästinenser als Reservoir für den Neoliberalismus und stellen sie in einen Konflikt mit den Jordaniern.

Zusammenfassend: Der "alternativen Opposition" mangelt es an der grundsätzlichen Notwendigkeit, von der politischen Autorität unabhängig zu sein. Sie übernimmt den isolationistischen Diskurs auf der Ebene der Identität und in der Frage, wie weitgefasst Befreiung gemeint ist, wandelt diesen Diskurs in einen um, der jeden echten Versuch, den Klassenkonflikt reifen zu lassen, unterbricht und verwässert.

Doch die Lektionen von Tunesien und Ägypten sind auf ein offenes Ohr gestoßen - das der politischen Autorität. Sie führten aufgehobene Subventionen für Grundnahrungsmittel wieder ein, kündigten eine Steigerung des Monatslohns von Angestellten im öffentlichen Dienst an, lud Oppositionsführer in staatliche Fernsehstationen ein und verbot weder die Demonstrationen am "Tag des Zorns" noch die Genehmigungsanfragen dafür. Es gab keine Polizeipräsenz während der Demonstrationen, tatsächlich verteilten einige Polizisten Saft und Wasser an die Demonstranten.

Das Regime in Jordanien hat die Lektionen aus Tunesien und Ägypten verstanden. Die Opposition - nicht wirklich!


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Jordanien: Unter der ruhigen Oberfläche brodelt der Volkszorn.

Raute

SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM

Syrien: der Antiimperialismus bedarf des Volkes

Demokratische Rechte stärken die arabische Revolution

Von Wilhelm Langthaler

Syrien hat das einzige noch verbliebene arabische Regime mit antiimperialistischen Zügen. Trotzdem ist die Einzementierung der absoluten Macht Bashar al-Assads der antiimperialistischen Sache in keiner Weise dienlich. Das Gegenteil ist nötig: Die Volksmassen brauchen frische Luft zum Atmen.


Die imperialistische Architektur der arabischen Welt, ein neuralgischer Punkt der globalen Ordnung, ist im Begriff, unter den Stößen der Massen in sich zusammenzubrechen. Um erfolgreich zu sein, reicht es für linke Kräfte jedoch definitiv nicht, die Errungenschaften der Vergangenheit zu verteidigen, die überdies schal geworden sind. Sie sind verloren, wenn wir ihr Schicksal an jenes von Figuren wie Assad binden, ganz zu schweigen von Ghaddhafi, der anders als Asad nur sich selbst verteidigt.


Grundlose Angst der Linken

Der Kontext der allgemeinen arabischen Volksbewegung, sollte der Linken die Angst vor einer Mobilisierung in Syrien nehmen. Nur durch demokratische Freiheiten und die Bewegung der Massen wird auf es lange Sicht möglich sein, dem Imperialismus die Stirn zu bieten. Dies wird hingegen nicht durch einen verkrusteten, bürokratischen und autokratischen Antiimperialismus gelingen, der nur zu oft schneller als man sich dessen gewahr werden kann kapitulierte. Um sich zu befreien, werden die arabischen Massen Volksaufstände mit einem Volkskrieg führen müssen, zu dessen Führung die alten staatlichen Eliten - auch jene, die mit dem Antiimperialismus spielen - gänzlich unqualifiziert sind. Anders ausgedrückt: die Zukunft liegt bei der Hisbollah, nicht bei Assad.

Klar, dass dieser Gegensatz heute nicht so deutlich erscheint. Assad unterstützt die Hisbollah und das müssen wir entschieden verteidigen. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, wie wenig Zustimmung das Regime von unten hat, wie hohl und auch wie konfessionell organisiert es ist. Assad führte eine ganze Reihe von liberalistischen Reformen mit Privatisierungen und Abbau staatlicher Leistungen für die Armen durch. Die sozialen Gegensätze haben sich verschärft. Arbeitslosigkeit und extreme Armut sind allgegenwärtig. Die Forderung der Massen nach demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit ist absolut legitim und sie können nur durch Druck von unten, durch Demonstrationen und Massenproteste durchgesetzt werden, selbst wenn es dabei zu Gewalt kommen mag. Assad begeht einen unverzeihlichen Fehler, wenn er glaubt, Katz und Maus spielen zu können, indem er die Aufhebung des Ausnahmezustands in Aussicht stellt, ohne von einem Zeitpunkt zu sprechen. Will er die Zugeständnisse etwa erst dann machen, wenn die Bewegung abgeebbt ist? Für die Baath sind die Volksmassen die größere Gefahr als der Imperialismus.

i>Der Kontext der allgemeinen arabischen Volksbewegung, sollte der Linken die Angst vor einer Mobilisierung in Syrien nehmen. Nur durch demokratische Freiheiten und die Bewegung der Massen wird auf es lange Sicht möglich sein, dem Imperialismus die Stirn zu bieten.

Ein kurzer Blick auf die Geschichte ist aufschlussreich. Da ist nicht nur der paradigmatische Verrat des Panarabismus durch Sadat nach Nassers Tod und die Niederlage von 1967. Doch was da von der historischen Bühne abtrat, war hohler, rhetorisch aufgeplusterter Antiimperialismus einer Elite, die weder fähig noch gewillt war, die Volksmassen zu mobilisieren und sich auf sie zu stützen. Die Assad-Dynastie spielt seit Jahrzehnten virtuos diese Geige, weil sie die Golan-Höhen nicht zurückbekommt - im Gegensatz zum Sinai, den Kairo mit beschränkter Souveränität zurückerhielt. Aus der Not eine Tugend machend, schmückt sich das Regime gegenüber den arabischen Massen mit seiner Standhaftigkeit gegen Israel.

Es darf nicht vergessen werden, wie Syrien in den 1970er Jahren militärisch in den libanesischen Bürgerkrieg gegen die Linke und die Palästinenser eingriff, denn Syrien fürchtete nichts mehr als deren Sieg. Genausowenig ist die syrische Unterstützung für die westliche Aggression gegen den Irak 1991 verzeihen, die Damaskus die US-Duldung für ihre militärische Präsenz im Libanon einbrachte.

Es darf nicht vergessen werden, wie wenig Zustimmung das Regime von unten hat, wie hohl und auch wie konfessionell organisiert es ist.

Es ist nicht reiner Zufall, dass Assad nach dem mit Gewalt begegneten ersten Ausbruch der Proteste mit der vorsichtigen Unterstützung der imperialen Hierarchie aufwarten konnte. Während die mit Israel verbundenen Neocons ihre ständigen Aufrufe zum regime change nochmals intensivierten, ehrte US-Außenministerin Hillary Clinton Assad mit dem Prädikat "Reformer". Auch der Saudi-König Abdallah sprang für ihn in die Bresche - trotz des Faktums, dass Assad mit dem Erzfeind Iran verbündet ist. Der Grund ist einfach: Auch sie fürchten sich vor einem Volksaufstand in einem der zentralen arabischen Staaten, der ordentlich Öl ins arabische Feuer gießen und schwer zu ersticken wäre. Da tut Assad allemal weniger weh.


Opposition Muslimbrüder

Wie in Ägypten wird auch in Syrien angenommen, dass die stärkste Kraft der Opposition von den Muslimbrüdern gestellt wird. Diese haben noch eine Rechnung für das Massaker von Hama im Jahr 1982 offen, bei dem zehntausende Zivilisten von Assad senior niedergemetzelt wurden. Was ist von den Moslembrüdern zu erwarten, einmal abgesehen davon, dass es legitim ist, die Verantwortlichen für den Massenmord zur Rechenschaft zu ziehen?

Es sei auf die opportunistische Rolle hingewiesen, welche die Muslimbrüder in Ägypten spielten. Sie beteiligten sich erst an der Bewegung gegen Mubarak, als diese nicht mehr zu aufzuhalten war. Kaum war der Potentat gestürzt, suchten sie schon wieder den Kompromiss mit dem Militärregime, dessen politische Verwaltung sie gerne übertragen bekommen möchten. In diesem Sinn unterstützten sie das Verfassungsreferendum, mit dem die Militärs so viel als möglich beim Alten belassen wollen, im Abtausch mit Wahlen, aus denen die Muslimbrüder wahrscheinlich als Sieger hervorgehen werden. Eine Regierung unter Beteiligung der Muslimbrüder wird auf alle Fälle dazu gezwungen sein, sowohl auf die demokratischen Aspirationen des Volkes mehr Rücksicht zu nehmen als auch mehr Distanz zum Imperialismus zu halten. Die Muslimbrüder können sich nicht frontal gegen die Massen wenden, zu sehr sind sie in diesen verankert. Im Gegenteil gibt es schon eine massive demokratische Ansteckung. Die große Mehrheit der Unter- und Mittelklassen sind für Demokratie und verstehen sich gleichzeitig als islamisch. Obwohl eine wirkliche Konterrevolution derzeit unwahrscheinlich ist, weil sie vom Westen nicht offen unterstützt werden könnte, so bleibt deren Zentrum die Arme und die Seilschaften der alten Elite und nicht die Muslimbrüder.

Es wäre Aufgabe der ägyptischen Linken und der globalen antiimperialistische Bewegung, die Muslimbrüder auf dem demokratischen Weg vorwärtszustoßen und damit die konservativen Elemente, die lange Zeit dominierten, zurückzudrängen. Ein westlich-areligiöses Herangehen würde den Tod der noch schwachen Linken bedeuten und gleichzeitig den Konservativen das politische Feld überlassen. Dabei hat die Linke eine große Rolle zu spielen. Sie brach die Bewegung los und sie kann der Stachel in ihrem Fleisch bleiben. Und nur sie kann den Klassenkampf einbringen, den die Muslimbrüder ablehnen, aber nur schwer abstellen können.

Zurück zu Syrien: Dort stellen sich die Bedingungen insofern anders dar, als Assad scheinbar weiterhin mit der Unterstützung wichtiger Teile der Alawiten und Christen rechnen kann. Nicht umsonst vermochte er Hunderttausende zu mobilisieren, wovon Mubarak und Ben Ali nicht einmal zu träumen wagten. (Mubarak hatte die Unterstützung der Kopten, die er einst genoss, längst verloren.) So sehr das syrische Regime auf Konfessionen stützt, so sehr machen das auch die Muslimbrüder - wahrscheinlich noch mehr und vor allem offen. Die Gefahr eines konfessionell überformten Konflikts ist daher durchaus gegeben und muss von den antiimperialistischen Kräften mit allen Mitteln vermieden oder gedämpft werden.

Trotz der langjährigen, engen Zusammenarbeit der syrischen Muslimbrüder mit dem saudisch geführten, prowestlichen sunnitischen Block können sich auch diese nicht frontal gegen die Wünsche der Volksmassen stellen.

Berücksichtigt man diese Besonderheiten Syriens, dann verliert - im Gegensatz zu den West-Diktaturen der Region - die Forderung dem Sturz der Assad-Regierung ihre Dringlichkeit. Wesentlicher scheinen heute die Forderungen nach vollen demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit stehen. Will Assad überleben, kann er sich nicht weiter taub stellen.

Raute

SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM

Verfassungsgebende Versammlung in Tunesien

Bisher größter Erfolg des arabischen Frühlings

Von Moreno Pasquinelli

Im Rahmen einer Solidaritätskarawane mit dem Volksaufstand besuchte der Autor Ende März Tunesien und berichtet von der Weiterentwicklung der Bewegung.

Zwei Monate nach dem Sturz Ben Alis merkt man, dass der soziale Aufruhr, die diffuse Spontaneität, die Demonstrationen der Volkskomitees, die Proteste der "Zivilgesellschaft" langsam nachlassen und zwei verschiedenen Phänomenen Platz machen. Diese zeigen einen latenten politischen und sozialen Bruch an.

Auf der einen Seite ist da die Enttäuschung, die Desillusionierung, die Entmutigung. Diese Stimmung dominiert an der Basis, unter dem einfachen Volk, bei den Ärmsten der großen Städte und der armen ländlichen Gebiete, wie de Region El Kef oder Kasserine. Selbst ein kurzer Besuch in Tunesien reicht um zu erkennen, dass sich für diese Schichten sozial nichts verändert hat.

Auf der anderen Seite hat das soziale Ferment unmittelbar nach dem Sturz des Diktators die Basis für eine politische Dynamik der verschiedensten Gruppierungen und Parteien geschaffen. Hier jagt eine Pressekonferenz der neuen Formationen die andere, in denen sie ihre Vorstellungen von der Zukunft Tunesiens erklären. Die flüchtige "Zivilgesellschaft", die Internet-Subversion der Jugend, gibt den Weg für die "politische Gesellschaft" frei. Alles was sich unter der Bleiplatte der Diktatur im Untergrund mit Ach und Weh halten konnte, tritt nun an die Oberfläche.


Konstituante und Wahlgesetz

Die größte Errungenschaft des Volksaufstandes vom vergangenen Januar ist die Verfassungsgebende Versammlung, die Tunesien zur Speerspitze des arabischen Erwachsens macht. Die Wahlen für diese Konstituante wurden für den 24. Juli anberaumt. Ganze 49 Parteien haben angekündigt sich am Urnengang beteiligen zu wollen. Das gesamte politische Spektrum ist vertreten: Rechte, Linke, Laizisten, Islamisten, Nationalisten, Panarabisten, prowestliche Liberale, revolutionäre Kommunisten und Sozialdemokraten. Auch die sogenannten Unabhängigen dürfen nicht fehlen, die sich als Vertreter der "Zivilgesellschaft" verstehen. Ihnen sind alle Parteien fremd, denn sie lehnen Parteien als solche ab.

Gegenwärtig steht das Wahlgesetz im Zentrum der politischen Debatte. Die provisorische Regierung, die politischen Erben des Benalismus, die noch immer die Schalthebel der Macht in Händen halten, haben eine Wahlkommission gebildet. Hinter allerlei technischen Details und Spitzfindigkeiten versuchen sie ein Mehrheitswahlrecht durchzusetzen, von dem die alten Eliten unter Ben Ali und die tunesische Bourgeoisie, die von der Revolte nur durchgerüttelt, aber keineswegs in den Grundfesten erschüttert wurde, profitiert.

Das Wahlgesetz steht im Zentrum der politischen Debatte. Die provisorische Regierung, die politischen Erben des Benalismus, versuchen ein Mehrheitswahlrecht durchzusetzen, von dem die alten Eliten profitieren.

Diesem Versuch stellen nicht nur zahlreiche Parteien der radikalen Linken, sondern auch viele Organisationen der "Zivilgesellschaft" und demokratische Intellektuelle ein demokratisches und proportionales Wahlsystem entgegen. Das Spiel ist offen, doch es gibt ausreichend Anlass zur Sorge. Die zentrale Wahlkommission muss ihren Auftraggebern gehorchen und wird ein Wahlgesetz formulieren, dass antikapitalistische und revolutionäre Kräfte klar benachteiligt.

Leider hat die islamische Bewegung Ennahdha (die zweifellos in Hinblick auf ihre soziale Basis die kompakteste gesellschaftliche Kraft ist) noch keine eindeutige Position zur Frage des Wahlgesetzes ergriffen, obwohl sie in einem soliden Bündnis mit der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens steht. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Nachdem Ennahdha die stärkste politische Partei ist, könnte ein Mehrheitswahlrecht von bedeutendem Vorteil für sie sein.

Die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens, die nicht nur die stärkste Partei der revolutionären Linken, sondern überhaupt der tunesischen Linken ist, spricht sich entschieden für ein demokratisches Wahlgesetz aus. Nur ein solches kann die volle Teilnahme des Volkes und dessen Souveränität garantieren.

Die Frage der "Volkssouveränität", wie diese ausgeübt werden soll, über welche Institutionen sie Ausdruck finden soll, steht ganz oben auf der tunesischen politischen Tagesordnung. Wie man sieht, wird die soziale Frage heute von der politischen und der juridischen Frage nach der Staatsform überdeckt. Dies ist vielleicht die größte Schwäche, gleichzeitig jedoch der objektive Niederschlag der so genannten "Januarrevolution".

Auf unserer Reise haben wir auch die staubigen Straßen von Kasserine besucht, von wo die Proteste ihren Ausgang nahmen. Für die Menschen dort hat sich nichts verändert. Sie verlangten Brot, sie wurden getötet, die Polizei hat auf sie geschossen, Tote, Verletzte, sogar während des Begräbnisses eines Jungen, das nicht genehmigt worden war. Ben Ali ist gegangen, in Tunis wird das Wahlgesetz diskutiert, doch sie leiden weiterhin Hunger, wissen weiterhin nicht, unter welchem Dach sie schlafen werden und beweinen noch weiter ihre Toten.

Ihnen ist keine Gerechtigkeit widerfahren. Niemand hat sich bemüßigt, sie aufzusuchen, die Mörder ihrer Kinder sind frei und wurden nicht gerichtet, sie haben keine Hoffnung für die Zukunft. "Die Revolution mag uns die Freiheit gegeben haben, sie hat uns jedoch keine Würde gegeben."

Raute

SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM

Der kurze Frühling der Demokratie

Revolten und Gegenoffensive im Arabischen Raum

Von Mohammad Aburous

Die Aufstände in vielen arabischen Ländern lösten eine Welle der Euphorie aus. Sie gaben den Volksmassen Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lebensumstände und auf die Einlösung ihrer demokratischen Rechte. Die baldigen Gegenoffensiven zeigen jedoch, dass die Freiheitsbestrebungen erneut an die engen Grenzen von Kolonialinteressen stoßen.


Ende 2010 war es noch unvorstellbar, dass die sozialen Proteste in Tunesien, die am 18. Dezember nach der Selbstverbrennung eines jungen Mannes ausgebrochen waren, den gesamten Arabischen Raum in Bewegung setzen würden. Die Entwicklungen überraschten nicht nur den Westen und seine staatlichen und außerstaatlichen Nachrichtendienste, sondern auch selbst die optimistischsten unter den arabischen Oppositionen. Die Geschwindigkeit, mit der zwei der schlimmsten Diktatoren gestürzt wurden, und die Tatsache, dass dies durch Volksaufstände gelungen war, wirkte inspirierend und löste in der ganzen Region ähnliche Bewegungen aus. In Jemen, Bahrain, Jordanien, Saudi Arabien, Algerien, Libyen und schließlich Syrien brachen ähnliche Proteste aus, die sich gegen den autokratischen Charakter des Staates richteten und für politische und wirtschaftliche Reformen eintraten.

Es ist jedoch eine Ironie der Geschichte, dass diese Dynamik gerade in Libyen und gerade von Mouammar Ghaddafi gestoppt wurde, der in seiner Zeit als Revolutionär solche Volksaufstände gegen die Tyrannen nicht nur prophezeit, sondern auch zu ihnen aufgerufen hatte. Sein Festhalten an der Macht wandelte den friedlichen Charakter der libyschen Bewegung in einen blutigen Bürgerkrieg um. Dies stoppte die gesamte Dynamik und überschattete die Repression in anderen Ländern, bis die tatsächliche Konterrevolution begann.


Die arabischen Diktaturen, All Different, All Equal

Ein unbemerkter Aspekt der jüngsten Volksaufstände ist die Tatsache, dass sie den Begriff "Arabischer Raum" wieder ans Tageslicht brachten, nachdem dieser nur im Zusammenhang mit der Anerkennung des Staates Israel in der Region erwähnt wurde. Es war nicht nur eine neu entstandene panarabische Bewegung, sondern auch die westlichen Medien selbst, die vom Arabischen Raum statt, wie davor üblich, von "Nahost und Nordafrika" sprachen. Dieser Reflex des Westens wird dem Charakter der Bewegung gerecht und erklärt auch, warum der imperialistische Westen die Bewegung um jeden Preis stoppen oder wenigstens unter Kontrolle bringen will: Er will eben keinen Arabischen Raum, sondern Marionettenregime in den Staaten von "Nahost und Nordafrika".

Das Instrument der Konterrevolution bot sich auch aus dieser Ecke an: die Arabische Liga. Ein Fossil, das seinen panarabischen Charakter sowie seine politische Bedeutung längst verloren hat und nur aktuell wird, um einer westlichen Intervention eine arabische Maske zu verleihen oder um eine weitere Kapitulation der Palästinenser zu erzwingen.

Trotz der kulturellen Vielfältigkeit und den von Land zu Land unterschiedlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situationen in den arabischen Staaten haben die Bewegungen zahlreiche Gemeinsamkeiten. Erstens richten sich die Aufstände gegen sehr ähnliche autokratische Regime. Obwohl die koloniale Teilung und die unterschiedlichen Unabhängigkeitsgeschichten postkoloniale Staaten mit unterschiedlichen Charakteren und politischen Ausrichtungen ergaben, führte das Scheitern des modernen Staates in einer verblüffenden Weise zu absolutistischen Regimen. Diese beruhen auf traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhängen, die im arabischen Raum ähnlich sind. Darin unterschied sich ein "revolutionäres" Baath (Irak, Syrien) oder das libysche Dschamahiriyya-Regime nicht vom reaktionären Regime der Sauds.

Obwohl die koloniale Teilung und die unterschiedlichen Unabhängigkeitsgeschichten postkoloniale Staaten mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen ergaben, führte das Scheitern des modernen Staates in einer verblüffenden Weise zu ähnlichen absolutistischen Regimen.

Ein weiterer gemeinsamer Nenner dieser Regime ist ihre Langlebigkeit. Bis auf wenige Ausnahmen blieb der arabische Staat angesichts der weltweiten Umwälzungen stabil. Die herrschenden Könige und Präsidenten sind die langjährigsten Regenten der Welt. Mubarak regierte seit 1981, Ben Ali seit 1987, Ali Saleh seit 1978 und Ghaddafi seit 1969. Die königlichen Familien regieren ebenfalls seit der "Unabhängigkeit".

Wenn auch kulturell die Ähnlichkeit immer gegeben war, so ergaben sich in der neoliberalen Marktwirtschaft und globalisierten (und islamisierten) Kultur sowohl in den einst sozialistischen Staaten (Ägypten, Syrien, Algerien, Libyen, Sudan) als auch in den prowestlichen Staaten (Golfstaaten, Jemen, Tunesien, Marokko, Jordanien) sehr ähnlich Phänomene.

Die Repression zerlegte erfolgreich die organisierte politische Opposition und die Zivilgesellschaft, die aus nunmehr vom Westen finanzierten NGOs oder islamischen Sozialeinrichtungen besteht.

Die Erdöleinnahmen ermöglichten eine gewisse Ausschüttung und somit eine gewisse soziale Stabilität. Die Angst vor Revolten in der Nähe der Erdölquellen zwang die Golfregime früh genug zu einer Rentenwirtschaft und den massiven Rückgriff auf ausländische Arbeitskräfte, die keine sozialen, geschweige denn politische Ansprüche stellen. Auch in Staaten ohne Erdöl sorgten Überweisungen von Gastarbeitern aus den reichen Ölländern für Stabilität. Die Repression war nur mit einer bestimmten sozialen Sicherheit möglich und erduldet. Der politische Islam diente zur Bekämpfung von sozialistischen und demokratischen Elementen und seine extremen Exzesse konnten noch nach Afghanistan exportiert werden.

