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IZ3W/214: Rezension zum Thema Europa, Außenpolitik und die Bedeutung Mittel- und Südosteuropas


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 318 - Mai / Juni 2010

Vorbild Europa und die Modernisierung in Mittel- und Südosteuropa. &
»Der ganze Südosten ist unser Hinterland«.

Von Markus Bitterolf


Wischiwaschi - dieser Ausdruck eignet sich recht gut, um den Inhalt von Vorbild Europa und die Modernisierung in Mittel- und Südosteuropa zu charakterisieren. Der Band versammelt Beiträge einer Konferenz, die 2005 im rumänischen Iasi mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Goethe-Zentrums veranstaltet wurde. Thematisch geht es um die Art der Auf- beziehungsweise Übernahme westeuropäischer Vorbilder und Modelle im 19. und 20. Jahrhundert in Ungarn, Bulgarien, Kroatien, der Slowakei und Rumänien.

Die theoretische Klammer der Aufsätze kann am ehesten als abgespecktes Modernisierungsparadigma gefasst werden. Neben so unterschiedlichen Beiträgen wie »Das Postwesen als Modernisierungsfaktor in der Krain« oder das Verhältnis der rumänischen Kirche zum Säkularisierungsprozess finden sich in dem Band nicht nur viele unkritische Passagen über den Charakter kapitalistischer Modernisierung, sondern auch ein genereller Tenor, der das »Projekt« der »europäischen Integration« theoretisch legitimieren will. Zur deutschen Außenpolitik, die wirtschaftspolitisch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle in Mittel- und Südosteuropa gespielt hat, erfährt man wenig Erhellendes. Das ist nicht nur der recht speziellen Themenauswahl geschuldet, vielmehr drängt sich der Eindruck auf, als handele es sich hierbei um ein bewusstes Ausklammern. Denn sonst müsste die lange Geschichte der »Europäisierung«, die bis zum heutigen EU-Integrationsprozess reicht, in einem anderen Licht dargestellt werden.

Wie affirmativ und unkritisch der Band letztlich ist, wird im Kontrast zum luzide geschriebenen Buch von Klaus Thörner deutlich. Thörner analysiert in Der ganze Südosten ist unser Hinterland Geschichte und Konzeptionen deutscher Macht- und Wirtschaftspolitik gegenüber den Ländern Südosteuropas, vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Deutlich zeigen sich hierbei die Kontinuitäten in Ideologie und Politik deutscher Kreise - von Politikern über Unternehmensverbände bis hin zum Militär. Zudem konnten die Eliten auf einen antislawischen Konsens in der deutschen Gesellschaft bauen.

»Der ganze Südosten ist unser Hinterland« ist eine Forderung, die Friedrich List, einer der Begründer der deutschen Volkwirtschaftlehre, schon 1840 aufstellte. Sie muss rückblickend als anhaltende Projektion, als ideologische Zielsetzung deutscher Außenpolitik verstanden werden: als zu gewinnender »Lebensraum«, wie sich der Geopolitiker Friedrich Ratzel bereits 1901 ausdrückte, und als ökonomischer Teil »Mitteleuropas« im Sinne des 'liberalen' Nationalisten Friedrich Naumann. Wenig später galt Südosteuropa als geopolitische »Ergänzungswirtschaft« eines nationalsozialistisch beherrschten Europas, das es - dem antisemitischen Wahn gemäß - gegen das »internationale Judentum« zu verteidigen galt. Thörner ist eine quellen- und aufschlussreiche Arbeit durch ein Jahrhundert deutscher Südosteuropapläne gelungen, der viele LeserInnen zu wünschen sind.

Flavius Solomon, Krista Zach, Juliane Brandt (Hg.):
Vorbild Europa und die Modernisierung in Mittel- und Südosteuropa
LIT-Verlag, Berlin-Münster 2009. 308 Seiten, 39,90 Euro

Klaus Thörner:
»Der ganze Südosten ist unser Hinterland«
Deutsche Südosteuropapläne von 1840 bis 1945
ça ira-Verlag, Freiburg 2008. 580 Seiten, 38,00 Euro


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 318 - Mai / Juni 2010


Themenschwerpunkt:
Klare Fronten - Alte und neue Grenzregimes

Allen Debatten von der "De-Nationalisierung" zum Trotze durchziehen zahlreiche Grenzen den gesellschaftlichen Alltag. Der angebliche Abbau von Grenzen in Europa bedeutet nichts anderes als deren Verlagerung, nach innen wie nach außen. Schlussendlich dreht sich vieles weiterhin um die spezifische, historische Grenze: Die alt-umkämpfte Landesgrenze im Raum und in den Köpfen. Ihre Wirkungsmacht hat sie nicht verloren, nur sieht man sie mitunter nicht mehr.

