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IZ3W/205: Editorial von Ausgabe 317 - Ein harter Winter


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 317 - März / April 2010

Editorial
Ein harter Winter


Der Frühling naht, und so lässt sich eine erste Bilanz dieses Winters ziehen. Kurz gesagt: Er war in vielerlei Hinsicht hart. Fast konnte man in den letzten Monaten glauben, die Natur wolle sich für das Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen rächen. Weltweit traten Wetterextreme auf: Im Norden war Frieren und Schnee schaufeln angesagt, im Süden brachten Dürren oder Tropenstürme viele Menschen in existenzielle Not.

Verständlich wäre die Reaktion der Natur: 'Kopenhagen' war ein einziges Desaster und offenbarte die vollkommene Handlungsunfähigkeit der 'internationalen Gemeinschaft', wenn es wirklich drauf ankommt. Nicht einmal bescheidene Reduktionsziele wurden verbindlich festgelegt, es dominierten gegenseitige Schuldzuweisungen, und allen gemein war der Glaube, Markt und »saubere« Technologie werden es schon richten. Handlungsstärke bewies man nur in einer Hinsicht: Die Demonstrationen gegen den Klima-kaputt-Kapitalismus wurden polizeilich behindert und die »Zivilgesellschaft« vom Kongresscenter ausgesperrt - weil sie sich dieses Mal kaum für die Selbstbeweihräucherung von PolitikerInnen einspannen ließ, wie schon oft geschehen.

Kritische Geister hatten bereits geahnt, dass in Kopenhagen bestenfalls Stillstand erreicht wird. Dass sie Recht behielten, ärgert sie selbst am meisten. Manche begrüßten im Nachhinein das Scheitern, weil es immerhin jedem die Misere der Klimapolitik vor Augen führt. Eine nachvollziehbare Position, bei der man allerdings aufpassen muss, dass sie nicht in Defätismus oder Zynismus endet.

Endgültig in realexistierenden Zynismus abgeglitten ist in diesem Winter die deutsche Afghanistanpolitik. Eigentlich hätte es einen allgemeinen Aufschrei geben müssen, dass ein deutscher Oberst in Carl-Schmitt-Manier Feinde »vernichten« will - und ungehindert zur Tat schreiten konnte. Das Ergebnis waren laut offiziellen Angaben »mindestens 142 Tote« (da es sich bloß um afghanische Zivilisten handelt, kommt es beim body count nicht auf Genauigkeit an). Doch das Massaker von Kundus rief kaum mehr hervor als den Rücktritt eines ohnehin abgehalfterten Ministers und ein Parteiengeplänkel, das nun bezeichnenderweise in einen Ausschuss verlagert wurde. Derweil konnte die Bundesregierung im Januar unbehelligt beschließen, noch mehr Soldaten nach Afghanistan zu entsenden. Und sich an der Finanzierung einer »Abwrackprämie für Taliban« zu beteiligen - so die unübertroffen zynische, wenngleich sachlich zutreffende Formulierung von CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt.

Die Lage in Afghanistan ist aber nicht nur aufgrund der militärischen Intervention desaströs. Die Taliban und viele Warlords geben sich ihrerseits größte Mühe, die Bevölkerung zu terrorisieren. Sie sind dabei in diesem Winter erfolgreicher denn je. Niemand, der auch nur die grundlegendsten Menschenrechte geachtet sehen will, kann sich wünschen, Afghanistan diesen Kräften zu überlassen. Doch auf nichts anderes läuft derzeit die Forderung »Besatzer raus« hinaus. Eine völlig verfahrene Situation, aus der keine simple Exit-Lösung heraushilft. Bitter.

Als wären das alles nicht schon genug Tiefschläge in diesem Winter, ereignete sich ausgerechnet in Haiti ein verheerendes Erdbeben. Warum müssen solche Katastrophen immer diejenigen treffen, die ohnehin geschunden werden? Und als wäre das Erdbeben nicht schon grausam genug, musste Haitis Bevölkerung auch als Objekt für Charity-Veranstaltungen wie die »ZDF-Spendengala« herhalten. Schon oft ist die stereotype Darstellung 'armer schwarzer Menschen' und der Paternalismus der Nothilfe kritisiert worden. Allein, alle Aufklärung hat nichts bewirkt.