Wenn 1991 und das Ende der Sowjetunion den offiziellen Beginn der neoliberalen Globalisierung darstellt, so bedeutet dieses Jahr eine andere Art Wende für den Arabischen Raum. Die Folgen des Kuwait-Krieges lösten in allen arabischen Ländern soziale Krisen aus, von der nicht einmal Saudi-Arabien verschont blieb. Massive Privatisierungen, Streichung von Sozialsystemen, Liberalisierung des Arbeitsmarkts und vollkommene Abschaffung der Planwirtschaft waren die Folge. Dies war von einer neuen Repressionswelle begleitet, die der islamischen Bewegung galt. Während die Repression der islamischen Opposition den antagonistischen Charakter austreiben konnte, liquidierten sich die Reste der Linke selbst, indem sie sich mit dem Staat gegen die Islamisten verbündeten.

Während sich die Wirtschaft allmählich verschlechterte, verschwand der soziale Protest von den Straßen. Die Mobilisierungsthemen der Massen blieben Palästina und der Protest gegen die zunehmende US-Intervention in die Region, die mit einem bedeutenden Verlust der nationalen Souveränität verbunden war. Das Elend ließ sich in Form von Immigration in den reichen Westen exportieren.

Die weitgehende Domestizierung der Opposition und das Entfallen eines Alternativprogramms ermutigte die Regime zu weiteren Einschränkungen der demokratischen Rechte und des Sozialwesens. In den "Republiken" begannen langjährige Präsidenten ernsthaft mit der Vorbereitung auf die Vererbung der Macht an ihre Söhne. Die Liberalisierungspolitik zerlegte die letzten Posten staatlicher Industrie, privatisierte Rohstoffressourcen, baute Sozialsysteme ab und sorgte für eine Wiederherstellung kolonialer Verhältnisse. Eine wirtschaftliche Ausnahme bildete das Regime im Irak, das durch eine direkte westliche Invasion gestürzt wurde. Irdische Konflikte wurden durch die Islamisierung der Politik in den Himmel verschoben, bevor die Repression auch die islamischen Kräfte zu bescheidener Politik zwang.

Da sich der Konsens der Bewegungen gegen die Spitze des Regimes richtete, war sein Ende durch deren Abgang vorprogrammiert.

Am Ende des Jahrzehnts stand das arabische Regime politisch so pleite wie nie zuvor da. Es war jedoch stabil, weil seine Opposition ebenso pleite war. Die Korruption und die mafiöse Struktur der Herrschaft hemmte schlussendlich die kapitalistische Entwicklung der Länder und der Kreis der herrschenden Oligarchie wurde dadurch enger. Mit anderen Worten: die Oligarchie verlor allmählich die Unterstützung der ihr nahe stehenden sozialen Schichten. Es stellte sich langsam ein nationaler Konsens ein, dass die Regime auszuwechseln seien.

Diese Entwicklung erklärt zwar nicht den Ausbruch und die Mechanismen des Massenaufstandes. Jedoch ist klar, dass sich im Moment, in dem die Mauer der Abschreckung und Angst durchbrochen wurde, alle Schichten gegen das Regime stellten.

Da sich der Konsens gegen die Spitze des Regimes richtete, war sein Ende durch deren Abgang vorprogrammiert. Es gelten die Klassiker der Klassenanalyse. Das Gemeinsame an diesen Regimen ist eben ihre Hartnäckigkeit und zugleich ihre Quecksilbrigkeit. Somit ist ein Saudi-Staat in der Lage, gleichzeitig die Opposition im Land und im benachbarten Bahrain und Jemen zu unterdrücken und die Demokratie in Libyen und vielleicht auch Syrien zu unterstützen. Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten tritt das alte Regime als der Vertreter der Revolution und der Beschützer ihrer Forderungen auf und auf diesem Wege verbietet es weitere Protestaktionen und Streiks, die "dem alten Regime dienen". Dafür bietet sich auch ein Teil der Opposition an, der seine Ziele des Aufstandes schon erreicht zu haben glaubt.


Regime ergreift Initiative

Die Verlängerung des libyschen Konfliktes bot sowohl dem Westen als auch den bedrängten arabischen Regimen die Möglichkeit, die Initiative wieder zu ergreifen. Sie stellte den Konsens zwischen den in Nervosität geratenen Regenten und dem pragmatischen Westen, der bei den Bewegungen in Tunesien und Ägypten noch auf Schadensbegrenzung ausgerichtet war, wieder her. Libyen bot dem Westen eine Angriffsfläche, insofern als dort eine Unterstützung der demokratischen Bewegung leistbar war, ohne die eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen zu gefährden. Das wiederum bot den arabischen Nachbarn regional den nötigen Lärm, um die Unterdrückung der eigenen Oppositionen zu übertönen und international die Möglichkeit, ebenfalls als Beschützer der Demokratie aufzutreten. Während die Medien einen Tunnelblick auf Libyen richteten, wurden die Bewegungen in Jordanien, Bahrain, Saudi Arabien, Oman und Algerien niedergeschlagen oder sie wandelten sich selbst (siehe die Moslemischen Brüder) in Solidaritätsbewegungen mit Libyen um.

Libyen bot dem Westen eine Angriffsfläche, insofern als dort eine Unterstützung der demokratischen Bewegung leistbar war, ohne die eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen zu gefährden.

Auch in Tunesien und Ägypten begann die Gegenbewegung. In beiden Ländern stellt sich das Regime selbst als der Träger der von den Aufständen geforderten Reformen dar, wobei einerseits die Bürokratie und andererseits die Uneinigkeit der Bewegung tiefgreifende Reformen verunmöglichen. Staatliche Gremien sollen die Verfassungen reformieren, zu denen nur "Auserwählte" eingeladen werden. Bis zu den Wahlen sollen Regierungen das Tagesgeschäft führen, die vom alten Regime gebildet wurden. Moderate Kräfte der Opposition konnten durch Teilnahme an Verfassungskomitees und Übergangsregierungen neutralisiert werden und dabei helfen, die tragenden Kräfte des Aufstands zu marginalisieren. Forderungen nach einer konstituierenden Versammlung für eine neue Verfassung wurden in beiden Ländern vom Regime beinhart ignoriert. Weitere Proteste konnten im Namen von "Ruhe und Ordnung" und mit Zustimmung der moderaten Teile der Opposition niedergeschlagen werden.

Egal wie der libysche Konflikt ausgeht, der Westen hat die Initiative in der Region wieder erlangt. Es wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der bald Syrien als letztes "antiimperialistisches" Regime ins Fadenkreuz bringen wird.


Stunde der säkularen Opposition?

Einen weiteren panarabischen Aspekt hat die Bewegung: Sie entstand wider Erwarten nicht aus der Moschee und warf keine religiösen Fragen auf. Im Gegenteil: die konfessionelle Karte wurde von Regimen ausgespielt, die sich bis dahin als Verteidiger des Säkularismus dargestellt hatten. Obwohl die islamische Bewegung als langjährige Trägerin des Widerstands gegen das Regime die politische Debatte in den Kulturkampf zu verschieben vermochte, waren die Forderungen der Massen nach Brot und Freiheit sehr irdisch. Der Zusammenhalt der arabischen Völker hatte diesmal einen nationalen und keinen religiösen Charakter. Die Massen zeigten ein spontanes Klassenbewusstsein und stellten soziale und keine kulturellen Forderungen. Es waren schlussendlich auch die Arbeiterstreiks, die etwa das ägyptische Regime zwangen, Mubarak zu entfernen.

Das ist einer der Gründe, warum sich die Moslemischen Brüder, bis dahin die größte oppositionelle Bewegung in mehreren Ländern, dem Regime als stabilisierende Kraft anboten. Während sie sich in Jordanien oder den Golfstaaten eher zurückhalten bzw. in Bahrain das Regime eher unterstützen, verhalten sie sich offensiv gegenüber ehemaligen sozialistischen Regimen (Libyen, Syrien), was auch der Westen tut. Der politische Islam nimmt daher wieder seine alte reaktionäre Haltung ein. Das kann jedoch von kurzer Dauer sein. Es ist noch sehr fraglich, wie weit das arabische Regime bereit ist, die Macht mit den Moslemischen Brüdern zu teilen.

Es ist zu früh zu behaupten, dass eine neue säkulare panarabische Linke im Entstehen sei. Vielmehr sind Jahrzehnte von Repression und Anhäufungen von Niederlagen sowie eine weitgehende NGOfizierung der Linken zu erwarten. Es ist im Moment jedoch wieder möglich, auf der Basis "irdischer" Ideen Politik zu machen. Trotz Konterrevolution öffnete die Bewegung ein Freiheitsfenster, das gute Anfangsvoraussetzungen für neue progressive Kräfte schafft. Die kommende Zeit wird zeigen, ob Linke und panarabistische Kräfte in der Lage sind, die günstige Situation zu nützen, oder ob das Wasser dem Verdurstenden zu spät gekommen ist.

Raute

SCHWERPUNKT: VOLKSAUFSTÄNDE IM ARABISCHEN RAUM

Ein weiterer Riss in der Mauer

Arabische Revolte erschüttert US-Architektur

Von Wilhelm Langthaler

Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten haben jahrzehntelang herrschende Diktatoren fast mit Leichtigkeit weggeschwemmt, so ausgehöhlt war ihr Fundament bereits gewesen. Doch die Regime sind in der Substanz erhalten geblieben, wenn auch schwer erschüttert. Der Kampf um Veränderung ist damit erst eröffnet. Welche Fallstricke es gibt, sieht man indes in Libyen. Dort machte man den Bock zum Gärtner.


Drôle de révolution?

Eigenartige Revolutionen, bei denen Millionenmassen ein paar Wochen friedlich auf die Straße gegen und den Tyrannen damit in die Knie zwingen. Wo es keine konsolidierte(n) politische(n) Führung(en) gibt. Wo verwestlichte Mittelschicht-Facebook-Freaks eine milliardenschwere prowestliche Oligarchie das Fürchten lehren.

So oder ähnlich will unsere Medienmaschine die arabische Revolution lesen. Auch Teile der Akteure selbst gefallen sich in dieser Rolle oder glauben wirklich, das Rad der Politik neu erfunden zu haben.

Erfahrenen Medienkritikern kann man wiederum die Skepsis nicht verdenken. Wie kann es sein, dass noch vor kurzem verhätschelte und hochgelobte Präsidenten so schnell in Ungnade fallen, so dass Sarkozy seinen alten Freund Ben Ali auf einmal nicht mehr kennen will und er nicht nach Frankreich ins Exil darf, sondern nach Saudiarabien muss. Handelt es sich etwa doch um eine farbige Revolution nach osteuropäischem Vorbild? Zeigen nicht die libyschen Ereignisse den logischen Entwicklungsgang an? Revolutionen, die den Imperialismus anbetteln, das eigene Land anzugreifen?


Tiefe Erschütterung

Um Antworten auf die aufgeworfenen Fragen geben zu können, muss man sich den globalen und historischen Kontext vergegenwärtigen. Das ägyptische Modell (stellvertretend für alle anderen) war in mehrfacher Hinsicht völlig verbraucht:

Gegen den Willen der übergroßen Mehrheit kooperierte die Elite vollständig mit dem westlichen Imperialismus. Das Regime unterstützte alle Kriege der USA, verbündete sich mit Israel und half in empörender Weise bei den Verbrechen gegen die Bevölkerung Gazas. Die Reduzierung der arabisch-islamischen Führungsmacht auf einen Wurmfortsatz der Neokolonialherren musste als außerordentliche nationale Demütigung empfunden werden.

Kairo setzte die von Washington diktierten neoliberalen Rezepte ohne Widerrede um. Vor dem Hintergrund lobenswert guter Wirtschaftsindikatoren versank die Mehrheit der Bevölkerung in entsetzlichem Elend. Die Hälfte der Ägypter muss mit unter einem Dollar pro Tag ihr Auslangen finden. Die Mittelschicht sackte ab, während die Oligarchie sich ohne Scham die Taschen vollstopfte. Die Öffnung der Märkte zerstörte die Eigenversorgung mit Lebensmitteln. Die Schwankungen der Weltmarktpreise schlugen damit unmittelbar und ungedämpft durch, da auch die Preisstützungen radikal gekürzt wurden.

Macht und Reichtum konzentrierte sich in einer dem Volk durch nichts verpflichteten Oligarchie, die mittels eines grausamen und willkürlichen Polizeistaates herrschte. Symbol dafür war der bereits drei Jahrzehnte währende Ausnahmezustand, der damit zur Regel wurde.

Weder das Volk noch die Oligarchie konnten so weitermachen wie bisher. Schließlich war es der tunesische Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Vier Jahrzehnte wurde die historische Opposition aufgerieben. Da nimmt es nicht Wunder, wenn die Revolte keine wohl organisierte politische Führung aufweist, sondern Facebook-Revolutionäre scheinbar die erste Geige spielen können.

Praktisch vier Jahrzehnte, zwei Generationen lang, hatte sich die historische Opposition aufgerieben, war in den Gefängnissen verschwunden, gefoltert, marginalisiert worden. Da nimmt es nicht Wunder, wenn die Revolte keine wohl organisierte politische Führung aufweist, sondern Facebook-Revolutionäre scheinbar die erste Geige spielen können. Bei näherem Hinsehen wird man erkennen, dass dieses plausibel wirkende Bild nicht ganz stimmt. Man kann für Ägypten grob folgende politische Strömungen in der Bewegung ausmachen:

a) In Form von Kifaya-Bewegung ("Kifaya" arab. für "Genug") hatten die Reste der Linken die letzten Jahre in erster Reihe und mit großen Opfern ihre Stimme gegen das Regime erhoben und den Boden für die Revolte bereitet. Dieses Milieu war und ist tonangebend, selbst wenn es zu schwach ist, die Bewegung zu kontrollieren.

b) Eine linksliberale, gebildete, verwestlichte Mittelstandsjugend, repräsentiert von Wael Ghonim, dem gehypten Google-Manager.

c) Die traditionelle, bürgerliche und liberale Opposition, die mit dem Regime kooperierte, aber angesichts der veränderten Rahmenbedingungen die Massenbewegung nutzen will. Mohammed el-Baradei versucht, sich als einer ihrer Führer aufzuschwingen.

d) Die Muslimbrüder, die stärkste und am besten organisierte Kraft der Opposition. Sie war unter Mubarak mehr schlecht als recht geduldet, wurde aber vom Regime gegenüber der Linken als kleineres Übel angesehen.

e) Eine Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die bisher durch die Repression am Vorstoßen ins politische Feld gehindert worden war und so nur über lose Anknüpfungspunkte mit der Linken verfügt.

Die bisherigen Ereignisse sind nur die erste Eruption einer viel größeren Krise. Kaum eine der Forderungen der Massen wurden bisher erfüllt. Die sozialen Probleme sind allgegenwärtig. Doch der Bleideckel der Diktatur wurde weggesprengt.

In diesem Szenario kann man die bisherigen Ereignisse nur als erste Eruption einer viel größeren Krise betrachten. Kaum eine der Forderungen der in Bewegung gekommenen Massen wurden bisher erfüllt, nicht einmal alle politischen Gefangenen befreit. Die sozialen Probleme sind allgegenwärtig und harren dringen einer Lösung. Doch was sich tatsächlich geändert hat, ist, dass der Bleideckel der Diktatur weggesprengt wurde, dass man es nun wagen kann, auf die Straße zu gehen, seine Interessen zu artikulieren. Die gesellschaftlichen Widersprüche liegen endlich blank. Nichts kann die Funken mehr hindern, sie zu entzünden, selbst wenn es Anhänger des Modells der farbigen Revolutionen gegeben haben mag. Sie können den sich entfaltenden Konflikt zwischen den verarmten Massen und der proimperialistischen, kapitalistischen Oligarchie nicht aufhalten. Wir stehen in der arabischen Welt am Beginn einer tiefgreifenden und langen Veränderung als Teil eines globalen Prozesses mit heftigen und auch bewaffneten Konflikten, Bürgerkriegen und imperialistischen Interventionen. Sein Ausgang ist ungewiss, doch eines ist sicher: Das System Mubarak ohne Mubarak ist nicht zu halten. Es bedurfte des Potentaten, ohne ihn funktioniert das System nicht.


Manifestation der Krise des globalen Herrschaftssystems

Wir haben die Etappen der Krise der Hegemonie des Westens und seines Zentrums, der USA, Schritt für Schritt kommentiert,(1) von der goldenen Periode Clintons über die neokonservative Hybris der Omnipotenz bis hin zum Kollaps des permanenten Krieges im Irak. Damit verquickt sind der kometenhafte Aufstieg Chinas im Rahmen der kapitalistischen Globalisierung und die Weltwirtschaftskrise, deren grundlegende Ursachen noch keineswegs überwunden(2) sind. Obama kommt nun die unrühmliche Aufgabe der Schadensbegrenzung zu, zu retten was noch von der Weltherrschaft zu retten ist, Hegemonie zurückzugewinnen.

Der kartenhausartige Zerfall der US-Architektur in Nahost, dem neuralgischen Zentrum des Weltsystems, muss als Zeichen der Schwäche gedeutet werden. Vom "Greater Middle East" kann keine Rede mehr sein. Statt eingedämmt worden zu sein, wächst der Einfluss des regionalen Hauptfeindes Iran, der sich auf die eine oder andere Weise mit Widerstandsbewegungen von unten verbunden hat. Der NATO-Staat Türkei schert zunehmend aus. Und nun stürzt auch noch der Kern der proamerikanischen Despotie in Arabien, der moderne Pharao am Nil. Auch wenn das Regime noch nicht entfernt wurde, wird es doch gezwungen sein, die Wünsche der Massen stärker zu reflektieren. Die extrem proimperialistischen Positionen - symbolisiert durch die Abschottung des Gaza-Streifens - werden eher früher als später gedämpft werden müssen. Eine türkische Entwicklung kann dabei für die USA noch als günstigste Variante angesehen werden. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn die Umbrüche auch den Öl-Golf erreichen, was nicht ausgeschlossen ist. Selbst wenn das nicht eintritt, könnten die Golf-Diktaturen doch stärker isoliert und ihr Einfluss zurückgedrängt werden.

Es ist klar, dass die Schwächung des Systems auch mit der Sackgasse der neoliberalen Rezepte und der wirtschaftlichen Probleme des westlichen Zentrums zu tun hat.

Die Umbrüche in der arabischen Welt treiben die Tendenz zum Multipolarismus, die wir zumindest seit dem Scheitern des Irak-Abenteuers zu beobachten ist, weiter an.


Zauberwort Demokratie

Obamas Politik zielt nun darauf ab, den demokratischen Anspruch, mit dem die "Neue Weltordnung" von Bush senior begründet wurde, wieder glaubhaft zu machen. In diesem Sinn stellte es sich für Washington als unmöglich dar, sich frontal gegen die Massenbewegungen zu stellen, zumal diese den Westen fast vor geschaffene Tatsachen stellten. Man trat den geordneten Rückzug an und versuchte, möglichst viel vom alten Regime zu erhalten, Kontinuität zu wahren. Dies erscheint auch deswegen als machbar, weil die Bewegungen keine radikalen und wohl artikulierten Führungen haben. Man rechnet sich aus, dass sie beherrschbar, domestizierbar bleiben. Bahrain, Oman und die anderen Verbündeten am Golf hält man an, möglichst liberale Reformen zu unternehmen. Die ungeschminkt reaktionäre Konterrevolution kann unter den heutigen Bedingungen vom Westen nicht offen unterstützt werden. Das würde den Einflussverlust der USA und des Westens nur beschleunigen.

Die Umarmung der arabischen Bewegung durch die europäischen Medien darf man nur bedingt ernst nehmen. Im selbstgefälligen Abfeiern der westlichen Werte, der Demokratie, übersieht man geflissentlich, dass es die eigenen Diktaturen waren, an denen da gerüttelt wird.

Es ist abzusehen, dass der Westen und seine Regimemedien jene Kräfte, die für "regime change" kämpfen, mit Gift überschütten wird, während die "wahre Demokratie" die Interessen der kapitalistischen Eliten nicht einschränken darf.


Libysches Geschenk

Szenenwechsel: Die Führung der libyschen Revolte von Bengasi bittet den Westen um eine Militärintervention. Nach 150 Jahren (Neo)kolonialismus bedürfen die Araber eben dieser Neokolonialisten, um sich einen Despoten vom Hals zu schaffen. Etwas Besseres konnte dem Westen gar nicht zustoßen, zumal man sich gerade eben noch als Freund der Potentaten diskreditiert hatte. Man ist geneigt anzunehmen, dass da entsprechend kräftig nachgeholfen wurde.

Auch an den libyschen Ereignissen kann man ablesen, wie wirkungsvoll das westliche Ideologem von der Demokratie ist. Imperialistische Interessen sind am besten verkaufbar, wenn sie getarnt als Demokratie, Menschenrechte, Humanitarismus etc. auftreten. Der Verlust dieses ideologischen Instruments, wie es unter Bush junior passierte, kann durch militärische Macht nicht ausgeglichen oder wettgemacht werden.

Vergegenwärtigt man sich die Unterstützer der Intervention in der arabischen Welt, dann finden sich neben den üblichen Verdächtigen, wie die westliche Exilopposition, ein paar Neoliberale sowie Monarchisten, vor allem die Muslimbrüder und der über verschiedene Fäden mit ihnen verbundene katarischen Sender al-Jazira. Was noch vor nicht allzu langer Zeit als große Gefahr gehandelt wurde, erweist sich nun unverhofft als wertvolle Stütze. In Ägypten selbst beteiligten sich die Muslimbrüder erst an der Bewegung, als sie nicht mehr aufzuhalten war. Die Signale sind vernehmbar, dass sie bereit wären, das alt-neue Regime zu unterstützen, natürlich zu Bedingungen, aber dennoch um einen bezahlbaren und akzeptablen Preis. Es geht letztlich darum, die noch größere Gefahr von links, das heißt von unten, von den armen Klassen, hintanzuhalten. Dazu sind ausschließlich die Muslimbrüder in der Lage. Ob ihr Angebot angenommen wird, lässt sich indes noch nicht absehen.

Wir stehen in der arabischen Welt am Beginn einer tiefgreifenden und langen Veränderung als Teil eines globalen Prozesses mit heftigen und auch bewaffneten Konflikten.

In Libyen selbst ist es die politische Unterentwicklung, die Inexistenz einer linken Opposition, die eine solche Degeneration eines Volksaufstandes möglich macht. Die mit Sicherheit vorhandene antiimperialistische Stimmung vermag sich keinen adäquaten politischen Ausdruck zu verleihen. Die prowestliche Exilopposition konnte die Revolte praktisch im Handstreich zu übernehmen. Das darf gleichzeitig als Maß dafür genommen werden, welches politische Desaster der Revolutions- und Business-Clown Muammar Ghaddafi angerichtet hat.

Indes macht die westliche Intervention einen kopf- und richtungslosen Eindruck. Die Bombardements aus der Luft können Ghaddafi vermutlich nicht zum Aufgeben bewegen. Genauso wenig werden das die Rebellen ihrer Majestät in Bengasi tun. Monate des Konflikts oder gar des Bürgerkriegs stehen bevor, während der Westen nur zu sehr hohen Kosten eingreifen wird können. Langfristig tendieren Militäraktionen jedenfalls dazu, Widerstand hervorzurufen, selbst wenn sie in einem ersten Moment der Benommenheit mit einem guten Schuss medialer Inszenierung willkommen geheißen wurden.