Ein ernsthaftes Problem der begrenzten Welt sind die vielen Menschen, die den Grenzen auch heute zum Opfer fallen. Um von der armen zur reichen Hemisphäre zu gelangen, sterben tausende Menschen schon bei dem Versuch, die Außengrenzen Europas zu überwinden. Der Themenschwerpunkt folgt der Frage, wie sich über Grenzen die so genannte Herkunft konstituiert und wie sie sich sogar in kritisch gemeinten Debatten um Migration oder Kolonialismus festigt. Und er fragt danach, wie sich die Binnengrenzen der EU zu einem Kontrollregime in der Fläche transformieren, das für unliebsame MigrantInnen weniger die Einreise, als das alltägliche Leben in der EU verunmöglicht.

Themen des Schwerpunkts:
Überkreuzen, Überschreiten, Durchqueren - Die Kritik an Grenzen + Boundary-Work - Über das Verhältnis psychischer, sozialer und symbolischer Grenzen + Im Dschungel von Calais - Selbstorganisation von Flüchtlingen und staatlicher Abwehr + Drinnen und Draußen - Die EU-Grenzen verschieben sich + Geteilte See - Die Grenzkämpfe auf dem Meer weiten sich aus + Marokko: Operation Rückbindung + Sudan: Alte Konflikte und neue Territorien + Mexiko: American Dream, Mexican Nightmare + Iran: Grenzenlos reaktionär + Korea: Surrealsozialistische Grenze


INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Auf zu neuen Ufern


POLITIK UND ÖKONOMIE

Südafrika I: Ein Arbeiterviertel im Museum
Der South End District in Port Elizabeth
von Thomas Schmidinger

Südafrika II: »Als AktivistIn lebt man gefährlich«
Interview mit Ashraf Cassiem und Mncedisi Twalo

Iran: »Schwächer als je zuvor«
Interview mit Meir Javedanfar über das Regime und die Opposition

Honduras: Elitäre Versöhnung
Die politische Krise nach dem Putsch
von Tobias Lambert

Haiti: Im Griff des Militärs
Die Geschichte Haitis zwischen Unterdrückung und Widerstand
von Peter Hallward

Entwicklungspolitik: Apfelstrudel nach Peking tragen
Die letzten Züge der deutsch-chinesischen Entwicklungszusammenarbeit
von Dirk Olaf Reetlandt

Indien: Organic Mobile
Die Produktion von Biolebensmitteln boomt
von Nina Osswald


SCHWERPUNKT: GRENZREGIMES

Editorial: Grenzregimes

Überkreuzen, Überschreiten, Durchqueren
Die Kritik an Grenzen sollte jede Kategorie hinterfragen von Birgit zur Nieden

Boundary-Work
Über das Verhältnis physischer, sozialer und symbolischer Grenzen
von Albert Scherr

Drinnen und Draußen
Die EU-Grenzen verschieben sich
von Henrik Lebuhn

Geteilte See
Die Grenzkämpfe auf dem Meer weiten sich aus
von Kai Kaschinski

Operation Rückbindung
Der marokkanische Staat fördert Zugehörigkeit über Grenzen hinweg
von Frederic Schmachtel

Alte Konflikte und neue Territorien
Was bringt die Grenze zwischen Nord- und Südsudan?
von Thomas Schmidinger

American Dream, Mexican Nightmare
Der Grenzraum in Südmexiko unter dem Einfluss der USA
von Kathrin Zeiske

Grenzenlos reaktionär

Die weltweite Revolution der Islamischen Republik Iran
von Jonathan Weckerle

Surrealsozialistisch
Nord- und Südkorea trennt noch eine richtige Feindesgrenze
von Rainer Werning


KULTUR UND DEBATTE

Medien: Tele-Visionen
Anspruch und Realität des Nachrichtensenders Al-Jazeera English
von Benedikt Strunz

Surrealsozialistisch
Nord- und Südkorea trennt noch eine richtige Feindesgrenze
von Rainer Werning

Exotismus: Wilde Welten
Eine Ausstellung über die Aneignung des Fremden
von Ulrike Mattern

Interkultur: »Die Institutionen müssen barrierefrei werden«
Interview mit Mark Terkessidis über sein neues Buch »Interkultur«

Moderne Nostalgie
Die neue HafenCity in Hamburg würdigt den Geist des Kolonialismus
von Anke Schwarzer

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 318 - Mai / Juni 2010
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2010