Nicht anders als in Afghanistan gibt es in Haiti ein weiteres Dilemma: Die erneute Einrichtung eines Protektorats ist gewiss nicht wünschenswert. Doch das Land ausgerechnet jetzt sich selbst zu überlassen, hilft auch nicht weiter. Immerhin gibt es mittlerweile ein recht verbreitetes Problembewusstsein, dass in Haiti ein grundlegender Neuanfang notwendig ist, bei dem die Bevölkerung im Vordergrund steht.

Einen blassen Hoffnungsschimmer gibt es auch in einem anderen schlimmen Fall: Der Bundesgerichtshof hob im Januar den Freispruch des Polizisten Andreas S. auf. In einem neuen Prozess soll nun verhandelt werden, wie es zum Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh kam, der 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte. Im ersten Prozess unterliefen Andreas S. und seine Kollegen jeglichen Versuch des Gerichts, den Fall aufzuklären. Der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff gab seiner Resignation offen Ausdruck: Polizeibeamte hätten im Zeugenstand »bedenkenlos« falsch und unvollständig ausgesagt. »Ich habe keinen Bock, zu diesem Scheiß noch irgendwas zu sagen« - mit diesen Worten schloss er die Verhandlung.

Nicht nur der Richter, auch ein Tatort-Kommissar hat im Fall Jalloh Klartext geredet. Es war eine Sternstunde des deutschen Fernsehens, als Axel Milberg vor einigen Jahren in die Talkshow »3 nach 9« eingeladen war - und dann zur Verblüffung des Moderators nicht über seine Rolle als Kommissar Borowski sprach, sondern minutenlang den Corpsgeist der Dessauer Polizei geißelte. Eine kleine Wiedergutmachung dafür, dass so mancher Tatort klischeehafte Bilder verbreitet (siehe Seite 40).

Ein schönes Frühjahr, in dem alles besser wird,
wünscht

die redaktion


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 317 - März / April 2010


Themenschwerpunkt:
No he can't - US-Außenpolitik in alten Mustern


INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Ein harter Winter


Politik und Ökonomie

Entwicklungspolitik: Ein zufälliger Treppenwitz
Unter liberaler Führung macht sich das BMZ unwichtig
von Paul Freude

Kuba: Reis und Bohnen
Wohin führen Raúl Castros Reformen den kubanischen Sozialismus?
von Sören Scholvin

Klimapolitik: No Gender
Der Klimagipfel versagte auch bei der Geschlechtergerechtigkeit
von Ulrike Röhr

Guinea: Ein militärischer Ohnmachtsbeweis Guinea zwischen Furcht vor Gewalt und Hoffnung auf Demokratisierung
von Joschka Philipps

Antisemitismus: Völkische Projektionen
Antisemitismus in der ethnologischen Afrikaforschung
von Florian Eisheuer


Schwerpunkt: US-Außenpolitik

Editorial: US-Außenpolitik

Quicker on the Trigger
Obamas Außenpolitik oszilliert zwischen Dialog und Drohnen
von Richard Gebhardt und Jannis Kompsopoulos

Immer auf der Kippe
Die USA und ihr wechselhaftes Verhältnis zu Israel
von Michael Hahn

Ein smarter Hinterhof
Lateinamerika hegt gegenüber Obamas Politik keine großen Hoffnungen mehr
von Tobias Lambert

Yes we might
Obamas Entwicklungs- und Afrikapolitik verharrt in Warteposition
von Jan Bachmann

Vereint gegeneinander
Konkurrenz und Kooperation der Weltmächte USA und China
von Sören Scholvin

»Der Obama-Effekt untergräbt die Linke«
Interview mit Peter Hudis und Kevin Anderson über US-Außenpolitik


Kultur und Debatte

Debatte: So einfach ist es nicht
Eine Replik auf die Kritik der Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«
von Christian Stock und Udo Wolter

Kunst: Ich bin wer
Das postkoloniale Fotoprojekt Stagings Made in Namibia
von Dag Henrichsen

Rassismus: Tatortbesichtigung
Postkoloniales und Rassistisches in der sonntäglichen Krimiserie
von Stephan Cohrs

Gender: Trans-Formiert!
Das erste Festival für Transgender-Identitäten in Buenos Aires
von Daphne Ebner

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 317 - März / April 2010, S. 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2010