Was in Libyen passiert, mag nur ein kleiner Vorgeschmack davon sein, was sich in Syrien ereignen könnte, denn Damaskus ist das einzige Regime der arabischen Welt, das noch gewisse antiimperialistische Momente aufweist. Doch der legitime Protest des Volkes wird kommen und die Assads kräftig durchrütteln. Im Gegensatz zu Ägypten kann man als sicher annehmen, dass der Westen dem Damaszener Despoten nicht zur Hilfe eilen, sondern im Gegenteil versuchen wird, die Bewegung oder zumindest einen Teil ihrer zu instrumentalisieren. Hoffen wir, dass sie auch einen antiimperialistischen Flügel herausbildet - wozu die historischen Vorbedingungen in Syrien jedenfalls viel günstiger sind als in Libyen.


Islamische Welle am Ende?

Was in den arabischen Revolutionen auffällt, ist die Funkstille von islamischer Seite. So sorgfällig baute man sich sein Feindbild auf. Wo ist der Lieblingsfeind geblieben? Al-Qaida? Wie kann das interpretiert werden?

Das salafitische Milieu neben den Muslimbrüdern lehnt die demokratische Volksbewegung mehrheitlich ab und tendiert dazu, Mubarak und seine Nachfolger zu unterstützen. Bei jenen in der Nähe zu Saudiarabien - und das sind in unterschiedlichen Abstufungen nicht wenige - wundert das nicht weiter. Sie sind zu offenen Feinden der Massen geworden. Diejenigen, die sich für den bewaffneten Kampf gegen die Regime entschieden - Ägypten ist in einem gewissen Sinn eine Wiege der Bewegung -, bleiben verdammt still und damit impotent. Sie können weder das eine noch das andere gutheißen.

Der militante Salafismus (im Westen läuft das gemeinhin unter den Namen al-Qaida) kann als fortgesetzter Widerstand gegen die proimperialistischen Regime unter den Bedingungen der extremen Schwäche und der Passivität der Massen interpretiert werden. Ideologisches Sektierertum verbindet sich mit abenteuerlichem Militarismus.

Einzig in Afghanistan erwies sich dieses Rezept als massentauglich. Im Gegensatz dazu führte das Sektierertum des militanten Salafismus ihn im Rahmen des irakischen Widerstands - ebenfalls einer Volksbewegung - in sein schlimmstes Fiasko(3) überhaupt.

Nun aber treten abermals die Massen auf die Bühne der Geschichte, inspiriert von demokratischen Rechten und angetrieben von einer überlebenden, wenn auch marginalisierten Linken. Und sie erzielen Teilerfolge, die sich niemand hätte träumen lassen. Das spornt die Massen zu weiterem Handeln an, während es die klandestinen, verschwörerischen und sektiererischen Konzepte der militanten Salafiten auf einen Schlag marginalisiert.

Einzig die Muslimbrüder, die den Massen näher sind, vermögen darauf zu reagieren und sich in die Bewegung einzugliedern. Doch die unweigerliche Politisierung ihrer Basis betrachten sie mit Argwohn. Wochenlang verbrachten ihre Anhänger die Tage und Nächte auf dem Tahrir-Platz, kämpften und diskutierten gemeinsam mit der Linken. Die kulturelle Absonderung, die Geschlechtertrennung, der Ausschluss der Kopten, die autoritäre Führungsstruktur, das soziale Kastenwesen (bei den Muslimbrüdern haben Ingenieure, Ärzte, Professoren usw. das alleinige Sagen), alles das wird der islamisch geprägten, kämpfenden Jugend zu denken geben. So tendieren die Muslimbrüder zum Kompromiss mit dem Regime. Wenn die Generäle nicht ideologisch verblendet sind, werden sie das islamische Angebot zu ihrer Rettung annehmen. Die Kooperation beim Verfassungsreferendum vom 19. März 2011, als Regime und Muslimbrüder die Bewegung mit einigen kosmetischen Änderungen an der Verfassung stoppen wollen, legt davon Zeugnis ab.

Damit soll nicht gesagt werden, dass die islamische Bewegung am Ende sei, aber sie hat die Führung des Widerstands nun abgegeben. Ob dies dauerhaft oder vorübergehend ist, hängt von den Erfolgen der Bewegung auch über Ägypten hinaus ab. Die moderaten, angepassten Salafiten von Schlag der Muslimbrüder muss man als wichtigste Bremse der Bewegung im Volk selbst verstehen. Revolutionäre Politik besteht heute darin, den Widerspruch in ihrem Inneren zu vertiefen, ihre Anhänger in den armen Klassen, die nach demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit streben, einzubinden, und von der elitären Führung, die mit dem Regime kooperiert, zu trennen. Ansätze dieser Differenzierung gab es bereits vor der Revolte, die diese massiv vertiefen wird. Die schweren Bataillone der Armut in den Elendsvierteln von Kairo und anderen Zentren bleiben jedenfalls fest islamisch. Sie zu mobilisieren ist für eine wirkliche Revolution unerlässlich.


Verfassungsgebende Versammlung

Der radikale Flügel der revolutionären Bewegungen, insbesondere in Tunesien, aber auch in Ägypten, hat sich eine zentrale Forderung auf die Fahne geschrieben: die konstituierende Nationalversammlung. Denn sie wollen das angestrebte Selbstrecycling der alten Regime nicht akzeptieren. Die Militärs, die ihre Diktatoren im letzten Moment fallen ließen, sprechen gerne von Reformen und einer neuen Verfassung. Sie sind bestrebt, die Massen damit zu täuschen und so viel als möglich beim Alten zu belassen.

Das war auch der Sinn des eilig abgehaltenen, aber von den sensationsgeilen Medien wenig beachteten Verfassungsreferendums in Ägypten. Man ließ über kleinere, ja kosmetische Änderungen abstimmen, die man billig als Schritt zur Demokratie feiern konnte. Die Machthaber wollen es am liebsten damit schon wieder bewenden lassen. Ein kluger Schachzug, denn wer kann sich gegen demokratische Reformen wenden, seien es auch noch so kleine Reförmchen? Nur die Linke und die Christen. Denn diesen ist aus verständlichen Gründen der Islam als Staatsreligion, wie von Sadat festgeschrieben, ein Dorn im Auge.

Wie man am ägyptischen Beispiel sieht, bedeutet eine neue Verfassung recht wenig. Viel wichtiger ist, wer sie erstellt und wie sie erstellt wird. Die verfassungsgebende Versammlung legt sich vorab auf keine Inhalte fest, kann also alle Kräfte vereinigen, die sich Demokratie im weitesten Sinne, in den verschiedensten möglichen Interpretationen wünschen. Die meisten islamisch inspirierten Menschen, ja auch Teile der Islamisten, können die Forderung unterstützen. Die wichtigste islamische Kraft in Tunesien, die Ennahda, tut das auch. Entscheidend wichtig ist indes der politische Prozess bis dahin. Die Massen können und müssen möglichst involviert und die Diskussionen breit geführt werden. Die Wahlen zur Versammlung müssen organisiert und kontrolliert werden, so dass Fälschungen und Manipulationen durch das alte Regime und die Oligarchie hintangehalten werden. Die Bewegung für die Konstituante kann so tendenziell die Beschränkung auf formal-demokratische Rituale aufheben, wie sie sich die alte Elite wünscht. Doch diese hat selbst vor der formalen Demokratie Angst und wird alles tun, um das Volk aus dem verfassungsgebenden Prozess auszuschließen.

Selbst für Libyen ist die Forderung entscheidend, um sich einerseits gegen die Autokratie Ghaddafis und andererseits gegen die prowestlichen Usurpatoren von Bengasi durchzusetzen.

Dabei handelt es sich um kein kurzfristiges Ziel, sondern man muss von einem jahrelangen Kampf ausgehen. Und das ist gut so, denn die Bewegung steht politisch völlig am Anfang, die alten Aktivisten müssen die bleiernen Jahre der Unterdrückung verdauen, die neuen müssen Erfahrungen sammeln. Ohne konsolidierte politische Führung kann der Oligarchie, welche die ganze Macht des Imperialismus im Rücken hat, niemals die Stirn geboten werden.

Noch ein wichtiger Aspekt kommt hinzu. Der gänzlich friedliche Charakter der Bewegung war unter den gegebenen Bedingungen eine Notwendigkeit, reflektiert aber gleichzeitig eine enorme Schwäche. Man ist dem guten Willen der Armee ausgeliefert. Wirkliche Revolutionen bedürfen der Bewaffnung, des Aufstands des Volkes. Teile der Armee können dann eventuell auf die Seite der Revolutionäre gezogen werden. Dazu ist es noch zu früh, aber die Notwendigkeit kann früher eintreffen als die Möglichkeit, siehe Libyen.


Und Europa?

Bisher hat die eingeschlafene antagonistische Opposition sich auch von den Ereignissen in der arabischen Welt nicht erwecken lassen. Die Krise der Linken in Europa ist historisch, strukturell, die antagonistischen Kräfte so marginalisiert, dass sie von dem Schwung nicht zu profitieren vermögen. Wenn der Boden ausgelaugt ist, kann auch die beste Saat nicht gedeihen. Selbst der Einbruch der Wirtschaftskrise hat vorläufig noch wenig bewegt.

Die arabischen Bewegungen, die zu den Mühen des zähen Widerstands zurückkehren werden, müssen sich konsolidieren, die Wirtschaftskrise wiederholt und noch härter zuschlagen. Erst dann wird die Brücke zwischen der arabischen Revolution und der europäischen Opposition geschlagen werden können.

Nüchtern betrachtet befinden wir uns immer noch in der Periode eines vielfältigen und fragmentierten Widerstands gegen die von den USA monopolar geführte kapitalistische Weltordnung. Es bleibt grundlegend ein defensiver Kampf, doch die herrschende Oligarchie befindet sich vor allem Dank dieses globalen Widerstands in einer immer tieferen Krise.


Literatur

(1) Siehe www.intifada.at, zuletzt: Peolple's Power versus Islamofaschismus?, Der Kampf in Teheran spitzt sich zu. In: Intifada 30, www.intifada.at/node/611
Aufziehender Sturm. Rettet China den Kapitalismus? Intifada 30, www.intifada.at/node/610

(2) QE2: Feuer am Dach. Globalisierung am Ende? www.antiimperialista.org/de/node/6670

(3) Halbe-halbe. Über Obamas Abzug aus dem Irak, der keiner ist, und halbe Niederlagen. Intifada 32, www.intifada.at/node/646

Raute

ARABISCHER RAUM

Eine Ahnung von Freiheit

Ein Nachruf auf Juliano Mer-Khamis

Von Bjarne Köller

Der Mord am palästinensischen Regisseur Juliano Mer-Khamis hinterlässt eine Lücke. Was bleibt ist die Hoffnung, dass die Saat seiner Arbeit aufgegangen ist.


Am Montag den 4. April 2011 wurde Juliano Mer-Khamis, der Leiter des örtlichen Kindertheaters, im Flüchtlingslager von Jenin auf offener Straße von einem maskierten Täter erschossen. Die Hintergründe der Tat liegen noch im Dunkeln. Fest steht jedoch, dass der Mord an Juliano einen herben Verlust bedeutet, nicht nur für die Kinder im Lager, sondern auch für den palästinensischen Befreiungskampf im Allgemeinen.

Juliano wurde 1958 in Nazareth als Sohn einer jüdischen Mutter und eines arabischen Vaters geboren. Beide waren Anfangs in der Israelischen Kommunistischen Partei aktiv, verließen diese jedoch, als die Partei sich weigerte, die Forderung der palästinensischen Befreiungsbewegung nach einem demokratischen säkularen Staat in ganz Palästina zu unterstützen. Während der ersten Intifada betreibt die Mutter, Arna Mer, im Flüchtlingslager von Jenin ein Kindertheater, mit dem sie auf ihre Weise einen wertvollen Beitrag zum Aufstand der Palästinenser liefert. Auch Juliano, der zu dieser Zeit als Schauspieler tätig ist, arbeitet bei dem Theater mit. Seine Parteinahme für die Palästinenser hatte ihm zuvor bereits eine unehrenhafte Entlassung aus der israelischen Armee und eineinhalb Jahre Gefängnis eingebracht. Das Filmmaterial, das er von der Arbeit im Theater aufnimmt, wird er später in dem Film "Arnas Kinder" verarbeiten, für den er 2002, während der zweiten Intifada, in das Lager zurückkehrt und die ehemaligen Protagonisten des Kindertheaters wieder aufsucht, aus denen mittlerweile Kämpfer gegen die Besatzung geworden sind. Das Erscheinen von "Arnas Kinder" ruft eine Welle von internationaler Unterstützung hervor, die eine Wiederaufnahme des Theaterprojekts in Jenin ermöglicht. 2006 eröffnet Mer-Khamis gemeinsam mit den aus Schweden stammenden israelischen Aktivisten Jonatan Stanczak und Dror Feiler das Projekt Freedom Theatre Jenin. Als Schirmherr des Theaters fungiert Zakaria Zubaide, der einst selbst eines von "Arnas Kindern" gewesen war und während der zweiten Intifada zum Anführer der Al-Aqsa-Brigaden in Jenin wurde.

Seine Parteinahme für die Palästinenser hatte Mer-Khamis eine unehrqenhafte Entlassung aus der israelischen Armee und eineinhalb Jahre Gefängnis eingebracht.

Durch seine israelische Herkunft und seine Persönlichkeit war Juliano sehr erfolgreich darin, internationale Unterstützung für sein Theaterprojekt zu gewinnen und auch Israel ließ ihn weitgehend gewähren. Dies führte jedoch gleichzeitig dazu, dass seine Arbeit oft propagandistisch benutzt und vereinnahmt wurde. So beklagte er sich bereits 2006 in einem Interview:

"Meine Arbeit wird als Feigenblatt benutzt, um im Ausland zu demonstrieren wie demokratisch Israel ist. Andere kulturelle Einrichtungen in der Westbank werden zerstört. Nur unser Theater rührt man nicht an, weil dort Juden arbeiten."(1)

Während Juliano in Israel selbst wahlweise als Verräter beschimpft oder stillschweigend boykottiert wurde, wurde er der Weltöffentlichkeit als das gute Gesicht Israels präsentiert, als "der gute Jude, der sich für die Araber einsetzt"(1), wie er selbst einmal kritisch anmerkte.

Doch auch abseits dieser plumpen Instrumentalisierung wurde und wird seine Arbeit in der öffentlichen Darstellung gern in einen falschen Zusammenhang gestellt. Dabei ist es entlarvend, mit welcher Selbstverständlichkeit vorgeblich liberale Medien rund um die Welt Julianos Wirken nicht in den Kontext eines politischen Konfliktes stellen, sondern mit kaum verhülltem Rassismus von einem Kampf zwischen zwei Völkern ausgehen. Mit dem abstrakten Begriff des Friedensaktivisten belegt, wird er regelmäßig als Mittler zwischen den Welten beschrieben, der sich für das gegenseitige Verständnis zwischen Israelis und Palästinensern einsetzte - als ob der Nahostkonflikt nicht auf der Realität der Besatzung, sondern bloß auf einem großen Missverständnis beruhe. Das Freiheitstheater wird in diesem Narrativ zum Friedenstheater wenn nicht gar zum Befriedungstheater umgedeutet, zu einem Ort, wo den Jugendlichen eine Alternative zum Widerstand gegen die Besatzung geboten werden soll. Auch (und vor allem) jetzt, da er sich gegen diese Zuschreibungen nicht mehr wehren kann, dominiert in den Nachrufen die dieser Tage erscheinen die Erzählung von Juliano als dem großen Brückenbauer, dem Märtyrer, der sich für die Versöhnung einsetzte und deshalb - so der kulturkriegerische Nachsatz - sterben musste, da der Hass auf palästinensischer Seite einfach zu groß gewesen sei.

Juliano selbst hat diese Sichtweisen immer entschieden zurückgewiesen:

"Manche Menschen versuchen das zu verschleiern, indem sie es als Problem zwischen zwei Völkern darstellen, aber das ist nicht der Fall. Es geht hier nicht um Dialog, Händchenhalten oder gemeinsam auf die Toilette gehen. Es ist ein politisches Problem einer Nation, die ein anderes Gebiet besetzt und ethnisch gesäubert hat."(2)

Seine Identität als jüdischer Palästinenser war für ihn kein Widerspruch und deshalb auch kein Anlass einen Mittelweg zwischen Zionismus und palästinensischer Selbstbestimmung zu suchen. Vielmehr verstand er sie als Auftrag, sich klar "auf die Seite der Gerechtigkeit"(3) zu stellen, wie er es ausdrückte, was für ihn ganz selbstverständlich den Bruch mit dem Konzept eines exklusiv jüdischen Staates bedeutete, an dessen Stelle er ein friedliches Zusammenleben von Juden und Palästinensern setzen wollte.

"Der palästinensische Befreiungskampf ist meiner. [...] Ihr Kampf ist unser Kampf als Israelis. Wir haben eine gemeinsame Zukunft. Als jüdischer Israeli ist der Zionismus mein Feind ebenso wie ihrer."(3)

Dem entsprechend sah er auch die Arbeit am Theater nicht als Alternative zum Widerstand gegen die Besatzung sondern als einen integralen Bestandteil davon:

"Durch die Bühnenarbeit werden die Kinder gestärkt, sie werden selbstbewusster und sie lernen. Wir hoffen, dass diese Kinder die Kraft haben werden, die israelische Besatzung zu bekämpfen."(3)

Während er den bewaffneten Kampf ablehnte, erwies sich sein politischer Ansatz oft als radikaler denn der vieler Palästinenser. Nicht nur weil er sich als überzeugter Antizionist gegen die Zweistaatenlösung aussprach. Auch weil er verstand, dass der Widerstand auf allen Ebenen stattfinden müsse, dass die Besatzung sich nicht nur in Soldaten und Checkpoints manifestiert, sondern auch tiefe Spuren in der Verfasstheit und der inneren Struktur eines Volkes hinterlässt:

"Wir erleben die Entwicklung einer Ghettomentalität, das Aufkommen von Xenophobie, die Rückkehr zur Tradition, weil die Sozialstruktur zerstört wurde, die Rückkehr zu Stammesbeziehungen. Israel hat uns erfolgreich um hundert Jahre zurückgeworfen."(2)

Der Wiederaufbau der kulturellen Struktur des Volkes war daher für ihn von entscheidender Bedeutung. Das Ziel der Freiheit dürfe nicht in eine ferne Zukunft nach dem Sieg des Befreiungskampfes verschoben werden, sondern müsse bereits jetzt - so weit es die Umstände eben erlauben - umgesetzt werden, damit dieser Kampf überhaupt erfolgreich sein könne. Nur indem Macht- und Gewaltstrukturen - ob diese nun auf Geschlecht, Alter, Religion oder Politik basieren - zurückgedrängt werden, könne wieder jene Ahnung von Freiheit entstehen, die sich letztlich auch gegen die Besatzung zu behaupten vermag.

Während Juliano in Israel selbst wahlweise als Verräter beschimpft oder boykottiert wurde, wurde er der Weltöffentlichkeit als das gute Gesicht Israels präsentiert, als "der gute Jude, der sich für die Araber einsetzt".

Dass dieser kulturelle Wiederaufbau angesichts der von ihm beschriebenen wachsenden "Ghettomentalität" einen Wettlauf gegen die Zeit bedeutete war Juliano nur allzu gut bewusst. Doch obwohl er Morddrohungen erhielt und Brandanschläge auf das Theater verübt wurden, war er dennoch der festen Überzeugung, dass sich das Risiko lohne. Denn bei der Mehrheit der Bevölkerung stieß er auf große Zustimmung, was sich auch deutlich bei der Wiedereröffnung des Theaters 2006 zeigte, die von sämtlichen Fraktionen des palästinensischen Widerstandes in Jenin begrüßt wurde.

Sollte die Ermordung Julianos tatsächlich vor dem ideologischen Hintergrund einer vermeintlichen Verteidigung der Tradition stattgefunden habe wie nun gemutmaßt wird, wäre das ein erschreckendes Anzeichen für den Grad der Zerstörung, der durch die Besatzung angerichtet wurde. Hingegen zeigt die große Anteilnahme, die der Tod des Regisseurs in Jenin ausgelöst hat, dass diese Zerstörungen nicht irreversibel sind, und die Bemühungen um einen Wiederaufbau der kulturellen Struktur, der die Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen die Besatzung darstellt, durchaus Früchte tragen können.


Literatur

(1) http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/_nr-1341/i.html
(2) http://www.intifada.at/node/612
(3) http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-299/_nr-390/i.html

Raute

ARABISCHER RAUM

Zuverlässige Waffe des Regimes

Die Salafiten sind ein angenehmer und nützlicher Feind

Von Ali Nasser

Der Mord am italienischen Solidaritätsaktivisten und Journalisten Vittorio Arrgoni wirft neues Licht auf die Entfremdung des Salafismus und die Leichtigkeit seiner Instrumentalisierung gegen jede Befreiungsbewegung im islamischen Raum.


Wenn auch extremer Ausdruck des politischen Islam, kennzeichnet sich der Salafismus durch sein niedriges politisches Profil. Salafiten richten sich streng nach dem Wortlaut des Koran und der Überlieferungen des Propheten, seiner Mitgefährten und der nachfolgenden islamischen Gelehrten. Dieser abstrakte Islam reduziert ihren Anspruch auf "die Einführung der Strafgesetze aus der Scharia und die äußerliche Anpassung der Gesellschaft an die Lehren der Religion. "Moderne" Anliegen wie Freiheit, Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit usw. sind für sie fremd und importiertes Gedankengut. Dadurch unterscheiden sie sich von den Moslemischen Brüdern, die pragmatisch genug sind, um mit modernen Begriffen zurechtzukommen und auch zu "irdischen" politischen Programmen fähig sind.


Saudi-Arabien, das Mutterschiff

Die traditionelle Strömung des Salafismus verbietet auch das Auflehnen gegen die Machthaber und sieht Gehorsam gegenüber dem "moslemischen" Staat als Pflicht. Diese Strömung ist z.B. die Stütze des Saudi-Regimes auf der arabischen Halbinsel. Das Regime selbst ist aus einer Allianz zwischen der Saud-Familie und den salafitischen (wahabitischen) Verbänden entstanden.

Die zweite, jihadistische Strömung des Salafismus war eine Reaktion auf die Dekadenz der Saud-Familie. Ihr Bruch mit dem traditionellen Salafismus besteht darin, den Gehorsam gegenüber dem "ungläubigen" Staat aufzukündigen und ihm den Kampf anzusagen. Verstärkt wurde diese Strömung durch ihren Export nach Afghanistan in den 1980ern. Die Rückkehrer aus Afghanistan bildeten den Kern des salafitischen Jihads, dessen berühmtester Auswuchs die Qaida darstellt. Sie betrachten ebenfalls irdische Gesetzgebungen als Blasphemie, sind jedoch jedem Staat feind. Extremere Exzesse dieser Strömung betrachten die gesamte Gesellschaft als "ungläubig" und sehen sich im Krieg gegen sie, auch wenn diese aus Moslems besteht.

Beide Strömungen sind sich in ihrer Feindschaft gegenüber den säkularen Kräften, aber auch den Schiiten und Sufisten einig. Dies macht sie im regionalen Kontext zum guten Partner im Kampf gegen Widerstandsbewegungen und gegen den Iran, also gegen jede Bedrohung des Saudi-Reich. Andererseits stehen sie als Hürde vor jeder liberalen Reform in Saudi-Arabien. Als Staatsraison bedeutet diese anti-schiitische Haltung eine Kluft zwischen dem Staat und der schiitischen Mehrheitsbevölkerung im erdölreichen Osten Saudi-Arabiens. Daher liegt es im Interesse der Sauds, die radikalen Exzesse des Salafismus aus dem Königreich wegzuexportieren oder wenigstens gegen ein "ungläubiges" Land zu richten.


Instrument gegen die Massenbewegung

Die Salafiten hielten sich während der Massenbewegung eher zurück. Die Jihadisten blieben ganz ruhig und die Traditionellen verurteilten den Ungehorsam und betrachteten Demonstrationen als unzulässig und religionsfremd. Gesteuert vom verängstigten Saudi-Regime positionierten sich während der Aufstände in Tunesien und Ägypten die salafitischen Fatwas gegen die Demonstrationen. In Saudi-Arabien selbst verhalfen religiöse Verbände den Sicherheitskräften bei der Niederknüppelung von Demonstrationen, wie etwa bei der Unterdrückung der Proteste vom 11. März.

Anders verhielten sich die Moslemischen Brüder, die sich nach anfänglicher Zurückhaltung von der Bewegung tragen ließen.

Nach dem Sieg der Bewegung in Ägypten wurden die Salafiten jedoch aktiv und kamen mit den absurdesten Forderungen wie etwa der Trennung der Geschlechter im öffentlichen Raum, der Zerstörung der "heidnischen" pharaonischen Bauten oder der sofortigen Einführung der Scharía und der Bestrafung der Christen an die Öffentlichkeit. Obwohl ihre Ansichten die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen verbieten (Volkswille ist Gotteswille untergeordnet), nahmen sie in Ägypten an der Volksabstimmung auf Seite des Regimes und der Moslemischen Brüder teil.

Ihre losen Strukturen ermöglichten jeden möglichen Exzess, da sich danach die bekannten Salafiten davon distanzieren können. Das ermöglicht auch anderen Spielern (etwa Geheimdienste), politische Morde und Terrorakte als Aktionen von Salafiten darzustellen.


Libyen, Bahrain und die saudische Gegenoffensive

Saudi-Arabien tat alles, um die Regime von Ben-Ali und Mubarak an der Macht zu halten. Mit dem Aufstand von Bahrain veränderte sich der Charakter der saudischen Gegenoffensive und wandelte sich in einen konfessionellen Krieg der Sunniten gegen die Schiiten. Auch hier lieferten die Salafiten die ideologische Komponente. Später lieferten die Moslemischen Brüder (die sonstwo die demokratische Bewegung befürworten) eine wertvollere Unterstützung der Unterdrückung in Bahrain und seiner Konfessionalisierung als jene der Salafiten.

Mit dem Aufstand in Libyen und seinem Ausarten in einen bewaffneten Konflikt gewann der Westen (und Saudi Arabien) wieder die Oberhand. So konnte sich Saudi-Arabien als Unterstützer der Demokratie darstellen, bevor seine Truppen in Bahrain einmarschierten.

Somit haben die Saudis gezeigt, dass sie nach wie vor der regionale Spieler sind. Sie kaufen die Liberalen ein, bewegen die Salafiten, lenken die Jihadisten, steuern die Moslemischen Brüder und marschieren notfalls auch in Nachbarländer ein. So riskant das Auskommen dieser Abenteuer ist, bleibt für die Saudis (und für den Westen) alles andere weniger gefährlich als eine wahre Demokratie im Arabischen Raum.


Der angenehmere Feind; Beispiel Jordanien

Auch dort, wo anders als in Saudi Arabien die Salafiten keine Befürworter des Regimes sind, bleiben sie für das Regime aufgrund ihrer politischen Primitivität der angenehmere Feind. Regime, die an der Macht sind, weil sie der Westen gegen "Islamisten" unterstützt, brauchen eben "böse Islamisten" und keine moderate Islamisten wie die Moslemischen Brüder, die sich ebenfalls mit dem Westen arrangieren würden. Die Brüder sind daher im Gegensatz zu den Salafiten eine Konkurrenz. Daher scheut sich z.B. das jordanische Regime, die demokratischen Kräfte hart niederzuschlagen, während Mobilisierungen des jihadistischen Salafiten toleriert werden und innerhalb einer Woche 240 salafitische Gefangene freigelassen wurden. In Jordanien existiert neben der traditionellen salafitischen Strömung eine jihadistische, die ihre Sympathie zu Al-Qaida nicht verbirgt. Diese bietet dem Regime jeden Vorwand zur Repression an und ist daher sehr willkommen. Das Bombenattentat der Salafiten im März 2011 auf die Zentrale der Moslemischen Brüder in Amman kann in diesem Kontext verstanden werden.

In mehreren Städten Jordaniens waren die Salafiten in der Lage, Tausende zu Massenprotesten gegen das Regime auf die Straßen zu bringen. Als das Gegengewicht zu den moderaten Molemischen Brüdern gebildet wurde, verwendete das Regime am 15. April 2011 die selbe Technik (Polizei und als Gegendemonstranten getarnte Schläger), die sie bei der Unterdrückung der Proteste der Linken und der Moslemischen Brüder verwendet hatte. Danach fand eine Massenverhaftung unter den Salafiten statt. Das Regime, das die Opposition mehrfach zu infiltrieren glaubt, sieht sich dauerhaft in der Lage, Gewaltausbrüche der Jihadisten unter Kontrolle zu halten. Es sieht die Opposition lieber aus Jihadisten als aus demokratischen Kräften gebildet. Dies, obwohl der Radikalismus der demokratischen Kräfte gerade mal zur Forderung nach Wiederherstellung der Verfassung von 1952 reicht, die eine konstitutionelle Monarchie anstatt absoluter Macht des Königs beinhaltet.


Surrealismus in Gaza

Obwohl die islamische Bewegung bisher der Träger des antiimperialistischen Widerstands gegen den Westen und seine Regime war, stößt sie durch Repression und ihren Unwillen, die bestehende Gesellschaftsordnung zu verändern, an ihre Grenzen. Das war auch der Grund, warum die Demokratiebewegung diesmal nicht aus den Moscheen herauskam, sondern aus den Gewerkschaften und den säkularen Kräften entstand.

Auch in Palästina stößt das islamische Widerstandsprojekt an seine Grenze. Auch wenn Hamas die tragende Kraft des Widerstands ist, ist sie nicht in der Lage, die gesellschaftliche Konzeption der Moslemischen Brüder zu verlassen und einen Volkskonsens zu bilden. Auf Ebene der palästinensischen Politik ist Hamas nicht in der Lage, die Logik der PLO hinter sich zu lassen und einen totalen Bruch mit den Kollaborateuren in Ramallah zu erreichen. Vielmehr ist Hamas auf nationale Versöhnung und Dialog ausgerichtet, was früher das Leitmotiv (und Untergrund) der Linken war. Diese nationale Versöhnung findet aufgrund der destruktiven Haltung der Behörde von Ramallah nicht statt, die auf die Erlaubnis von Israel wartet. Die Schritte zur Deeskalation von Seiten der Hamas haben keine Annäherung an die PNA gebracht, vielmehr erscheinen sie wie ein einseitiger Waffenstillstand. Dadurch war Hamas trotz Wahlsieg und trotz der Kontrolle über den befreiten Gazastreifen nicht in der Lage, eine politische Alternative zur gescheiterten Zweistaatenlösung zu bilden.

In diesem politischen Stillstand wird die Luft für Hamas allmählich dünner. Bemüht sie sich um nationalen Konsens und hält sich kulturell/ideologisch zurück, läuft ihr der harte Kern zu den radikaleren und nicht mittellosen Salafiten über. Betreibt sie die Islamisierungspolitik intensiver, verschärft sich der Konflikt mit den anderen politischen Kräften, mit denen im Moment ein politischer Konsens nötig wäre.

Die salafitischen Strömungen sind sich in ihrer Feindschaft gegenüber den säkularen Kräften, den Schiiten und Sufisten einig. Dies macht sie im regionalen Kontext zum guten Partner im Kampf gegen Widerstandsbewegungen und gegen den Iran.

Die Salafiten, die einst die Verbündeten von Hamas gegen die Kollaborationsbehörde der PNA waren (die Gefangennahme des israelischen Soldaten war eine gemeinsame Aktion), wurden nach der Machtübernahme von Hamas zu einer ernsthaften Bedrohung. Hamas ließ für eine bestimmte Zeit zu, dass salafitische Verbände gegen liberale Lebensweisen in Gaza agierten. Da wurden Hochzeiten angegriffen, Internetcafés verbrannt und Frauen bedroht. Einige konservative Gesetze wurden auch von der Hamas-Regierung verabschiedet.

2009 rief eine der salafitischen Gruppen einseitig ein islamisches Emirat in Gaza aus, was mit einer rigorosen Reaktion seitens der Hamas-Regierung beantwortet wurde. Mehrere Anführer der Jihadisten befinden sich im Gefängnis.

Die Entführung und Ermordung von Vittorio Arrigoni wirft Licht auf die komplizierten Verhältnisse in Gaza. Die Entführer töteten Arrigoni Stunden vor dem Ablauf ihres Ultimatums. Es ist unklar, ob sie dies aus Angst vor der Befreiung der Geisel durch die Hamas-Polizei taten, oder ob Arrigonis Ermordung vom Anfang an das Ziel der Aktion war. Die wichtigsten salafitischen Gruppen distanzierten sich von der Aktion. Es ist noch offen, wer tatsächlich hinter dem Mord an Arrigoni steckt. Der einzige Gewinner aus dieser Aktion ist Israel. Der Tod des Solidaritätsaktivisten Arrigoni ist nicht nur ein Verlust für die Palästinenser, sondern auch Sand im Getriebe jeder weiteren Solidaritätsflotte nach Gaza. Sind die Entführer eine kleine salafitische Gruppe, die unabhängig agierte, so deutet die Aktion auf die sich anbahnende Gefahr von hirnlosen Splittergruppen hin, die in jede Richtung schießen und nur Schaden verursachen. Bis jetzt haben salafitische Gruppen in Palästina nichts Richtiges gemacht. Sie werden sogar der islamischen Bewegung zur Last.


Reserven des Imperialismus?

Der Imperialismus hat gezeigt, dass es über mehrere bewusste und unbewusste Verteidigungslinien seiner Herrschaft in der arabischen Region verfügt. Versagen die Kompradoren-Regime, so bleibt die Bewegung in der Zwickmühle der Liberalen und der Moslemischen Brüder. Beide wollen das Abhängigkeitssystem unverändert lassen, wobei die Masse zwischen einer islamischen und einer liberalen kapitalistischen Herrschaft wählen dürfte. Verlieren die Kompradoren-Regime die Kontrolle oder werden sie gegenüber dem Westen souveräner, so sind die Irregeführten der Qaida und ähnlichen salafitischen Gruppen da, um dafür zu sorgen, dass im Chaos die Karten neu gemischt werden. Bis zur totalen Befreiung der Arabischen Region haben progressive Kräfte noch einen sehr langen Weg vor sich.

Raute

ARABISCHER RAUM

"Die palästinensische Einheit ist das Wichtigste"

Maryam Abu Dagga im Gespräch

Dr. Maryam Abu Dagga ist eine PFLP-Aktivistin aus dem Gazastreifen. Vom israelischen Staat mit 15 Jahren ins Gefängnis geworfen, wurde sie bis nach Bulgarien ins Exil getrieben, wo sie ihr Medizinstudium abschloss. Später gelang ihr die Rückkehr nach Gaza. Ihre derzeitige Arbeit konzentriert sich auf palästinensische weibliche Gefangene. Die Intifada interviewte sie während ihrer Beteiligung am 9. Internationalen Symposium gegen Isolation in Wien am 4.-5. Dezember 2010.


intifada: Welche Eindrücke haben Sie von der europäischen Solidaritätsbewegung?

Maryam Abu Dagga: Die Menschen in Europa haben sich verändert, ihre Meinung zu Palästina hat sich positiv gewandelt. Früher war die israelische Propaganda überwältigend, die Realität wurde der westlichen Öffentlichkeit vorenthalten. Doch im letzten Krieg und im Angriff auf die Mavi Marmara(1) offenbarten der Imperialismus und der Zionismus ihr wahres Gesicht und das hilft meinem Volk.

intifada: Wie sind die Beziehungen der PFLP zur Fatah und Hamas?

Maryam Abu Dagga: Ich schlage der Führung der Hamas und Fatah die Erfahrung der palästinensischen Gefangenen als Beispiel vor und sage ihnen auf Demonstrationen und Konferenzen, dass wir palästinensische Revolutionäre sind, die gegen Israel kämpfen und unser Leben für Palästina geben und nicht für eine Partei. Die Einheit ist es, was für das palästinensische Volk notwendig ist. Wenn wir Palästina endlich befreit haben, können wir diskutieren, wie wichtig welche Partei für die Regierung ist, doch jetzt ist das ganze Volk besetzt und wir brauchen die Einheit aller gegen Israel als einzigen Feind. Der Zwist zwischen Parteien nützt nur Israel, niemals dem palästinensischen Volk.

Wir brauchen die Einheit aller gegen Israel als einzigen Feind. Der Zwist zwischen Parteien nützt nur Israel, niemals dem palästinensischen Volk.

intifada: Denken Sie, dass es möglich ist, die Fatah zurück in das Lager des Widerstandes zu holen?

Maryam Abu Dagga: Der Punkt ist nicht Fatah oder Hamas. Unsere Partei kämpft dafür, neue Richtlinien festzulegen, sodass jede Partei proportional vertreten ist. Dann kann keine Partei oder Bewegung die ganze Regierung kontrollieren und sich wie ein Diktator verhalten, denn wenn die Macht in der Hand einer einzigen Partei liegt, wird sie sich verändern und autoritär werden.

intifada: Ihr habt eure PLO-Mitgliedschaft ausgesetzt, weil die Verhandlungen nicht länger demokratisch legitimiert waren...

Maryam Abu Dagga: Unsere Partei ist mit Verhandlungen mit Israel nicht einverstanden, weil sie uns nirgendwohin führen - wir haben mit Israel geredet und nichts dafür erhalten, gleichzeitig raubt Israel weiterhin unser Land und baut Siedlungen. Das ist die erste Krise. Die zweite Krise betrifft Hamas: Sie spricht vom Widerstand, in der Praxis haben sie ihn aber eingestellt. Sie sind gegenüber Israel sehr still geworden, sie wollen einen Waffenstillstand, was ebenfalls gefährlich ist. Wir glauben, ohne Widerstand werden wir nichts erreichen, erst recht nicht, wenn wir gegeneinander kämpfen. Wir könnten ein Grundsatzprogramm des Widerstandes haben, ein nationales Programm, das den Parteien trotz ihrer Unterschiede zusagt. Die Verhandlungen müssen indes aufhören, denn es bringt unserem Volk nichts, Israel wird uns nichts geben. Israel ist eine Besatzungsmacht und das internationale Recht spricht uns das Recht auf einen Befreiungskampf zu. Warum sollen wir aufhören?

intifada: Denken Sie, dass die PLO reformiert werden kann?

Maryam Abu Dagga: Wir müssen versuchen, sie zu reformieren, denn in der PLO ist unser Platz, das ist unsere Geschichte. Sie ist nicht Eigentum der Fatah. Also arbeiten wir mit anderen, um die PLO wie früher als Plattform für alle palästinensischen Organisationen zu öffnen. Die PLO ist nicht vom Himmel gefallen, sie hat viele Opfer, viele Tote gekostet, und sie ist die Geschichte und das Zuhause des palästinensischen Volkes.

intifada: Wie sehen Sie die zukünftigen Entwicklungen? Wird es einen neuen Krieg geben? Provoziert Israel eine dritte Intifada?

Maryam Abu Dagga: Israel bereitet sich seit längerem auf einen neuen Krieg gegen Gaza vor, seine Propaganda arbeitet ebenfalls in diese Richtung. Wir haben nichts: keine Flugzeuge, keine Armee, keine Panzer. Israel auf der andern Seite versucht, so viele Palästinenser wie möglich zu ermorden. Doch wir haben nichts, womit wir uns verteidigen können.

Unser Volk ist seit dem letzten Krieg ohne Arbeit, Gesundheitsversorgung, sogar ohne Häuser, weil Israel den Wiederaufbau nicht erlaubt und kein Baumaterial nach Gaza lässt. Das ist unsere Tragödie und die ganze Welt ist taub. Darum ist es eure Pflicht als Internationalisten, darüber zu sprechen, das faschistische Gesicht Israels zu entblößen und zu versuchen, einen zweiten Krieg gegen unser Volk zu verhindern.

Im Augenblick sind wir mit einem nationalen Programm einverstanden, das den Palästinensern in den '67-Gebieten Selbstbestimmung garantiert. Unser strategisches Ziel ist jedoch ein demokratischer Staat für alle Menschen.

intifada: Also ist Ihr Aufruf an die Menschen in Europa, über die Besatzung aufzuklären und die Boykott-Bewegung zu unterstützen?

Maryam Abu Dagga: Das wäre gut, ist aber noch nicht genug. Wir brauchen viele Gruppen, die immer und immer wieder die Wahrheit erklären und der Öffentlichkeit die wahre Geschichte Palästinas vermitteln. Amerika und Europa haben ihre Türen geschlossen, nur Palästina hieß jüdische Siedler Willkommen. Doch sie begannen ihr kolonialistisches Projekt, töteten unser Volk und nahmen das ganze Land für sich selbst. Wir haben sie zu Beginn aufgenommen. Wir Palästinenser sind keine Antisemiten, die arabische Welt war toleranter als Europa und Amerika. Auch heute sind wir nicht gegen Juden oder irgendjemanden sonst. Wir sind gegen den Zionismus, die Speerspitze des Imperialismus. Wären die Juden in Palästina keine Zionisten, würden sie einem palästinensischen demokratischen Staat mit einer demokratischen Regierung zustimmen, sodass alle Menschen mit gleichen Rechten miteinander leben könnten, ohne religiöse, geschlechtsspezifische oder ethnische Diskriminierung. Doch die Israelis sind Zionisten, sie wollen die Palästinenser auslöschen und das ganze Land für sich.

intifada: Die Einstaaten-Lösung war immer eine Position der PFLP. Mit welcher Strategie wollt ihr sie erreichen?

Maryam Abu Dagga: Wir haben das Recht auf ganz Palästina. Doch im Augenblick sind wir mit einem nationalen Programm einverstanden, das den Palästinensern in den '67-Gebieten Selbstbestimmung garantiert. Ganz Palästina ist unsere historische Heimat, doch auf dieser Grundlage wollen wir mit allen palästinensischen Kräften die Einheit erreichen. Wir erklären uns damit einverstanden, doch als einen ersten Schritt. Unser strategisches Ziel ist ein demokratischer Staat für alle Menschen.


Anmerkung

1) Die Mavi Marmara ist das türkische Schiff der Gaza Freedom-Flotilla, das am 31. Mai 2010 von der israelischen Armee angegriffen wurde. Dabei wurden neun türkische Aktivisten getötet.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Das Emblem der PFLP sympolisiert den Anspruch der Palästinenser/innen auf ganz Palästina.
- Der Generalsekretär de PFLP Abu Ali Mustafa wurde 2001 von den Israelis ermordet.

Raute

ARABISCHER RAUM

Palästina, 1936

Eine Analyse von historischer Gültigkeit

Von Gabriel Péri
Übersetzung aus dem Französischen: Frigga Karl

Am 26. Mai 1936, vor genau 75 Jahren, veröffentlichte der französische Journalist Gabriel Péri in "L'Humanité", der Tageszeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs, eine erkenntnisreiche, aufrichtige und klare Analyse über Palästina. Wir veröffentlichen im Folgenden einige Auszüge.


Die Revolte in Palästina

Seit mehr als einem Monat - um das Datum ab dem 15. April zu nennen - ist Palästina im Zustand der offenen Revolte. Demonstrationen und blutige Auseinandersetzungen vervielfachen sich. In den letzten Tagen haben 36 Personen unter der arabischen, der jüdischen Bevölkerung und der englischen Besatzungseinheit den Tod gefunden. Panzer und mit Waffen voll beladene Fahrzeuge wurden zur Verstärkung nach Palästina verschickt.

Die Ereignisse verdienen Aufmerksamkeit und es ist unserer Meinung nach notwendig, die falschen Auslegungen, die auftauchen können, zu korrigieren. Manche behaupten gern, dass die Unruhen in Palästina nur das Resultat der hitlerischen Propaganda und der mussolinischen Intrigen seien. Gestatten Sie uns, dass wir dieser Beurteilung nicht folgen.

Dass der hitlerische und mussolinische Faschismus alles zu unternehmen, um die Ereignisse des internationalen Lebens für ihre Zwecke zu nutzen, wird niemand bezweifeln. Aber diese Auslegungen sind irreführend, wenn man die palästinensische Bewegung auf korrekte Weise einschätzen will.

Die Araber haben sich 1929 erhoben, in einer Zeit, in der Hitler nicht an der Macht war, und es gab zwischen England und Italien keine Rivalität. Der palästinensische Aufstand hängt mit der allgemeinen Revolte, die die ganze arabische Welt, von Ägypten bis Syrien und Palästina erschüttert, zusammen.

Ist dieser Aufstand gerechtfertigt? Wir glauben, dass er vollkommen gerechtfertigt ist. Wir fügen hinzu, dass man sich, nach unserer Meinung, schwer irrt, wenn man diese Ereignisse als antisemitische Bewegung deutet. Der Antisemitismus ist uns zutiefst widerwärtig. Aber es sind nicht die Juden an sich, gegen die sich die Araber auflehnen, sondern eine Form von Ausnützung, die der britische Imperialismus geplant hat und durchführt.

Ist dieser Aufstand gerechtfertigt? Wir glauben, dass er vollkommen gerechtfertigt ist. Man irrt sich schwer, wenn man diese Ereignisse als antisemitische Bewegung deutet.

Grundsätzlich wird unter dem Vorwand der Errichtung einer nationalen jüdischen Heimat in Palästina eine echte Plünderung der Araber organisiert. Das große zionistische Unternehmen Keren Hayessod(1) hat sich auf diese Plünderung spezialisiert. Von dem Nichtvorhandensein von Eigentumsdokumenten bei den Bauern und Beduinen profitierend, setzt sich das Unternehmen mit einem arabischen Feudalscheich zusammen, um sich so Land anzueignen. Danach informiert das Unternehmen die Bauern, dass sie das Land verlassen müssen, das ihre Vorfahren seit Jahrhunderten bebauten. Wenn sich die Bauern weigern, holt das Unternehmen Unterstützung von der britischen Armee.

Noch besser, eine anderer Organisation, die Histadruth(2), organisiert eine richtige Jagd auf arabische Arbeiter. Jedes Jahr zum Fest der Orangenernte organisieren zionistische Überfallstruppen richtige Strafexpeditionen auf Baustellen und Fabriken, von wo die palästinensischen Arbeiter schonungslos vertrieben Werden. So sehen wir, wie der Zionismus Pogrome im Countdown organisiert. Die Methoden, die wir aufzeigen, sind genau dieselben, die Nazideutschland gegen die Juden anwendet.

Wie kann sich die arabische Bevölkerungunter diesen Umständen nicht mit festem Entschluss empören? Die Führer dieses Aufstandes haben hundertmal ausdrücklich erklärt, dass es sich hier nicht um Antisemitismus handelt. Sie wollen gegen den britischen Imperialismus kämpfen und gegen seinen Alliierten, den Zionismus. Sie verlangen die Einstellung der jüdischen Immigration, die 1914 von 80.000 auf 450.000 im Jahr 1935 angestiegen ist. Da gibt es keinen einzigen antijüdischen Aufruf; was man auch darüber sagen will.

Wir verteidigen die Rechte der von Nazideutschland verfolgten Juden in vollem Respekt des Asylrechts und im Namen der internationalen Solidarität gegen den Faschismus und nicht in Komplizenschaft mit einem suspekten Unternehmen von Plünderung.

Die arabische Bevölkerung verlangt außerdem ein Verbot des Verkaufs von arabischem Boden. Sie befürworten die Bildung einer nationalen Regierung.

Diese Forderungen sind gerecht. Sie drücken den Willen eines Volkes aus, das die erstickende Vorherrschaft abschütteln will.

Die Rechte der von den faschistischen Diktaturen verfolgten jüdischen Arbeiter sind nicht jene der Enteigner der großen zionistischen Agenturen und ihrer Stosstruppen. Es sind die gleichen Rechte der Unterdrückten aller Hautfarben, die sich nicht berauben lassen wollen.


Gabriel Péri war kommunistischer Politiker und Journalist, der von den Nazis am 15. Dezember 1941 erschossen wurde, nachdem er sich geweigert hatte, eine Erklärung zur Verurteilung "terroristischer Handlungen" zu unterzeichnen.


Anmerkungen

1) Keren Hayessod: wichtigste Finanzeinrichtung der jüdischen Agentur, die zwischen 1934 und 1938 von der Lloyds Bank einen Kredit von insgesamt 675.000 Pfund Sterling erhalten hat.

2) Histadruth: zionistische Gewerkschaftsorganisation

Der Artikel ist in http://www.europalestine.com/impression.php3?id_article=2137&n am 28.5.2006 erschienen

Raute

AKTIVISMUS

Adivasis trommeln gegen Globalisierung

Sumud auf Fact-Finding bei den indischen Ureinwohnern

Von Wilhelm Langthaler

Im Februar 2011 reiste eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten der antiimperialistischen Voluntärsvereinigung Sumud in jene Gebiete Indiens, in denen der Widerstand der Ureinwohner am stärksten ist.


Hinein in die befreiten Gebiete

Die Mission führte in die südöstlichen Gliedstaaten Chhattisgarh, Jharkhand, Andhra Pradesh und Westbengalen. Höhepunkt war ein Besuch in Dantewada im Süden Chhattisgarhs, das von den indigenen Rebellen kontrolliert wird. Das geschah auf Einladung der lokalen Organisation Tudum Debba (Adivasi Drum). Wir wurden dabei von Rechtsanwälten des Andhra Pradesh Civil Liberties Committee (APCLC) begleitet.

Im Jeep passieren wir die Grenze zwischen Andhra Pradesh und Chhattisgarh in den Distrikt Dantewada. Es ist einer der ärmsten der gesamten indischen Union, was leicht an den sozialen Indikatoren wie Analphabetenrate, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung usw. abgelesen werden kann. Aber es reicht schon das wache Auge des ortsunkundigen Besuchers. Zunehmend werden die Straßen schlechter, bis der Asphalt und dann schließlich die Schotterung verschwinden. Unsere Begleiter weisen uns auf ein zerstörtes Gebäude am Straßenrand hin. "Eine ehemalige Polizeistation, die von den Maoisten gesprengt wurde. Hiermit endet die Kontrolle des Staates."

Bereits zuvor waren uns am Straßenrand handschriftliche Flugblätter aufgefallen, die mit Holznägeln angeschlagen worden waren. Sie forderten ein Ende der Operation "Green Hunt", des Krieges des indischen Staates gegen seine Ureinwohner (Adivasi).


Widerstand - wogegen?

Der indische Premierminister Manmohan Singh bezeichnet den Aufstand als größte innere Bedrohung für den Staat. Ganz nach amerikanischem Vorbild fällt dieser unter Terrorismus und müsse selbstverständlich mit harter Hand bekämpft werden. Gerne spricht man über Linksextremismus und Maoismus, sehr selten hört man indes, dass es Adivasis sind, die diesen Aufstand führen und dass sie an bestimmten Orten die große Mehrheit der lokalen Urbevölkerung vereinigen. Es sind die Ärmsten der Armen, die da zu den Waffen greifen. Warum?

Den Adivasis kam der unterste Status in der Gesellschaft zu, gleich den Unberührbaren. Doch niemals gab es dagegen eine politische Bewegung und einen bewaffneten Aufstand des heutigen Ausmaßes.

Der Prozess der Zurückdrängung der Adivasis läuft bereits Jahrhunderte. Sie konnten sich nur in unzugänglichen und landwirtschaftlich schwer nutzbaren Gebieten halten und ihre teilweise archaische Lebensweise fortsetzen. Sie lebten von der Subsistenz in den Wäldern, zwar in materieller Armut aber unbehelligt - und konnten so Sprache und mitunter steinzeitlich anmutende Kultur erhalten. Ihr einziger Kontakt mit der Außenwelt waren Händler oft aus den eigenen Reihen, die gesammelte und gejagte Produkte des Waldes vermarkteten und im Gegenzug einfachste Waren des Alltags käuflich erwerbbar machten. Es handelte sich um schlimmste Ausbeutung. Den Adivasis kam der unterste Status in der Gesellschaft zu, gleich den Unberührbaren, den Dalits. Doch niemals gab es dagegen eine politische Bewegung und einen bewaffneten Aufstands des heutigen Ausmaßes. Zwei Faktoren erklären dies:

Erstens setzte man nach der Wende 1989/91 die neoliberalen Rezepte auch in Indien um. Die Globalisierung schlug zu. Nachdem der indische Südosten sehr reich an Rohstoffen ist, handelt es sich vor allem um Bergbauprojekte und Grundstoffindustrien in drei Bereichen: Gewinnung von Eisenerz und seine Verhüttung, Bauxitabbau und Aluminiumerzeugung, Kalkbergbau und seine Verarbeitung zu Zement. Indischen und internationalen Konzernen werden äußerst günstige Konditionen geboten. Die Auflagen hinsichtlich Umweltschutz sind lächerlich, notwendige Ressourcen wie Wasser können frei genutzt werden, wobei die Interessen der lokalen landwirtschaftliche Bevölkerung, für die Wasser in jeder Beziehung ausschlaggebend ist, straflos mit Füßen getreten werden. Arbeitskraft ist spottbillig. Die Adivasis, die keine Landwirtschaft treiben und auch über keine Besitztitel über ihr Land verfügen, wurden nicht einmal als Luft betrachtet. Erst ihr massiver Widerstand gegen die massenhafte Vertreibung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen machte sie zu einem Problem für die herrschenden Eliten.

Zweiter Faktor ist die maoistische Durchdringung. Die Maoisten auch Naxaliten genannt, waren in den 70er und 80er Jahren vor allem eine bäuerliche Bewegung der Dalits. Andhra Pradesh war eine ihrer Bastionen. Doch systematische Verfolgung und Repression trieb sie in die Wälder zu den Adivasis. Dort integrierten sie sich, wurden zum Teil der Stammesgesellschaften und politisierten und modernisierten sie dadurch. Erst ihre Anwesenheit und Organisation ermöglichte den Widerstand und gab ihnen einen politischen Ausdruck. Der rücksichtlose Griff der Konzerne auf die Adivasi-Gebiete ab der Jahrtausendwende goss Öl ins Feuer und entfachte den heutigen Brand. Er bescherte den Naxaliten stürmischen Zulauf.


Regierungsmiliz und "Green Hunt"

Von an die hundert Absichtserklärungen mit Großkonzernen wurde - dank des Widerstands - erst ein Bruchteil umgesetzt. Daher ergriff die Regierung eine radikale Gegenmaßnahme. Sie half bei der Bildung einer Bürgerkriegsmiliz, die sich um sozial besser gestellte Schichten der Stämme, vor allem um die Händler und Forstverwalter gruppierte. Unter dem Namen "Salva Judum" (unterschiedlich übersetzt als "peace march" oder auch "purification hunt") begann eine Kampagne der verbrannten Erde. Tausende Dörfer wurden niedergebrannt. Jede, der unter Verdacht stand, in der Nähe der Maoisten zu sein, war seines Lebens nicht mehr sicher. Mehrere Hunderttausend Menschen wurden vertrieben und in Regierungslager gepfercht. So sollte gleichzeitig der Widerstand vernichtet und der Weg zur Entwicklung, wie sie von den kapitalistischen Eliten verstanden wird, freigegeben werden.

Systematische Verfolgung trieb die Maoisten in die Wälder zu den Adivasis. Ihre Anwesenheit ermöglichte den Widerstand. Der rücksichtlose Griff der Konzerne auf die Adivasi-Gebiete bescherte den Maoisten stürmischen Zulauf.

Doch den Internierten bot sich keine Perspektive. Kein Land, keine Arbeit, keine ausreichende Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmittel, keine Schule etc. Viele Vertriebene kehrten in die Wälder zurück und schlossen sich den Maoisten an. Politisch war "Salva Judum" letztlich ein Schuss, der nach hinten losging.

Viele der Milizionäre wurden in der Folge in paramilitärische Verbände eingebunden. Polizei und Armee sind zunehmend involviert. Das, was der Staat gerne als Konflikt zwischen den Stämmen oder als Selbstverteidigung gegen den roten Terror dargestellt hätte, muss nun doch offen unter seiner Führung von statten gehen - tituliert: "Grüne Jagd". Dieser Krieg des indischen Staates gegen seine Ureinwohner dauert mit ähnlichen Methoden wie jene von Salva Judum bis heute an und intensiviert sich sogar noch.


Keine Schule, dafür aber Malaria

Wir lassen unser Fahrzeug stehen und begeben uns in die Weiler der kleinen Ebene, deren Zentrum bestehend aus einem halben Dutzend Lehmhäusern Maita genannt wird. In Landkarten oder im Internet lassen sich die uns genannten Ortsbezeichnungen nicht wieder finden. Kommentar der Aktivisten: "Gute Karten sind eine Waffe und stehen daher ausschließlich dem Militär zur Verfügung."

Überall gibt es zahlreiche Kinder, die auch am Vormittag nicht in die Schule gehen. Im Gespräch mit den Bewohnern wird klar, dass es hier niemals ein funktionierendes Schulwesen gegeben hat. Auch schon früher kam das Lehrpersonal nur ab und an ins Dorf. Jedenfalls zu selten, um Lesen und Schreiben zu vermitteln. Mit der Eskalation des Konflikts stellte man auch diese Rudimente des Schulwesens ein. Man zeigt uns die zerstörte Schule: "Sie hat den Paramilitärs als Stützpunkt gedient." Am darauf folgenden Tag besuchen wir ein Internat, wohlgemerkt bereits auf dem Territorium Andhra Pradeshs. Es sind die einzigen Orte an dem Adivasi-Kinder aus den Konfliktzonen tatsächlich eine seriöse Schulbildung erhalten. Laut dem Direktor werden nur 2-3% der Kinder durch solche Internate, wo gratis ausgespeist wird, erfasst. Kein Wunder, dass Dantewada zu den Bezirken mit dem höchsten Analphabetismus ganz Indiens gehört.

Wir haben zwei Rucksäcke voll einfacher Medikamente mitgebracht, preisgünstige indische Generika. Vor allem gegen Malaria, dann noch Antibiotika, Verbandsmaterial und Ausgleichsstoffe gegen Mangelernährung. Im Gespräch mit den Bewohnern des Weilers Posagudem ist die Diagnose des uns begleitenden Arztes klar: Malaria. Die Krankheit ist allgegenwärtig. Sunam Chendi wird uns als lokaler Schamane vorgestellt. Er führt selbst auch Behandlungen durch. Wir erfahren, dass seine Frau und eine Tochter bereits am Wechselfieber verstarben. Auch er ist offensichtlich erkrankt. In Posagudem scheint es die Mehrheit der mutmaßlich zwei Dutzend Bewohner erwischt zu haben. Unser Arzt verteilt Malariamedikamente und erklärt mittels Übersetzer die Einnahme.

Im Verlauf unserer Besuche und Gespräche in den Weilern der Umgebung wird uns klar, dass die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) präsent ist. Sie kommt einmal pro Woche, erstellt Diagnosen, verschreibt Medikamente und gibt diese auch aus. Jeder Patient erhält einen Handzettel auf dem sich alle Daten befinden. Wir treffen in der Folge auch auf ein Team von MSF. Die Leiterin erklärt, dass ihre Vereinigung in Absprache mit der Regierung von Chhattisgarh am Rande des gesamten Konfliktgebiets tätig ist. Auch mit den Maoisten gäbe es keine Konflikte. Letztere scheinen MSF zu dulden, jedenfalls an den Randgebieten ihrer Kontrolle.


Nicht Hindu, sondern Koja

Obwohl wir unbehelligt in das Gebiet der Guerilla eintreten konnten, passierte das nicht unbeobachtet - nämlich von beiden Seiten. Bereits an unserem Ausgangspunkt, der Bezirkshauptstadt Bhadrachalam, teilten uns unsere Begleiter mit, dass wir unter Beobachtung der Polizei stünden. Auch die andere Seite war nicht untätig. Nach einiger Zeit tauchten zwei Milizionäre auf, die beide ausschließlich Koja sprachen. (Koja ist ein Dialekt der kaum verschrifteten Gondi-Sprache, die wiederum zur Familie der drawidischen Sprachen wie Tamil zählt). Die Volksmiliz rekrutiert sich aus der unmittelbaren Umgebung und ist schlechter bewaffnet und weniger professionell als die maoistische Kernguerilla. Beeindruckend ihre Bewaffnung: selbstgebaute Gewehre! Sie nahmen uns Handys, Kameras und vor allem die Autoschlüssel ab. Mit einigen Übersetzungsschwierigkeiten brachten wir unser Anliegen vor. Unsere Begleiter setzten ein kleines Schreiben auf, dass an die lokale maoistische Kommandantur gerichtet war. Wir wurden angewiesen zu warten und verbrachten die Nacht im Haus des Dorfvorstehers von Maita.

Am nächsten Tag unternahmen wir einen ausgedehnten Rundgang durch die Ansiedlungen - immer mehr auch mit der Idee wieder unsere Autoschlüssel zurückzuerhalten. Denn man sagte, dass eine Genehmigung der Adivasi-Guerrilla, tiefer in die befreiten Gebiete vorzudringen, Tage dauern könne, die wir nicht zur Verfügung hatten. Die Schlüssel waren tatsächlich einer Vertrauensperson des Dorfes überantwortet worden, so dass wir jederzeit die Rückfahrt antreten konnten.

Bei einem jungen Mann namens Rama Krishna aus Posagudem war uns ein hinduistisches Symbol aufgefallen, das er um den Hals trug. Ich frage ihn, ob er Hindu sei. "Nein Koja!" war seine sehr bestimmte Antwort. Der uns begleitende Rechtsanwalt Raghunath Verose aus Hyderabad kommentierte: "Die Hindu-Symbole sind nicht Ausdruck einer Identität oder eines Glaubens, sondern mehr zufällig. Sie erhalten sie als Geschenke oder denken, dass sie zum guten Ton in der Umgebungsgesellschaft gehören."

Insgesamt hatten wir den Eindruck, dass auch in diesem Randgebiet der Konfliktzone die kulturelle Identität der Stammesgesellschaft intakt ist, was sich auch an der durchgängigen Verwendung der eigenen Sprachen ablesen lässt. Die Tatsache, dass wir nächtens einen scheinbar batteriebetriebenen Fernseher hörten, tut dem keinen Abbruch. Unsere Begleiter meinten, dass tiefer in den Wäldern diese Kultur noch viel stärker ausgeprägt sei, teilweise sogar noch mit Polygamie. Die Maoisten würden solchen archaischen Sitten, wie beispielsweise auch die Verstümmelungen von Frauen, jedoch einen Riegel vorschieben.

Auch in Indien werden von den diversen Widerstandsbewegungen die NGOs radikal abgelehnt. Ihre Gelder hätten zahlreichen Widerstandsbewegungen die Spitze abgebrochen.

Am nächsten Tag besuchten wir einige Dörfer jenseits der Grenze, also bereits in Andhra Pradesh außerhalb des Rebellengebietes. Es handelte sich wahrscheinlich um Flüchtlinge aus der Zeit der großen Vertreibungen durch Salva Judum 2005 und den folgenden Jahren. Der Unterschied zur Stimmung und zum Verhalten zum Vortag war frappierend. Die Menschen vermieden jede politische Äußerung, wollten auch keinen Grund für ihre Migration nennen. Wir konnten nur herausbekommen, dass das Land auf dem sie lebten, nicht ihnen gehört. Das Dorf Bandigumpu gehört dem Stamm der Gutikoja an, einer Untergruppe der Koja. Sie werden vom indischen Staat als "Primitive Tribal Group", also noch rückständiger als "Scheduled Tribes", klassifiziert. Die Aktivisten von Adivasi Drum erklärten uns, dass die Gutikoja von den Koja ausgebeutet und vergleichbar mit einer niedrigeren Kaste behandelt würden. Der Führer von Salva Judum, Mahindra Karma, gehöre den Koja an, während die meisten Gutikoja die Maoisten unterstützten. Die reaktionäre Stammesmiliz würde diese konfliktbehafteten Stammesbeziehungen für ihre Kampagne nutzen.

Unser Arzt behandelte einen Mann, der sich eine Fußverletzung zugezogen hatte, die bereits böse entzündet war. Warum er nicht zu einem Arzt ginge, sonst laufe er Gefahr, dass ihm das Bein abgenommen werden müsse? Die Kosten von 10 Rupien, umgerechnet rund 15 Eurocent könne er sich nicht leisten. Eine gute Mahlzeit in einem Straßenrestaurant kostet zum Vergleich vielleicht 50 Eurocent. Dass er diese Summe nicht zu mobilisieren in der Lage oder bereit war, ließ uns auf die Apathie des Elends schließen, die auch mit der Entwurzelung in Verbindung gebracht werden mag.

Einige Dutzend Kilometer entfernt besuchten wir noch ein Dorf mit dem Namen Tippapuram. Seine Bewohner deklarierten sich dem Stamm der Kondaredlu zugehörig, ebenfalls der Obergruppe der Koja zuzurechnen, und waren vor einigen Jahren aus dem Inneren Chhattisgarhs geflohen. Auch hier ein ähnliches Bild. Übrigens fanden wir nirgendwo Kinder und Jugendliche vor, die eine Schule besuche würden.


Fortsetzung der Sumud-Projekte in Indien

Die Diskussionen mit unseren Partnern vor Ort und auch unter uns kreisten um die Frage, wie man in Europa auf die Situation und den Kampf der Adivasis aufmerksam machen könnte, ohne dabei in die neokolonialen Muster der NGOs zurückzufallen. So wie in vielen Ländern der Peripherie, hätten.

Grundidee von Sumud ist es, sich am Leben der Widerstand leistenden Bevölkerung zu beteiligen, sie damit einerseits zu unterstützen und andererseits aus den gewonnenen Erfahrungen zu lernen. Durch diese Praxis kann die ideologisierte und uniformierte Sicht auf die Welt, wie sie der hiesige Medien- und Bildungsapparat vermittelt, durchbrochen werden. Politischen Druck hier in Europa zu erzeugen, ist letztlich die beste Unterstützung, die man dem Widerstand angedeihen lassen kann.

In einigen Gebieten unter maoistischer Kontrolle gibt es alternative Entwicklungsmodelle, die einen kollektiven Anspruch haben - peoples' development, also einer Entwicklung die nicht nur den Massen dient, sondern auch von ihnen selbst kontrolliert wird.

Von Seiten der verschiedenen Instanzen der Adivasi-Bewegung kam eine klare Aussage: Wir wollen und brauchen Teams von Freiwilligen, die medizinische Hilfe leisten und ihr Wissen weitergeben. Das hat aber nur Sinn innerhalb der befreiten Gebiete, in denen es praktisch keinerlei Versorgung gibt. Es kam aber noch eine weitere Idee auf. In einigen Gebieten unter dauerhafter maoistischer Kontrolle gibt es alternative Entwicklungsmodelle, die auch einen kollektiven Anspruch haben. Auch auf diesem Feld wäre die Mitarbeit von Freiwilligen, vor allem was einfache und ökologische Agrartechnologie betrifft, sehr gefragt. All das erfordert indes eine längere Verweildauer, um sinnvoll zu sein.

Jedenfalls ist hier Großes im Gang. Nicht nur in Indien wird nach Wegen alternativer Entwicklung zur kapitalistischen Globalisierung gesucht. Denn im Gegensatz zu mancher orientalistischen, romantisierenden Vorstellung von Indien wollen die breiten Massen nicht in Armut verbleiben. In Indien sprechen nicht nur die Maoisten, sondern viele Gegner des von der globalen und indischen Oligarchie propagierten Modells von "peoples' development", - also einer Entwicklung die nicht nur den Massen dient, sondern auch von ihnen selbst kontrolliert wird. Das sich vollziehende Experiment der Mao-Adivasis ist dazu ein wichtiger Beitrag und darf nicht unter dem Pauschalvorwurf des Terrorismus ausradiert werden.

Der indische Staat ist jedenfalls nicht zimperlich. Obwohl er sich an die Brust heftet, die größte Demokratie der Welt zu sein, unterdrückt er die Opposition brutal. Auch jene, die lediglich Dissens äußern, sitzen zu Zehntausenden in den Gefängnissen. Letzter prominenter Fall ist jener von Dr. Binayak Sen, einem Armendoktor in den Konfliktgebieten Chhattisgarhs, dem die Unterstützung des Terrorismus vorgeworfen wird. Urteil: Lebenslänglich.

Der Autor dieser Zeilen wird wohl das letzte Mal in Indien gewesen sein. Er war 2009 bei einer Blockade des Bauplatzes für ein Stahlwerk des multinationalen Konzerns Posco aufgegriffen worden. Bei der Passkontrolle poppte am Bildschirm des Beamten rot auf: "Prevent this subject from entering India". Doch da reiste er bereits wieder aus. Die Moral von der Geschicht': In den Ritzen des Systems gibt es genug Platz für Widerstand. Es geht nun darum die Spalten weiter zu öffnen.

Kontakt und weitere Informationen zu Sumud:
www.sumud.at / www.sumud.de
info@sumud.at / info@sumud.de


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INTERNATIONAL

Neue Revolution mit alten Problemen

Venezolanische Volksbewegung im Kampf gegen die Bürokratisierung

Oscar Contreras, Sprecher der Revolutionären Strömung Bolivar und Zamora, im Gespräch über die jüngsten Parlamentswahlen, Bürokratie und Volksmacht in Venezuela.

Das Interview führte Gernot Bodner


intifada: Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom 26. September 2010 brachte eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten der anti-chavistischen Opposition. Was ist passiert?

Oscar Contreras: Was am 26. September passiert ist, hat ähnliche Gründe wie die Niederlage beim Verfassungsreferendum im Dezember 2007. Das Problem liegt dabei nicht etwa darin, dass Comandante Chavez sich zuwenig engagiert oder die strategische Perspektive verloren hätte. Der Grund für die Schwierigkeiten der Revolution ist die Entstehung einer bürokratischen Kaste in der Regierung. Eine soziale Schicht, die den Motor der Revolution, das mobilisierte Volk, ersetzt. Dieses Phänomen kennen wir von anderen revolutionären Prozessen. In der venezolanischen Geschichte selbst wurde bereits 1958, nach dem Sturz des Diktators Perez Jimenez, eine revolutionär-demokratische Dynamik durch eine solche Entwicklung gestoppt.

intifada: Welche Faktoren erklären die Entstehung der bolivarianischen Bürokratie?

Oscar Contreras: Als die Revolution, oder genauer gesagt die bolivarianische Regierung und ihre staatlichen Institutionen, sich konsolidiert haben, setzte sich eine refomistische Tendenz durch. Sie entstand aus der Mentalität, dass der Kampf vorbei und keine weitere Veränderung nötig sei. Man könne sich nun auf den Privilegien der neuen Situation ausruhen. Wir sprechen heute von vier Mühlsteinen, die am Hals der Revolution hängen: Dem Reformismus, der den Bürokratismus produziert, dieser produziert wiederum die Ineffizienz und ihren perversesten Ausdruck, die Korruption. Damit trifft die Bürokratie die moralische und ethische Essenz des Prozesses. Die Menschen spüren die Scheinheiligkeit des Diskurses der "revolutionären Führer", die Opferbereitschaft predigen, während sie sich bereichern und die Volksbasis von allen Entscheidungsebenen ausschließen.

intifada: Chavez bekam mit dem Stimmenverlust bei den Wahlen dieses Problem deutlich vor Augen geführt. Welche Maßnahmen wird er ergreifen?

Oscar Contreras: Chavez ist durch diese Situation unter Druck und hat bereits mehrfach in öffentlichen Reden zum Ausdruck gebracht, dass die Korruption eine Bedrohung der Revolution ist, mit der endlich Schluss gemacht werden muss. Besonders in den städtischen Gebieten hat die Revolution an Unterstützung verloren, selbst in Provinzhauptstädten wie San Fernando de Apure. Chavez brachte in seiner Wahlanalyse neuerlich die Notwendigkeit eines institutionalisierten Kommunikationsbereiches mit dem Volk zur Sprache. Nur durch einen direkten Zugang des Volkes zur Regierung, eine wechselseitige Kommunikation, können die Fehlentwicklungen angegangen werden. Doch von den Worten zur Umsetzung ist es ein weiter Weg. Erstens, weil Chavez zwar den Willen dazu hat, aber alleine damit ist, zweitens, weil er von der bürokratischen Kaste umzingelt wird und drittens, weil ihm eine Avantgardepartei fehlt, die seine politische Linie in Taten umsetzt. Derzeit übernehmen Partei und formale Führung zwar die Worte von Comandante Chavez, aber zur Umsetzung gelangt nur das, was ihnen selbst genehm ist.

Aus diesem Grund organisierten wir am 25. November 2010 eine große Demonstration in Caracas. Denn nicht jene sind heute loyal zur Revolution, die nicht kritisieren. Im Gegenteil ist eine produktive Kritik unerlässlich. Ziel der erfolgreichen Demonstration war es, in der gegenwärtigen Konjunktur, die nicht durch bevorstehende Wahlen belastet ist, Comandante Chavez zu einem breiten Dialog mit dem Volk über die Probleme und Aufgaben der Revolution aufzurufen.

Wir organisierten am 25. November eine große Demonstration in Caracas. Denn nicht jene, die nicht kritisieren, sind heute loyal zur Revolution.

intifada: Was sind die Gründe, dass es trotz einer günstigen Ausgangslage - ein enthusiastisches und mobilisiertes Volk - nicht gelungen ist, das Problem der Bürokratie in den Griff zu bekommen?

Oscar Contreras: Der bolivarianische Prozess hat zu einer starken Mobilisierung und Organisation des Volkes geführt. Aber mit den wachsenden Aufgaben ist ihr Ausmaß unzulänglich geworden. Gleichzeitig gibt es viele nicht erfüllte soziale Alltagsforderungen, was zu Skepsis unter den Menschen führt und damit dem Fortschreiten der Selbstorganisation des Volkes entgegensteht.

Wir können feststellen, dass der bolivarianische Prozess vor allem auf der kulturellen Ebene zu einem hegemonialen, antiimperialistischen Massenbewusstsein geführt hat. Aber es fehlt an Klarheit über die politischen, ökonomischen und sozialen Strategien. Um auf all diesen Ebenen die Organisation und das Bewusstsein zu heben, ist die einzige Antwort ein Mehr an Partizipation, an Demokratisierung, eine Stärkung der Volksmacht.

intifada: Die bolivarianische Verfassung sieht eine solche partizipative Demokratie vor und konkretisierte sie im Gesetz der kommunalen Räte. Trotz gesetzlicher Grundlage scheint aber die Realität eine andere zu sein.

Oscar Contreras: Die Verfassung und das Gesetz der Kommunalräte sind von enormer Bedeutung. Sie waren ein Motor für die Bildung von ersten Volksmachtstrukturen im Land. Doch dieser Prozess steht vor einem Widerspruch: Während die Gesetzgebung den Impuls für die Volkspartizipation gegeben hat, ist die konstituierte, staatliche Institutionalität zu einem Hindernis für ihre Entwicklung geworden. Es wird von oben versucht, den kreativen, emanzipatorischen Impuls des Volkes zu kontrollieren. Daher findet sich im Gesetz der Kommunalräte immer noch der Satz, dass das Ministerium der Kommunen das Leitungsorgan der Kommunalräte ist. Gegen dieses Konzept hat sich die Revolutionäre Strömung Bolivar und Zamora mit aller Deutlichkeit ausgesprochen.

intifada: Venezuela unterscheidet sich von vergangenen Revolutionen vor allem dadurch, dass der Ursprung der Veränderung in demokratischen Wahlen lag und nicht in einem Umsturz. Damit ist das Problem der alten Institutionalität natürlich besonders virulent. Wie stellt sich in dieser Konstellation die Frage nach Mitteln und Wegen zur Überwindung des alten Staatsapparats?

Oscar Contreras: Eine Revolution kann durch einen raschen Umsturz das Staatsproblem lösen, aber auch über einen schrittweisen Umbau. Der Weg der Reformen impliziert aber die Gefahr des Reformismus, der nur oberflächlichen Anpassung und nicht strukturelle Veränderung möchte. Venezuela ist eine demokratische Revolution, in der der Staatsumbau nicht über einen anfänglichen Umsturz gelöst wurde. Er kann daher nur über strukturelle Reformen verlaufen. Doch wie befürchtet, hat sich dabei der Reformismus durchgesetzt, der verändert um nicht zu verändern. In dieser Situation, wo das Neue entsteht, während das Alte noch nicht verschwunden ist, liegt der Schlüssel in der Organisation und im Bewusstsein des Volkes sowie in der strategischen Führung durch Comandante Chavez.

In dieser Situation, wo das Neue entsteht, während das Alte noch nicht verschwunden ist, liegt der Schlüssel in der Organisation und im Bewusstsein des Volkes und in der strategischen Führung durch Comandante Chavez.

intifada: Wie arbeitet die Revolutionäre Strömung Bolivar und Zamora am Aufbau dieser Volksmacht von unten?

Oscar Contreras: Politik ist immer eine Frage von Kräfteverhältnissen. Unsere ursprüngliche Basis für eine Volksmachtstrategie lag in der Bauernbewegung. Die Bauern sind als sozialer Sektor aber eine Minderheit im Land. Als mit dem Gesetz der Kommunalräte eine organisatorische Dynamik entstand, begannen wir über die Bauernbewegung in die städtischen Sektoren vorzudringen, um dort kommunale Rätestrukturen aufzubauen. In diesem Kontext ist es auch gelungen, erste Schritte in der Arbeiterbewegung auf Betriebsebene zu machen. Ziel ist es, eine territoriale Volksmacht über Kommunalräte, Kommunen und kommunale Städte aufzubauen, eine Machtstruktur von unten, die die alte Institutionalität ersetzen kann.

intifada: Welche Bedrohungsszenarien ergeben sich für die bolivarianische Revolution in nächster Zeit?

Oscar Contreras: Es wurde befürchtet, dass die weltweite Krise über die niedrigen Ölpreise die Programme der Revolution gefährden könnte. Die Auswirkungen waren jedoch im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas gering, was sicher Ergebnis der souveränen Politik von Chavez ist, die das Land vom Diktat der internationalen Finanzorganisationen unabhängig gemacht hat. Was die interne Opposition betrifft, so war diese über Jahre völlig marginalisiert, nachdem ihre Putschstrategie gescheitert ist. Doch geschwächt heißt nicht besiegt: Mittels der Medien nützt sie die Schwächen der Revolution aus, um über Halbwahrheiten und Angstmeldungen eine Stimmung in der Bevölkerung zu schaffen, die den alten politischen Machtgruppen als Wahlbasis dient. Auch hier kann nur durch die Organisation und das Bewusstsein des Volkes gegengesteuert werden. Nur so können wir auf diesen psychologischen Krieg antworten und der konterrevolutionären Propaganda durch die Überwindung der Probleme im Prozess ihre Grundlage entziehen.


Oscar Contreras, Jahrgang 1963, ist Sprecher der "Nationalen Bauernfront Ezequiel Zamora" sowie der "Revolutionären Strömung Bolivar und Zamora", einem Zusammenschluss linker Volksorganisationen der Bauern-, Arbeiter- und Stadtteilbewegung in Venezuela. Im Rahmen einer Europareise besuchte er vom 26. bis 30. November Österreich.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Die Bauernfront Ezequiel Zamora - eine Basisorganisation der bolivarianischen Bewegung

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THEORIE

Solidarität, eine Waffe?

Überlegungen zu einem neuen Internationalismus

Von Sebastian Baryli

Lange Zeit stand Solidarität für das Zusammenwirken revolutionärer Kräfte. Die Paradigmen dieses Konzeptes haben sich nun aber gewandelt.


Die alte Formel, Solidarität sei eine Waffe, klingt - unter den heutigen Bedingungen ausgesprochen - mehr als vermessen. Aus antiimperialistischer Perspektive muss man dem Internationalismus aus grundlegenden Überlegungen zur Struktur des Imperialismus einen außerordentlichen Stellenwert einräumen, doch drängt sich abseits der politischen Praxis durchaus die Frage nach dem strategischen Stellenwert auf Infotische und Demonstrationen zum Nahen Osten, die Teilnahme an internationalen Konferenzen und die Schaffung eines Netzwerkes annähernd Gleichgesinnter, sind kaum Praxisformen, die den alten Anspruch einer revolutionären Perspektive des Internationalismus aufrecht erhalten können. Wenn Solidarität aber immer noch eine Waffe sein soll, wie können wir diese dann effizient einsetzen? Oder müssen wir uns von diesem Konzept der Solidarität unter den aktuellen historischen Bedingungen verabschieden?

In der kommunistischen Bewegung gibt es eine langwierige und sehr heftig geführte Debatte zu diesem Thema. Damit droht eine neuerliche Auseinandersetzung die alten Wunden aufzureißen und in einer bloßen Polemik zu enden. So war bis in die 1980er Jahre der Begriff Internationalismus ein klar definierter Code, dessen Bedeutung für die unterschiedlichen Strömungen je verschieden definiert war, der aber gleichzeitig zur Festigung der eigenen Identität diente. Denn wenn man in Moskau von Internationalismus sprach, hatte das eine ganz andere Bedeutung als wenn man in Peking darüber diskutierte.

Diese historischen Strömungen des Kommunismus gehören der Vergangenheit an. Dies kann auch als Chance begriffen werden, sich nun verschiedenen Fragestellungen von einer neuen Richtung her zu nähern. Denn neben der rein strategischen Bedeutung des Internationalismus, die in Moskau immer unter dem Begriff "Wissenschaftlicher Kommunismus" abgehandelt wurde, stellt sich auch die Frage nach dessen kultureller Bedeutung. Insbesondere in Anbetracht des Kollaps der strategischen Kräfteverhältnisse in Westeuropa - oder anders formuliert in den Zentren des Imperialismus - erscheint letztere Fragestellung umso fruchtbarer.


Proletarischer Internationalismus

Obwohl die Referenz auf die historische Debatte zunächst als unfruchtbar beschrieben wurde, so scheint es dennoch notwendig, kurz auf die Geschichte dieser Diskussion einzugehen. Denn allein durch die kritische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen ergeben sich durchaus neue Perspektiven, die eine interessante Annäherung an das Konzept "Solidarität" ermöglichen.

Der Begriff der Solidarität war schon in den Ursprüngen der kommunistischen Diskussion eng mit dem Konzept des Internationalismus verbunden, obwohl sich der konkrete Bedeutungszusammenhang je nach historischem Kontext verschoben hatte. Schon der junge Marx hatte in seinen philosophischen Studien einen bestimmten Begriff von Internationalismus, der natürlich in den damaligen Status seines Theorie-Entwurfs eingebettet war. "Das Proletariat ist Träger der Erneuerungsmission der Menschheit, weil es, als reine Negativität, allein fähig zum allgemeinen revolutionären Umsturz ist; der Proletarier ist in der Tat der völlig eigentumslose, allgemeingesetzte oder internationalisierte Mensch, da er ja, durch die Enteignung seiner Produktionsmittel von den Beschränkungen des Privateigentums entbunden, nichts zu verlieren hat und deshalb fähig ist, die Entfremdung zu überwinden." (Gallisot 1985, 566)

Wenn Solidarität aber immer noch eine Waffe sein soll, wie können wir diese dann effizient einsetzen? Oder müssen wir uns von diesem Konzept der Solidarität unter den aktuellen historischen Bedingungen verabschieden?

Mit den Studien zur Ökonomie und der Überarbeitung seiner Begrifflichkeit von Entfremdung und vom Wesen der Menschheit hat sich auch der Begriff des Internationalismus etwas gewandelt. Der französische Historiker René Gallisot hat dies als Gewinnung eines realistischen Gehalts im proletarischen Internationalismus angesehen (Gallisot 1985, 566). Doch diese Interpretationsweise steht noch unter dem Paradigma eines bloßen Wechsels von Idealismus zum Materialismus bei Marx, das selbst wieder in einer etwas naiven Realismus-Konzeption fundiert ist. Der Realismus beschränkt sich hier auf die Erkenntnis des rein Positiven, wie etwa in der Deutschen Ideologie ausgeführt wird. Damit leidet diese Interpretation an einem wesentlichen Mangel, der einer Überarbeitung bedarf.

Dennoch gab es eine wesentliche Verschiebung in der Begrifflichkeit von Internationalismus bei Marx, die zu berücksichtigen ist. Wesentliches Fundament des proletarischen Internationalismus ist nun nicht mehr die Entfremdung, sondern die Ausbeutung, die wiederum mit ökonomischen Kategorien wie notwendige Arbeitszeit und Mehrarbeit begründet wird von daher kann die Aktion der Arbeiter den Abgrund überwinden, der sie in gegenseitige Konkurrenz und Aufsplitterung stürzt, und aus dem Proletariat eine klassenkämpferische Kraft machen, für die Zahl und Zusammenhalt sprechen und die fähig zu internationalen Verbindungen ist, auch wenn ihr Kampf in bezug auf den Staat in einem bestimmten Sinne 'noch national' ist." (Gallisot 1985, 566)

Marx geht also in der Analyse der Ökonomie, die letztendlich auch auf eine Analyse des Staates zusteuert, dazu über, auch dem nationalen Element eine größere Bedeutung einzuräumen. Diese Überlegungen schärft er noch zusätzlich in der Auseinandersetzung mit den politischen Fragen zu Polen, Irland und letztendlich auch Indien.

Die II. Internationale stellt wiederum eine wichtige Etappe in der Veränderung und Entwicklung des Begriffs Internationalismus dar. Denn in dem Zusammenschluss der Arbeiterparteien wurde der Begriff auf die Reproduktion zwischenstaatlicher Beziehungen reduziert. Solidarität bedeutete für die Arbeiterparteien vor allem das Hinwirken auf eine friedliche Außenpolitik der Heimatstaaten. Der Erste Weltkrieg hatte die Anfälligkeit dieser Konzeption bewiesen und der II. Internationale ihre eigene Unfähigkeit vor Augen geführt.


Antiimperialistische Solidarität

In der III. Internationale - der Kommunistischen - wurde das Thema Internationalismus wieder neu diskutiert, wobei eine grundlegende Neuinterpretation stattfand. Gerade die Kritik an der Politik der II. Internationale, insbesondere aufgrund ihrer Unterstützung des imperialistischen Weltkrieges, hatte die Debatte vorangetrieben. Dabei rückte erstmals der antikoloniale Kampf ins Zentrum des Interesses: "Der revolutionäre Internationalismus im Gegensatz zum Reformismus, der sich auf das Nationalinteresse beruft, definiert sich also als Antiimperialismus, der den nationalen Befreiungskampf der unterdrückten Völker (die Frage der Völker des Ostens) mit dem Wohl der sowjetischen Revolution verbindet, aber auch mit der Aktion der entwickelten Arbeiterbewegung." (Gallisot 1985, S. 569)

Lenin entwickelte vor allem auf dem zweiten und dritten Kongress der III. Internationale eine strategische Grundlage, die dem antikolonialen Kampf im Prozess der Weltrevolution eine besondere Rolle zusprach: "Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind in dieser Beziehung große Veränderungen eingetreten, nämlich: Millionen und Hunderte Millionen - faktisch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung unseres Erdballs - treten jetzt als selbständige aktive revolutionäre Faktoren auf. Und es ist absolut klar, daß in den kommenden entscheidenden Schlachten der Weltrevolution die ursprünglich auf die nationale Befreiung gerichtete Bewegung der Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs sich gegen den Kapitalismus und Imperialismus kehren und vielleicht eine viel größere revolutionäre Rolle spielen wird, als wir erwarten." (Lenin 1988, S.505) Das hier entwickelte Konzept war immer noch beseelt von einer gemeinsamen Grundlage des Emanzipationskampfes. Wobei Lenin die internationale Solidarität von einem zunächst philosophischen, später ökonomisch begründeten Begriff auf eine politische Strategie hin trimmte. Der Internationalismus bedeutet hier vor allem ein strategisches Zusammenspiel der revolutionären Kräfte.


Sowjetische Kanonisierung

Diese strategisch-taktischen Überlegungen Lenins wurden in der Folge von den moskautreuen Kommunistischen Parteien im sogenannten Wissenschaftlichen Kommunismus zur Drei-Kräfte-Theorie kanonisiert. Die drei Kräfte des weltrevolutionären Prozesses wären demnach das sozialistische System, das vor allem durch die Sowjetunion repräsentiert worden sei, die Arbeiterbewegung in den entwickelten kapitalistischen Staaten und die nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt: "Jede der drei großen revolutionären Kräfte der Gegenwart - die Völker der sozialistischen Länder, die internationale Arbeiterklasse und die Völker, die gegen Kolonialismus und Neokolonialismus, für nationale Unabhängigkeit kämpfen - erfüllt ihre historische Rolle." Und weiter: "Der sich entwickelnde revolutionäre Weltprozeß nimmt alle revolutionären sozialistischen und demokratischen Kräfte und Abteilungen in sich auf und vereinigt sie zu einem einheitlichen Strom." (Fedossejew 1973, 110)

In der sowjetischen Konzeption wurde der Internationalismus weiterhin als strategisches Problem aufgefasst. Doch dabei gewann die Frage, welche dieser Komponenten den Hauptwiderspruch ausmache, eine entscheidende Bedeutung. "Der Grundwiderspruch der gegenwärtigen Epoche ist der Widerspruch zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Er umfaßt die ganze Welt, ist allgemeingültig und berührt alle Bereiche der Gesellschaft: die Ökonomie, die Politik und die Ideologie." (Fedossejew 1973, 105) Damit gewann aber der proletarische Internationalismus in diesem Verständnis eine ganz eigene Bedeutung. Insbesondere prosowjetische Kommunistische Parteien verwendeten den Begriff proletarischer Internationalismus als Synonym für die Haltung zur Sowjetunion. Eine zu scharfe Kritik an der UdSSR hätte in der damaligen Argumentation das Prinzip des Internationalismus verletzt.

Es können drei große Strömungen des Marxismus mit ihren jeweiligen Internationalismus-Konzepten unterschieden werden: eine prosowjetische, eine tiersmondistisch-maoistische und eine ouvrieristische.

Insgesamt kristallisierten sich in den drei großen Strömungen des Marxismus unterschiedliche Konzepte des Internationalismus heraus, die René Gallisot kurz zusammenfasst: Neben dem prosowjetischen proletarische Internationalismus, der als Prüfstein für die Solidarität zur UdSSR galt, hatte sich ein tiersmondistischer Internationalismus im Maoismus etabliert, der sich an den nationalen Befreiungsbewegungen orientierte, und ein ouvrieristischer Internationalismus, der weiterhin auf die Solidarität des Proletariats pochte (Gallisot 1985, 570). Dies ist insofern vereinfachend, da es auch trotzkistische Strömungen gab, welche die nationalen Befreiungsbewegungen stärker betonten.

Die Auseinandersetzung zwischen Sowjet-Marxismus, Maoismus und Trotzkismus hatten in der Konzeption des Internationalismus ein geeignetes Terrain gefunden. Die Debatte wurde gewohnt scharf geführt: "Die in ihrem Wesen nationalistischen Behauptungen, daß sich das Zentrum der Weltrevolution in die Zone der nationalen Befreiungsbewegungen verlagert habe, sollen die Hegemonieansprüche derjenigen, die meinen, daß sich dieses Zentrum schon seit langem in Peking befinde, verschleiern. Vor allem soll damit die marxistische [sic!] Definition des Charakters der gegenwärtigen Epoche angefochten und der Hauptwiderspruch der Gegenwart - der Widerspruch zwischen Sozialismus und Kapitalismus - ersetzt werden durch den Widerspruch zwischen den unterdrückten Völkern und dem Imperialismus, der häufig als Widerspruch zwischen 'reichen' und 'armen' Nationen, zwischen dem 'reichen Norden' und dem 'armen Süden' ausgelegt wird. Mit solchen Behauptungen wird der revolutionäre Kampf der Völker der sozialistischen Staatengemeinschaft, des internationalen Proletariats und der anderen demokratischen Kräfte faktisch diskriminiert und an die zweite Stelle gesetzt." (Iskenderow 1972, 92)


Drei-Welten-Theorie

Die scharfe Kritik der prosowjetischen Strömung richtete sich vor allem gegen die maoistische Konzeption des Internationalismus. Dieser Ansatz war eng verflochten mit der Revolutionstheorie, die Mao für die Situation in China entwickelt hatte. Insbesondere in der Schrift "Über den Widerspruch" wandte sich Mao auf einer quasiphilosophischen Ebene gegen seine innerparteilichen Gegner und auch gegen die Abgesandten der Kommunistischen Internationale, die vor allem die sowjetischen Erfahrungen auch für China als verbindlich ansahen.

Entscheidender Streitpunkt war die Frage, was denn nun eigentlich als Hauptwiderspruch der damaligen Epoche zu gelten habe. Mao entwickelt in seiner Konzeption die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen: "Im Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges gibt es eine ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen stets einer der Hauptwiderspruch ist; seine Existenz und seine Entwicklung bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der anderen Widersprüche." (Mao 1968, 388) Und weiter: "Im Falle eines Aggressionskriegs der Imperialisten gegen ein solches [halbkoloniales, S. B.] Land können sich seine verschiedenen Klassen - mit Ausnahme einer Handvoll Verräter an der Nation - zeitweilig zu einem nationalen Krieg gegen den Imperialismus zusammenschließen. Dann wird der Widerspruch zwischen dem Imperialismus und dem betreffenden Land zum Hauptwiderspruch, während alle Widersprüche zwischen den verschiedenen Klassen innerhalb des Landes (einschließlich des Hauptwiderspruchs unter ihnen, nämlich des Widerspruchs zwischen dem Feudalsystem und den Volksmassen) vorübergehend auf den zweiten Platz verwiesen sind und eine untergeordnete Stellung einnehmen." (Mao 1968, 389)

Tatsächlich können wir nicht mehr davon ausgehen, dass sich ein Subjekt aufgrund rationaler Einsicht in die Notwendigkeit der Überwindung gesellschaftlicher Verhältnisse auf ein revolutionäres Programm einschwört. Vielmehr konstituieren sich Subjekte - und damit auch das revolutionäre Subjekt - aufgrund kultureller Praktiken.

Gerade diese Betrachtungen über die Besonderheit des Widerspruchs von Mao haben Althusser dazu veranlasst, einen wesentlichen Bruch zwischen der Hegelschen einfachen Dialektik und der Marxschen Dialektik als Überdeterminierung festzustellen. Entscheidend ist in der Herangehensweise, dass nun der Hauptwiderspruch keineswegs unmittelbar aus der ökonomischen Basis der Gesellschaft abgeleitet werden kann, sondern eben auch politische Widersprüche als Haupttriebkraft einer Epoche erscheinen können.

Doch auch Maos Überlegungen erlebten in Folge - ähnlich wie bei Lenin - eine Dogmatisierung und Kanonisierung. Die Kommunistische Partei propagierte die sogenannte Drei-Welten-Theorie, die mühevoll aus einzelnen Mao-Zitaten konstruiert wurde: "Die Dritte Welt ist zur Hauptkraft im weltweiten Kampf gegen Imperialismus, Kolonialismus und Hegemonismus geworden. Sie hat eine für die Menschheitsgeschichte völlig neue Lage geschaffen." (Redaktion der 'Renmin Ribao' 1977,43) Vor allem in der chinesischen Außenpolitik wurde die Drei-Welten-Theorie zu einer Richtschnur, mit katastrophalen Konsequenzen: Es wurden Bewegungen und Regierungen in der Dritten Welt unterstützt, die sich gegen die Sowjetunion oder gegen Verbündete der Sowjetunion stellten. China unterstützte aufgrund dieser Außenpolitik etwa den Schah von Persien, Joseph-Désiré Mobutu in Zaire - dem heutigen Kongo - und nicht zuletzt auch Augusto Pinochets Putsch gegen die Salvador-Allende-Regierung.


Solidarität schafft Identität

Wie kann sich nun unter den Vorzeichen einer solchen Debatte über den Internationalismus ein neues Konzept von Solidarität entwickeln? Wie könnten Bedingungen eines solchen neu verstandenen Internationalismus aussehen?

Unbestritten ist wohl, dass die Solidarität mit dem sozialistischen Lager keine Hauptreferenz des Internationalismus mehr sein kann. Nun könnte man annehmen, dass sich aktuell das strategische Gewicht in der Drei-Kräfte-Theorie der Weltrevolution einfach auf einen der übrig gebliebenen Pole verschoben hätte. Das würde konkret bedeuten, dass beispielsweise die Widerstandsbewegungen der Dritten Welt zur Hauptkraft eines - wenn auch abgeschwächten - weltrevolutionären Prozesses geworden wären.

Doch diese These würde in ihrer Neuausrichtung nicht weit genug gehen. Die Bedingungen für eine Neukonzeption erfordern tiefergehende Transformationen. Ein wesentliches Element dabei ist, dass der Internationalismus nicht mehr in der Kategorie einer strategischen Formierung der Kräfte eines weitrevolutionären Prozesses gedacht werden kann.

Allein der Blick auf die aktuelle historische Situation zeigt, dass wir nichtvon einem solchen Prozess der "Weltrevolution sprechen können. In dieser Kategorie griff Lenin zwar auf ganz allgemeine Konzepte von Marx und Engels zurück, namentlich auf die Internationalisierung der Produktion und der historischen Mission der Arbeiterklasse (Thiry 1989, 1414). Dennoch rückte bei Lenin immer mehr die politische Analyse der konkreten Situation im Ausgang des Ersten Weltkriegs in den Vordergrund. Er hatte in seinen Überlegungen zur Weltrevolution vor allem die Rätebewegung in Westeuropa vor Augen. Nach deren Zerschlagung rückten die antikolonialen Kämpfe zunehmend in den Mittelpunkt seines Interesses.

Der Fokus auf die antiimperialistischen Kämpfe in der Dritten Welt sollte gekoppelt werden mit einer Betonung des Internationalismus als Praxisform. Denn diese politische Praxis ist angehalten, den Ansatz eines Bruchs in der herrschenden Hegemonie herzustellen.

Dieser historische Zyklus, der 1917 seinen Ausgangspunkt hatte, endete 1989 mit dem Untergang des Sozialismus. Die Grundstruktur der darauf folgenden, aktuellen historischen Epoche gestattet derzeit nicht den Begriff "Weltrevolution". Unsere Situation heute ist nicht vergleichbar mit jener, die für die Herausbildung dieses Begriffs ausschlaggebend war. Es herrscht ein absoluter Mangel an politischen Subjekten, die sich selbst als revolutionär begreifen. Dieser Mangel auf der subjektiven Seite ist Ausdruck eben dieser veränderten Grundstruktur. In einem mühevollen Prozess der Entwicklung müssen sich solche Subjekte erst konstituieren, damit sie dann wieder die Arena der Geschichte betreten können.

Die andere Lösung, sich auf abstrakte Kategorien, wie die historische Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus, zurückzuziehen, ist ebenfalls keine befriedigende Lösung. Aber eine solche Notwendigkeit kann intellektuell - bei einem gewissen gemeinsamen Grundverständnis der Welt - rasch Übereinkunft erzielt werden. Doch die Einsicht in die Notwendigkeit schafft noch nicht die Voraussetzung für die Heranreifung einer weltweiten Erschütterung gesellschaftlicher Verhältnisse.

Doch die Verabschiedung vom Konzept der Weltrevolution ist nur ein Aspekt in Bezug auf den Entwurf eines neuen Internationalismus. Denn eine wesentliche Konsequenz daraus ist, dass wir uns beim Internationalismus vom Paradigma einer strategischen Allianz von politischen Kräften, von der Vorstellung eines strategischen Spiels überhaupt verabschieden müssen. Internationalismus ist zumindest nicht mehr ausschließlich eine Frage des Zusammenwirkens der politischen Bewegungen in Westeuropa mit dem antikolonialen Widerstand in Palästina, Irak oder Afghanistan. Diese Annahme wäre in Anbetracht der realen Kräfteverhältnisse allzu vermessen. Was uns aber bleibt - zumindest in der aktuellen historischen Epoche - ist der kulturelle Aspekt. Wir dürfen also in der Neukonzeption des Internationalismus unseren Blick nicht mehr auf das strategische Zusammenwirken der politischen Subjekte richten, sondern vielmehr auf jene Praxisformen, die dazu fähig sind, solche Subjekte zu produzieren.

Damit dringt man aber in grundlegende Fragen der Subjekt-Konstituierung vor. Tatsächlich können wir nicht mehr davon ausgehen, dass sich ein Subjekt aufgrund rationaler Einsicht in die Notwendigkeit der Überwindung gesellschaftlicher Verhältnisse auf ein revolutionäres Programm einschwört sowohl auf einer individuellen als auch kollektiven Ebene. Vielmehr konstituieren sich Subjekte - und damit auch das revolutionäre Subjekt - aufgrund kultureller Praktiken. Es scheint daher ein fruchtbarer Weg zu sein, den Internationalismus und die Solidarität mit antiimperialistischen Kämpfen als konstituierende Praxis für die Entwicklung eines potenziell revolutionären Subjektes aufzufassen. Dies liegt aber weniger in den strategischen Kräfteverhältnissen begründet als vielmehr im Bruch mit der kulturellen Hegemonie in den imperialistischen Staaten.

Der alte Internationalismus hat sich überlebt, es gibt keinen Masterplan der weltweiten, revolutionären Erschütterung mehr. Von den früheren Diskussionssträngen aber wäre die Betonung des antiimperialistischen Kampfes in den Ländern der Peripherie wohl jener, bei dem es sinnvoll wäre, ihn weiter zu verfolgen. Damit könnte man vor allem an die Überlegungen Maos anknüpfen: Insbesondere die Betonung des antikolonialen Kampfes in der Dritten Welt als neue Hauptkraft hat sich auf fast zynische Weise realisiert: Sowohl der Sozialismus als auch die Arbeiterbewegung in Westeuropa sind zusammengebrochen.

Unser Vorschlag wäre, den Internationalismus unter dem Paradigma eines kulturellen Maoismus neu zu entwickeln. Der Fokus auf die antiimperialistischen Kämpfe in der Dritten Welt sollte gekoppelt werden mit einer Betonung des Internationalismus als Praxisform, die trotz ihrer strategischen Bedeutungslosigkeit eine notwendige Politik darstellt. Denn diese politische Praxis ist angehalten, den Ansatz eines Bruchs in der herrschenden Hegemonie herzustellen, auch wenn die Kräfteverhältnisse dagegen sprechen. Die hundertzwanzigste Solidaritätsveranstaltung zu Palästina wird die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten nicht einmal peripher tangieren. Dennoch kommt in solchen Veranstaltungen eine Verbundenheit mit antiimperialistischen Kräften zum Ausdruck, die der vorherrschenden Hegemonie zuwider läuft.


Literatur:

Fedossejew, P. N.; Afanasjew, W. G.; Brutenz, K. N. e. a. : Wissenschaftlicher Kommunismus, 2. Auflage, Berlin 1973.

Gallisot, René: Internationalismus, in: Labica, Georges; Bensussan, Gérard; Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 3: Gattung bis Judenfrage, Berlin 1985, S. 565-571.

Iskenderow, Achmed A.: Die nationale Befreiungsbewegung. Probleme, Gesetzmäßigkeiten, Perspektiven, Berlin 1972.

Lenin, Wladimir Iljitsch: III. Kongreß der Kommunistischen Internationale. 22. Juni - 12. Juli 1921, in: Lenin, Wladimir Iljitsch (Hrsg.): Werke. Band 32: Dezember 1920 - August 1921. 8. Aufl, Berlin 1988, S. 473-519.

Mao Tse-tung: Über den Widerspruch, in: Ders.: Ausgewählte Werke, Peking 1968, S. 365-408.

Redaktion der 'Renmin Ribao': Die Theorie des Vorsitzenden Mao über die Dreiteilung der Welt ist ein bedeutender Beitrag zum Marxismus-Leninismus, Peking 1977.

Thiry, Bruno: Weltrevolution, in: Labica, Georges; Bensussan, Gérard; Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 8: Überbau bis Zusammenbruchstheorie. Nachträge und Register, Berlin 1989, S. 1414-1417.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Die Solidaritätsbewegung mit Palästina ist in Griechenland besonders stark.

Raute

THEORIE

Vierzig Jahre Schwarzer September

Die Kinderkrankheiten der palästinensischen Bewegung

Von Ali Nasser

Am 16. September 1970 bewegte der jordanische König Hussein seine Armeeeinheiten in Richtung Amman. Die ersten Granaten fielen auf die palästinensischen Flüchtlingslager und jene Viertel der Hauptstadt, wo palästinensische Fedayin (Partisanen) stationiert waren. Die nächsten zwölf Tage gingen als "Jordanischer Bürgerkrieg" bzw. als "Schwarzer September" in die Geschichte ein.


Der Schwarze September endete mit dem Abzug der Fedayin aus Amman. Dies war der Auftakt zur sukzessiven Liquidierung der gesamten palästinensischen militärischen Präsenz in Jordanien, die mit dem Massaker in Ajlun im Juli 1971 endgültig vollzogen wurde. Insgesamt schätzt man zwischen 15.000 und 20.000 Opfer. Die politischen, organisatorischen und identitären Auswirkungen dieser ersten militärischen Niederlage wirken bis heute auf die palästinensische Bewegung nach.


1967: Niederlage und Umbruch

Die Niederlage der arabischen Regime im Krieg von Juni 1967 war nicht nur eine militärische der Armeen in einem schlecht geführten Krieg, sondern auch eine politische der "progressiven" arabischen Regime, vertreten durch Ägypten, Syrien und den Irak. Bis zu diesem Punkt waren der ägyptische Präsident Nasser und die Panarabisten die Träger der Forderungen und Träume der arabischen Massen gewesen.

Für die Palästinenser bedeutete diese Niederlage den Verlust der übrigen Teile Palästinas (Westjordanland und Gaza). Nach 19 Jahren des Wartens nach der Nakba, der Vertreibung aus Palästina im Jahr 1948, waren die Hoffnungen auf eine Befreiung Palästinas durch die arabischen Brüder zunichte gemacht worden. Die "Rückkehr nach Palästina" war weiter weg als zuvor. Das hatte eine direkte Konsequenz: Eine neue Generation beschloss, auf eine gesamtarabische Emanzipation nicht mehr zu warten, sondern die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Auch wenn die ersten bewaffneten palästinensischen Aktionen schon unmittelbar nach der Nakba stattgefunden hatten und in unterschiedlicher Intensität über die fünfziger und sechziger Jahre andauerten, gilt 1967 als das Geburtsjahr der modernen palästinensischen Befreiungsbewegung. Der bewaffnete Kampf erhielt den politischen Charakter eines Volkskrieges, der die palästinensische Identität als eine Antithese zum zionistischen Staat betonte.

So entstand, neben anderen kleineren Organisationen, aus den Reihen der Nasser-nahen Bewegung der Panarabisten (Al-Qaumiyun), die einen Palästina-Flügel gehabt hatte, der bald die gesamte Bewegung ersetzen sollte, die Volksfront zur Befreiung Palästina (PFLP). Aus dem Umfeld der Moslemischen Brüder entstand die Fatah, die dem Panarabismus ferngeblieben war und den konservativen Golfstaaten nahe stand. Diese baute ebenfalls ihren Militärflügel aus.

Die politischen, organisatorischen und identitären Auswirkungen des Schwarzen September wirken bis heute auf die palästinensische Bewegung nach.

Der militärische Zusammenbruch und die politische Pleite der repressiven arabischen Regime ermöglichten den Palästinensern einen bisher unmöglich gewesenen Bewegungsrahmen. Die progressiven Kräfte in Syrien, Jordanien und im Libanon schlossen sich dem palästinensischen Widerstand an.

Am östlichen Ufer des Jordans, im Flüchtlingslager Karama, wurde trotz anfänglicher Ablehnung des geschwächten jordanischen Regimes die erste Ausbildungsbasis der Fedayin gegründet.

Für die arabische Welt drückten die Fedayin den Widerstandswillen der geschlagenen Nation aus. Zusätzlich ermöglichte ihr Entstehen dem Regime, das Entsetzen über die Niederlage von 1967 in eine positive Richtung zu lenken und die Verantwortlichen in ihren Positionen zu belassen. Auf dem arabischen Gipfeltreffen von Khartum im August 1967 versöhnte sich der "progressive" Block um Nasser mit dem "reaktionären" Block um Saudi Arabien. Diese Annäherung setzte im Voraus die Grenzen, die vom palästinensischen Widerstand nicht überschritten werden durften.


Die Schlacht von Karama: die Geburt des Volkskriegsmythos

Die Aktionen der Fedayin intensivierten sich entlang der jordanischen Grenze, auf dem Golan und im Südlibanon und riefen israelische Vergeltungsangriffe hervor. Am frühen Morgen des 21. März 1968 griff die israelische Armee die jordanische Ortschaft Al-Karama und das gleichnamige Flüchtlingslager an. Etwa 250 schlecht bewaffnete Fedayin verteidigten mit allen Mitteln die Ortschaft, bis die Munition ausging. Gegen Mittag brachten die Israelis die Ortschaft unter Kontrolle und verbrachten den Nachmittag damit, die Ortschaft und das Lager systematisch dem Erdboden gleichzumachen. Die jordanische Armee, die sich anfänglich (offensichtlich auf königlichen Befehl) neutral verhielt, intervenierte zum Schluss und überraschte die israelischen Angreifer mit Artilleriebeschuss von den umliegenden Hügeln. Diese "Meuterei" jordanischer Offiziere änderte die Situation und zwang die Israelis zu einem ungeordneten Abzug, wobei israelische Verletzte und schwere Waffen am Schlachtfeld hinterlassen wurden. Israel gab etwa dreißig Tote, neunzig Verletzte, neun zerstörte Panzer bzw. Panzerwagen und ein abgestürztes Kampfflugzeug zu. Auf palästinensischer und jordanischer Seite waren die Verluste vergleichbar und entsprachen eigentlich der Hälfte der damals vorhandenen Vollzeitaktivisten der Fatah. Jedoch konnte der Vorfall als relativer Erfolg betrachtet werden. Die Araber hatten sich diesmal tapfer geschlagen.

Dieser isolierte militärische Erfolg wurde zum Geburtsmythos der Fedayin: Nur neun Monaten nach der Totalniederlage waren arabische Kämpfer in der Lage, die israelische Armee zu besiegen. Da sich die Linke aus taktischen Gründen aus Karama zurückgezogen hatte, war es die Fatah, die als Sieger dastand.

Die Karama-Schlacht hatte wichtige Konsequenzen für die Entwicklung der palästinensischen Bewegung:

1. Politische Anerkennung der Fatah-Führung seitens der arabischen Staaten. Fatah erhielt den größten Anteil an politischer, finanzieller und militärischer Unterstützung, wuchs schneller als die Linke und ebnete sich den Weg, die PLO zu kontrollieren.

2. Der Ansturm der Freiwilligen war größer als die Kapazität der Organisationen, diese politisch und militärisch auszubilden. Binnen kürzester Zeit vervielfachte sich die Anzahl der Fedayin in Jordanien auf etwa 3000 freigestellte Kämpfer und 12.000 Anhänger. Diese führte jedoch zu einem Mangel an Disziplin und politischem Bewusstsein.

3. Die Huldigung des "Volkskriegs" verursachte eine schnelle Militarisierung der Bewegung auf Kosten der palästinensischen und jordanischen zivilen Basisorganisationen. Um Anhänger zu gewinnen, musste sich jede Organisation militärisch beweisen. Dies wurde mit keiner ernsthaften Militärstrategie verknüpft und machte die Aktionen zum Selbstzweck.

4. Um weiteren israelischen Angriffe zu entgehen, wurden die Basen der Fedayin vom Jordantal an sicherere Orte in der Nähe der Städte und Lager verlegt. Die starke Präsenz der Fedayin in den Städten steigerte die alltäglichen Reibungen mit dem Staat.

5. Die gestärkte palästinensische Identität mündete in einen palästinensischen Nationalismus, der die Beziehung mit den Jordaniern und sogar den arabischen Freiwilligen graduell verschlechterte.

6. Verbitterung in der jordanischen Armee, deren wichtiger Beitrag in Karama verschwiegen wurde. Das Regime sollte später auf dieser Verbitterung seine Gegenstrategie aufbauen.


Flut und Ebbe

In den Monaten nach Karama verdreifachte sich die Anzahl der Guerillaaktionen entlang dem Jordan auf neunzig im Monat. Israel antwortete mit massivem Beschuss der Ortschaften am Ostufer, was zu einer weitgehenden Lähmung der Wirtschaft im Jordantal und zu einer Fluchtwelle von etwa hunderttausend Zivilisten nach Osten führte. Die Verschärfung der israelischen Sicherheitsmaßnahmen und die schlechte Bewaffnung der Partisanen beschränkten die militärische Effektivität dieser Aktionen. Das jordanische Regime verminderte graduell die Effektivität der Aktionen, indem in großen Abschnitten der Front die Infiltrationsmöglichkeiten durch Minen verhindert wurden. Bald durften die Fedayin nicht mehr im Gebiet südlich des Toten Meeres operieren.

Pläne, den Widerstand unter der Bevölkerung im besetzten Westjordanland zu verbreiten, scheiterten aus mehreren Gründen. Einerseits waren die meisten politischen Organisationen schon vor der israelischen Besetzung vom jordanischen Regime zerlegt und entwaffnet worden, andererseits verlangsamten die israelische Repression, die Verhaftung und Deportation von dreitausend politischen Aktivisten aus dem Westjordanland den Wiederaufbau der Bewegung. Hingegen spitzte sich der bewaffnete Widerstand im Gazasteifen, wo bessere Bedingungen herrschten, zu. "In Gaza regiert die israelische Armee am Tag und die PFLP in der Nacht", gab der israelische Verteidigungsminister zu.

Die Entwicklung des "Volkskriegs", der sich Kuba, Algerien und Vietnam zum Vorbild machte, führte zu einer Radikalisierung der panarabischen Teile der Bewegung, die sich nun als Teil einer Weltrevolution sahen. Die palästinensische Linke (vertreten durch PFLP und ihre Spaltung PDFLP) betrachtete eine Revolutionierung der arabischen Verhältnisse im marxistischen Sinn als Bedingung für den Sieg gegen Israel und proklamierte somit mehr oder weniger die Notwendigkeit des Sturzes des jordanischen Regimes. Die Fatah, die als größte Fraktion ausschlaggebend für diese Konfrontation war, hielt an der Doktrin der Nichteinmischung gegenüber den arabischen Regimen fest. Die Führung der Fatah glaubte, einen Status Quo mit den Regimen behalten und dieses unter Druck setzen zu können. Fatah übernahm das Erscheinungsbild der antikolonialen Bewegung, beschränkte sich ideologisch und politisch auf Guerillaaktionen zu Palästina und weigerte sich programmatisch, sich in die internen Angelegenheiten des Landes einzumischen.

Die Aktionen behielten ihren mobilisierenden Effekt bei den Massen. Die Partisanenaktivität beschäftigte auch mehrere Einheiten der israelischen Armee und entlastete dadurch die ägyptische Armee am Suezkanal und den neuentstandenen bewaffneten Widerstand im Gazastreifen. Nasser sah die Fedayin als Teil seiner Militärstrategie im Kampf gegen Israel.


Hussein bereitet den Gegenangriff vor

Wissend, dass die Kraft der palästinensischen Bewegung nicht in ihrem militärischen Gewicht, sondern in ihrer Popularität und der Verbindung zu den Massen steckt, suchte sich König Hussein zuerst Verbündete in der Bevölkerung. Genau wie die Massen der palästinensischen Flüchtlinge und die städtische jordanische Bevölkerung die soziale Grundlage der palästinensischen Bewegung und der jordanischen Opposition darstellten, boten die jordanischen Flüchtlinge aus dem Jordantal dem König die soziale Grundlage seiner Gegenstrategie.

In ihrer Selbstherrlichkeit vergaß die palästinensische Bewegung die Jordanier, die durch die Militäraktionen am Jordan ihre Lebensgrundlage verloren. Das Regime bot genau diesen Leuten eine neue Beschäftigung in seiner nach dem Krieg von 1967 erneuerten und professionalisierten Armee an. Der Staat war nach wie vor der größte Arbeitgeber für die Ostjordanier.

Sowohl die palästinensische Bourgeoisie in Amman als auch die Fedayin verabsäumten die Möglichkeit, eine Alternative anzubieten. Vielmehr kostete das neuentstandene Palästinensertum die Bewegung die letzten Sympathien der Ostjordanier. Die Forderung der Linken nach einer patriotischen Regierung (und später nach dem Sturz der Monarchie und der Errichtung einer progressiven Republik) wurde seitens der Ostjordanier mit einer Machtübernahme der Palästinenser gleichgestellt. Die palästinensische Bourgeoisie fand sich zwar im neuen palästinensischen Patriotismus wieder, blieb gegenüber einer "Volksmacht" aber skeptisch.

Innerhalb der Armee unternahm das Regime eine "Ideologisierungskampagne" mit dem Ziel, einerseits das Selbstvertrauen der Armee nach der Niederlage von 1967 wiederherzustellen und andererseits diese gegen Einflüsse "schädlicher Ideologien" zu wappnen. Das Feindbild waren die "Kommunisten", "Anarchisten" und "entmannte städtische Intellektuelle". Koran-Bücher in Taschenformat wurden gedruckt und an die Soldaten verteilt. Diese sollten "als Gegengewicht zu Maos Rotem Buch" dienen.

Zusätzlich gründete das Regime Ende 1969 partisanenähnlichen Truppen. Diese Milizen mit dem formalen Namen "Volkswiderstand" und später "Volksarmee" waren in Wahrheit die paramilitärischen Truppen des Regimes. Ihr Zulauf war ein Erfolgsindikator für die medialen Kampagnen des Regimes.

Durch Ausschreitungen der undisziplinierten Fedayin diskreditierten sich diese selbst. Ohne bewusste Strategie das Regime zu stürzen, verletzten Anhänger der Fedayin täglich die Staatsautorität und gaben dem Regime Vorwände zur Intervention im Namen der Ordnung. Wo sich die Fedayin zurücknahmen, sorgte die "Spezialabteilung" des jordanischen Geheimdiensts für die Rufschädigung durch Aktionen, die den Fedayin zugeschrieben wurden.

Nachdem das Jahr 1969 ein Rekordjahr für Guerillaaktionen (über 200 Aktionen im Monat) darstellte, fühlte das Regime sich zu Ende des Jahres stark genug, offensiver gegen die Fedayin vorzugehen.


Wenn die Großen reden: der Rogers-Plan

Anfang 1970 vermehrten sich die diplomatischen Initiativen in der Region, um auf der Basis der UNO-Resolution ein Friedensabkommen zwischen den arabischen Staaten auf der einen Seite und Israel auf der anderen zu erreichen. Die Palästinenser fühlten sich zu Recht als die Hauptverlierer in diesem Prozess. Für sie, die gerade drei Jahre davor den Rest Palästinas durch das Scheitern der arabischen Regime verloren hatten, bedeutete die Anerkennung Israels seitens derselben Regime auf 75 Prozent der Fläche Palästinas eine Liquidierung der Palästina-Frage. Die vage erwähnte "faire Lösung der Flüchtlingsfrage" lieferte den Palästinensern keine Garantie. Sie beantworteten dies mit einer Intensivierung der Guerillaaktionen, der Radikalisierung des politischen Diskurses und zunehmender Machtdemonstration in Amman.

Die erste Konfrontationsrunde fand bereits in Februar 1970 statt, als die jordanische Regierung Beschlüsse zur "Wiederherstellung der Ordnung" verabschiedete, die unter anderem die Bewegungsfreiheit der Fedayin durch Ausweispflicht für Personen und Wagen einschränkten, Waffentransport innerhalb der Städte, Massendemonstrationen und Parteigründungen verboten und die Pressezensur wieder einführten.

Diese Provokation bedeutete für die Fedayin den Versuch des Regimes, der Bewegung die schützende Unterstützung durch die Massen zu entziehen. Diese traten daher geschlossen dagegen auf und mobilisierten ihre Kräfte in den Städten. Der Versuch der Armee, die Regierungsbeschlüsse durchzusetzen, mündete in eine militärische Auseinandersetzung mit den Partisanen, die erst durch arabische Vermittlung endete. So kurz die Konfrontationen vom Februar waren, stellten diese eine qualitative Wende in der Beziehung zwischen Regime und Fedayin dar. Das Regime wollte offenbar seine Kraft testen. Eine größere Konfrontation wurde erwartet.

Diese Ereignisse riefen eine heftige Debatte innerhalb der palästinensischen Bewegung hervor. Die organischen Differenzen kamen stark zum Ausdruck und verlangsamten das gemeinsame Handeln: Während die Linke zu Eskalation tendierte und auf Konfrontation zusteuerte, glaubte die Fatah durch Kompromisse mit dem Regime zum einzigen politischen Ansprechpartner werden zu können. Das Regime half der Fatah in dieser Logik, indem es immer seine Kompromissbereitschaft mit moderaten Elementen betonte.

Beide Tendenzen setzten auf die Unterstützung der Massen und übertrieben ihre Rolle. In Wirklichkeit waren keine ausgereiften politischen Massenorganisationen vorhanden. Der Slogan "Die Massen schützen die Revolution", der nach den Gefechten von Februar 1970 erschien, blieb ein Slogan. In den nächsten Monaten fanden weitere Konfrontationen statt.

Bisher war das moralische Gewicht des nach wie vor beliebten ägyptischen Präsidenten Nasser sowie die Präsenz von irakischen Armeeeinheiten in Jordanien der Garant dafür, dass das jordanische Regime keine Totalliquidierung der Bewegung wagen und sich mit einem Stellungskrieg um seine Autorität begnügen würde. Vielmehr geriet das Regime unter den politischen Druck der Massen und wurde zu Kompromissen mit der Bewegung gezwungen, was das Selbstvertrauen der Fedayin und besonders der Linken stärkte.

Eine qualitative Wende im Konflikt kam erst, als Nasser akzeptierte, sich mit dem Friedensplan des US-amerikanischen Staatssekretärs William Rogers "positiv auseinanderzusetzen". Der am 19. Juni 1970 ausgerufene Plan Rogers basierte auf der UNO-Resolution 242 und sah daher eine Anerkennung Israels seitens der arabischen Staaten gegen einen israelischen Teilabzug aus den besetzten Gebieten vor. Noch schwerwiegender war, dass Nasser dadurch einen Waffenstillstand akzeptierte und somit alle Militäraktionen entlang des Suezkanals einstellte. Der Zermürbungskrieg war somit offiziell beendet. König Hussein willigte seinerseits ein und erklärte die Einstellung aller militärischen Aktionen entlang der Front, was mit einer Intensivierung der Guerillaaktionen seitens der Palästinenser beantwortet wurde.

Nun richtete sich der Zorn der Palästinenser auf Nasser, gegen den zum ersten Mal palästinensischen Massendemonstrationen stattfinden. Der mediale Angriff auf Nasser hatte verheerende Folgen: Nasser vertrieb Hunderte linker Palästinenser der PFLP und DFLP aus Kairo und stoppte das Senden von Radio Palästina aus Kairo. Er soll auch König Hussein grünes Licht für Repressalien gegeben haben.

Der Schwenk Nassers zwang die Palästinenser zu mehr Aktion. Ahnend was auf sie zukam, setzten sie sich das Ziel, den Waffenstillstand "mit allen Mitteln" zunichte zu machen. Um die ägyptisch-amerikanische Annäherung zu stören, entführte die PFLP am 5. September 1970 ein Flugzeug der PanAmerican nach Kairo und sprengte es nach Freilassung der Passagiere auf der Landebahn. Drei weitere Flugzeuge wurden zum selbsterrichteten "Revolutionsflughafen" der PFLP in die jordanischen Wüste entführt. Die PFLP wollte damit "dem internationalen Nervensystem einen Schlag versetzen" und kündigte weitere Aktionen an, um die "Kräftebalance zu bewegen, auf der die internationale und arabische Verschwörung gegen die Palästina-Frage beruht". Die Palästinenser sahen sich als die einzige Kraft, die den Rogers Plan torpedieren könnte. Die Aktionen waren zwar ein verzweifelter Schrei einer Bewegung in Krise, jedoch haben die palästinensischen Organisationen ihre Kraft maßlos überschätzt. Keiner glaubte, dass es zum Ausrottungskrieg kommt.

Diese Zuversicht beruhte auf mehreren Elementen:

1. Einer übertriebenen Zuversicht in die Massenunterstützung

2. Explizite Zusicherungen seitens der irakischen Regierung, dass die in Jordanien stationierten Einheiten der irakischen Armee eine Liquidierung des Widerstands in Jordanien verhindern würden

3. Die Erwartung einer Bewegung freier Offiziere in der jordanischen Armee, welche die Situation mit einem Militärputsch retten würde.

4. Unerfahrenheit gegenüber dem jordanischen Regime, das die palästinensische Führungen nur in den Phasen seiner Schwäche (1967-69) kannten und dessen Entschlossenheit und Fähigkeit sie völlig unterschätzten.


Der Countdown zum Massaker

Im Gegensatz zum verbreiteten Glauben, der Schwarze September wäre eine Reaktion des Regimes auf die Flugzeugentführungen der PFLP gewesen, begann dieser tatsächlich Wochen davor. Schon in letzten Augusttagen wurden die Basen der Fedayin im Süden belagert und "evakuiert". Am 31. August bombardierte die Artillerie massiv die Flüchtlingslager um Amman. Weitere Zusammenstöße fanden im Norden statt und hinterließen Hunderte von Toten. Die Gewalt hielt kurz inne, als Offiziere der jordanischen Armee (genau jene, die auch in Karama gekämpft hatten) gegen die Pläne des Königs protestierten. Als dann der König die Armeeführung auswechseln konnte, entließ er auch die Regierung und rief eine Militärregierung aus. Diese verhängte den Ausnahmezustand und forderte alle Fedayin offiziell auf ihre Waffen abzugeben. Die Totalkonfrontation begann an dem Tag, als die PLO zu einem Generalstreik gegen die neue Regierung aufgerufen hatte, dem 16. September.

Was in diesen zwölf Septembertagen geschah, war ein massiver Angriff der jordanischen Armee, der das Ziel hatte, Amman blitzartig einzunehmen und neue Tatsachen zu schaffen, bevor Nasser sein grünes Licht für "begrenzte Repressalien gegen die radikalen Elemente" zurücknehmen konnte. Es hat sich gezeigt, dass die Fedayin schlussendlich für diese Konfrontation keine seriösen Vorbereitungen getroffen hatten, weder militärisch noch in der Organisation der Zivilbevölkerung und der Medizin- und Wasserversorgung. Dies führte in mehreren Vierteln der Stadt zu einem schnellen Kollaps der ohnehin schlecht bewaffneten Milizen. An anderen Orten schlugen sich die Fedayin besser und verzögerten den Vormarsch der Armee. Sie kämpften ohne militärischen Gesamtplan, verhielten sich in den meisten Abschnitten defensiv und warteten auf die Angreifer. Beim Waffenstillstand waren noch das Stadtzentrum und den Louibda-Viertel in ihrer Hand.

Zum Erstaunen der Palästinenser weigerte sich die irakische Armee, zu intervenieren. Ganz im Gegenteil zog sich diese aus ihren Positionen im Norden des Landes nach Osten zurück, um der jordanischen Armee nicht in die Quere zu kommen. Die Erwartung, dass eine Bewegung innerhalb der jordanischen Armee dieses Szenario verhindern würde, stellte sich als Illusion heraus. Jedoch liefen Tausende jordanische Soldaten tatsachlich zu den Fedayin über. Dies trug im Norden zur besseren Verteidigung bei. Durch das Fehlen eines Offensivplans konnte dieses Potenzial jedoch nicht genützt werden.

Was niemand erwartet hatte, war am 20. September der Einmarsch der syrischen Armee im Norden. Diese gab den Palästinensern neue Hoffnung und der König kündigte sogar einen einseitigen Waffenstillstand an. Der syrische Einmarsch hatte internationales Echo hervorgerufen: Die USA gaben den Sowjets eine Warnung, die Syrer sollen sich aus Jordanien zurückziehen. Flüge der israelischen Luftwaffe warnten vor einer israelischen Intervention. Am 22. September zog sich die syrische Armee nach massivem Bombardement seitens der jordanischen Luftwaffe zurück: Der Anführer der syrischen Luftwaffe und spätere syrische Präsident Hafez Assad weigerte sich, der eigenen Armee Luftdeckung zu geben. Mit dem Abzug der Syrer schwand die letzte Hoffnung der Palästinenser auf eine Verbesserung der Lage.

Am 24. September brach Nasser sein Schweigen und forderte eine Einstellung der Kämpfe. Ägyptische Diplomaten schmuggelten Arafat nach Kairo, wo ein arabisches Gipfeltreffen ausgerufen wurde. Der beschlossene Waffenstillstand sah einen Abzug der Fedayin aus Amman in Basen im Norden des Landes und eine Neuregulierung der Verhältnisse zwischen Staat und Fedayin vor, womit die uneingeschränkte Autonomie der Fedayin beendet wurde.

Auch wenn das Abkommen den Fedayin politisch mehr bot als sie angesichts des militärischen Kräfteverhältnisses erwarten durften, bedeutete es eine Trennung von den Massen in den Städten, deren Schutz sie genossen. Die Fedayin wurden dadurch auf die Schlachtbank geführt.

Schwarz wurde der Monat mit dem Tod Nassers, der wenige Stunden nach diesem Abkommen einen Herzinfarkt erlitt und starb. Die Palästinenser verloren dadurch den letzten politischen und moralischen Schutz. Bald wurde auch in Syrien die linke Baath-Regierung durch Hafez Assad gestürzt, der für die Fedayin nichts übrig hatte.

Der Schwarze September war weder der Anfang noch das Ende der Liquidierung der palästinensischen Bewegung in Jordanien, sondern der Höhepunkt eines Prozesses. In den kommenden Monaten wurden die Basen der Fedayin in den Städten und am Land sukzessive liquidiert. Die Hilfeschreie der PLO wurden von den arabischen Regimen nicht mehr gehört. Das jordanische Regime ignorierte die leisen Verurteilungen seitens der arabischen Liga und des Waffenstillstandskomitees, das sich bald aus Protest auflöste.

Im Juli 1971 griff die jordanische Armee die letzte Basis der Fedayin bei Ajlun im Norden des Landes an. Hunderte Partisanen kamen dabei um. Die Überlebenden gerieten in Gefangenschaft oder konnten die syrische Grenze erreichen. Mit der Vertreibung aus Jordanien verlor die palästinensische Bewegung ihre wichtigste Basis: die längste Front mit dem besetzten Land und dem größten palästinensischen Bevölkerungsanteil. In den Siebzigern sorgte die Repression des Regimes und die durch Ölphase entspannte Wirtschaft dafür, dass die Bewegung fast vollständig entwurzelt wurde. Wer noch für Palästina kämpfen wollte, zog in den Libanon.

Im Libanon durften die Palästinenser in keinem Grenzabschnitt an Nordpalästina operieren. Der glatte Wechsel in der palästinensischen Literatur von "palästinensischer Revolution" zum "palästinensischen Widerstand" war nicht nur ein rhetorischer Schwenk: Er entsprach der politischen Konjunktur in der Region.


Nachhaltiger September

Über die Niederlage in Jordanien wurde in der palästinensischen Literatur relativ wenig geschrieben. Einerseits lebt die Mehrheit der Palästinenser in Jordanien und im Westjordanland und ist somit materiell von einem guten Verhältnis zum jordanischen Regime abhängig. Andererseits blieb die Selbstkritik der Bewegung oberflächlich und hatte keine Konsequenzen. Die geschlagenen Führungen kamen aus Jordanien in den Libanon, verdrängten die lokalen Führungen und reproduzierten die Fehler von Jordanien bis zur israelischen Invasion von 1982.

Was in Jordanien offensichtlich wurde, waren Hauptcharakteristika der palästinensischen Bewegung, die gleichzeitig ihre Stärken und Schwächen und somit ihre Grenzen aufzeigen.

1. Die Vertreibung von 1948 schuf zwar eine palästinensische Identität, die sich von der gesamtarabischen differenziert. Diese Identität verhalf den Palästinensern, sich von der "Trägheit der Masse" hinsichtlich des gesamtarabischen Befreiungsprojekts zu trennen und schnellere Schritte in Richtung Volkskrieg zur Befreiung Palästinas zu machen. Unfähig, das arabische Befreiungsprojekt fortzuführen, geschweige denn, Palästina zu befreien, begrüßten die arabischen Regime sowohl in ihren progressiven als auch ihren konservativen Exponenten das Entstehen einer separaten palästinensischen Bewegung. Dies hatte mehrere Vorteile: Die Palästina-Frage wurde delegiert und graduell vom Versprechen, Palästina zu befreien, losgelöst. Die eigene Verantwortung für die Niederlage gegenüber Israel konnte vertuscht werden. Die Gefahr, die von einer großen Masse an politisierten Flüchtlingen ausgeht, konnte minimiert und die gesamte Thematik von inländischen Themen getrennt werden. Letztlich wurden die inneren Spannungen kanalisiert, politischer Aktivismus in Richtung Palästina exportiert (in den 1980ern übernahm Afghanistan diese Rolle).

2. Der Rogers-Plan scheiterte schließlich an der israelischen Weigerung, aus den besetzten Gebieten abzuziehen. Jedoch gilt er als die offizielle Wende in der arabischen Position: Die arabischen Staaten gaben das Ziel, Palästina gänzlich zu befreien, endgültig auf. Es folgten weitere US-amerikanische und arabische Initiativen, die für die Palästinenser noch schlechter ausfielen. Die Liquidierung hat mit Rogers begonnen.

3. Die palästinensische Bewegung war nur innerhalb einer bestimmten internationalen und regionalen Konjunktur möglich. Genau so wie die erste Welle dem Rogers-Plan zum Opfer fiel, fiel die zweite Welle im Libanon dem Camp David-Abkommen zwischen Ägypten und Israel zum Opfer. Ebenso endeten die erste und die zweite Intifada mit den regionalen Konjunkturwechseln nach den ersten und zweiten Golfkriegen.

4. Nur die palästinensische Rechtsströmung, verkörpert durch Arafat, konnte das verstehen und sich durch verheerende Kompromisse eine nachhaltige politische Existenz sichern. Die Linke begriff die Notwendigkeit, auf die veränderte globale Konjunktur zu reagieren, blieb jedoch in den palästinensischen Verhältnissen gefangen und war nicht in der Lage, die für eine Veränderung notwendige politische Infrastruktur zu kreieren.

5. Der Anspruch der Palästinenser, Palästina zu befreien, ist auch in seinen minimalistischsten Ausdrücken konfrontativ. Die palästinensische Bewegung verfehlte über ihre ganze Geschichte diesen Anspruch, dem nur durch Widerstandsaktionen Nachdruck verliehen wurde, die jedoch nicht mit einem politischen Programm bzw. einer Militärstrategie verknüpft wurden. Undurchdachte Militarisierung überwog die Versuche, die Gesellschaft für einen langwierigen Kampf zu organisieren. Die somit zu erwartenden Niederlagen dienten dazu, den Opportunismus der Rechten zu rechtfertigen.

Die palästinensischen Verantwortlichen für die Niederlage vom Schwarzen September führte die Bewegung mit demselben Stil in ihre weiteren historischen Niederlagen bis hin zum Oslo-Abkommen. Sie leben heute in Ramallah ihren letzten Akt als Zuständige für Israels Sicherheit in einer palästinensischen Kollaborationsbehörde.


Informationsquellen:

Ziad Sayegh: Armed Struggle and the Search for a State: The Palestinian National Movement, 1949-1993 (1997); ISBN 0198292651

Washington Post, 21.12.1971, Interview mit Colonel Maan Abu Nuwar, Leiter der "Abteilung für Mobilisierung und Moralische Anleitung" der jordanischen Armee

Al-Hadaf, Zeitschrift der PFLP, 5. und 19. September 1970 (in arabischer Sprache)

Shu'un Filistiniyyah, Nr. 2, Mai 1971 (in arabischer Sprache)

Al-Thawra Al-Failastiniya, Zeitschrift der Fatah, Februar 1970 (in arabischer Sprache)

Les révolutionnaires ne meurent jamais: Conversations Georges Habache avec Georges Malbrunot, ISBN 2213630917, 9782213630915 (in französischer Sprache)

Ghassan Kanafani, Interview mit "New Left Review", Nr. 67, 1971 (in englischer Sprache)


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Schlachtfeld Flüchtlingslager Karama 1968: dem Erdboden gleich gemacht

Raute

AUTOR/INNEN

Yasser Abdallah geboren 1982 in Kairo. Lebt als Schriftsteller und Übersetzer ebendort. Beteiligte sich als antiautoritärer Aktivist an der jüngsten Demokratiebewegung.

Mohammad Aburous geboren 1976 In Palästina. Lebt derzeit in Österreich. Studierte technische Chemie an der TU Wien und dissertierte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Mitgestalter des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums in Wien.

Sebastian Baryli geboren 1979 in Wien. Studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Journalist in Wien. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination (AIK).

Gernot Bodner geboren 1974 in Bruck an der Mur. Studierte an der Universität für Bodenkultur in Wien. Intensive Reisetätigkeit vor allem nach Südamerika. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination (AIK).

Hisham Bustani ist Schriftsteller und politischer Aktivist. Er publiziert In al-Akhbar (Libanon) und al-Quds al-Arabi (London) sowie in der arabischen Literaturzeitschrift al-Adab (Libanon). Seine Artikel wurden auf Englisch, Spanisch, Italienisch, Französisch und Deutsch übersetzt. Er publiziert auch Belletristik, so etwa die Erzählungen: Über Liebe und Tod (Beirut: Dar al-Farabi, 2008) und Das monotone Chaos der Existenz (Beirut: Dar al-Farabi, 2010).

Frigga Karl geboren 1941 in Kapfenberg, Steiermark. Studium des Französischen und Englischen. Übersetzt als Gerechtigkeitsaktivistin politische Artikel besonders zum Konflikt im Nahen Osten.

Bjarne Köller geboren 1982, Student in Graz.

Wilhelm Langthaler geboren 1969. Arbeitet als technischer Angestellter in Wien. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination (A1K). Zahlreiche Reisen zu den Zentren des Widerstands, Insbesondere am Balkan, in den Nahen Osten und auf dem Indischen Subkontinent. Koautor des Buches Ami go home., erschienen im Promedia Verlag.

Ali Nasser geboren 1973 in Damaskus. Studierte Informatik an der TU Wien. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination (AIK).

Moreno Pasquinelli geboren 1957 in Foligno, Italien, von Beruf Koch, ist Sprecher der italienischen Sektion des Antiimperialistischen Lagers.


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Die Zeitschrift Intifada ist ein Forum für Information und Diskussion und will damit einen Beitrag zur Zusammenarbeit der mit der palästinensischen Bewegung solidarischen Kräfte im deutschsprachigen Raum leisten.


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Impressum

AIK
www.antiimperialista.org

Medieninhaber, Herausgeber und Verleger:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien, Österreich;
Verlags- und Herstellungsort: Wien; Druck: Printfactory, Wien
Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz der Republik Österreich:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien
Grundlegende Richtung: Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

Redaktion
Mohammad Aburous, Margarete Berger, Gernot Bodner, Stefan Hirsch,
Wilhelm Langthaler

Kontakt
www.intifada.at
Antiimperialistische Koordination
Postfach 23, 1040 Wien, Österreich
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Bank: BAWAG (BLZ 14000)
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Quelle:
Intifada Nummer 33 - Frühjahr/Sommer 2011
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand
Internet: www.antiimperalista.org/intifada.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2011