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IZ3W/260: Piraterie - Große Themen vor Gericht


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 327 - November/Dezember 2011

Piraterie - Große Themen vor Gericht
Der Hamburger Piraten-Prozess wirft fundamentale Rechtsfragen auf

von Anke Schwarzer


Kriegsschiffe zum Schutz der Hamburger Handelsflotte bauen lassen - das war die erste Aufgabe der Commerz-Deputation. Hamburger Kaufleute, die mit Schnaps, Gewürzen, Zucker, Elfenbein und Menschen handelten, hatten den Vorläufer der heutigen Handelskammer im Jahre 1665 gegründet. Zu jener Zeit erbeuteten rund um die iberische Halbinsel immer wieder Piraten die wertvolle Fracht der Hanseaten.

Heute ziehen Kriegsschiffe der Nato, der EU sowie einzelner Länder wie China, Russland, Japan, Iran und Indien über die Gewässer am Horn von Afrika. Sie patroullieren, versenken Boote, töten Piraten und solche, die dafür gehalten werden, um Tanker, Kreuzfahrtschiffe und Containerriesen zu schützen. Deutschland beteiligt sich seit 2008 am ersten gemeinsamen Marineeinsatz in der Geschichte der EU mit mehreren hundert Soldaten, Scharfschützen der Marineschutzkräfte, dem Versorgungsschiff Rhön, den Fregatten Bayern und Köln sowie Hubschraubern und Überwachungsflugzeugen (siehe iz3w 323).

Im April 2010 hatte ein niederländisches Kommando mehrere Seeleute der MV Taipan befreit, die am Horn von Afrika von somalischen Piraten gekapert worden war. Die 15 Seeleute aus Deutschland, der Ukraine und Sri Lanka hatten sich in einem Schutzraum verschanzt und einen Notruf abgegeben. Seit Herbst 2010 stehen zehn mutmaßliche Piraten wegen des Vorwurfs des erpresserischen Menschenraubs und Angriffs auf den Seeverkehr vor dem Hamburger Landgericht. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Die Angeklagten, darunter auch Jugendliche und ein nach eigenen Angaben und Dokumenten zur Tatzeit strafunmündiger 13-Jähriger, sitzen bereits über anderthalb Jahre in Untersuchungshaft.

Im sich lange hinziehenden Prozess haben drei Angeklagte eine Tatbeteiligung gestanden und sich beim Kapitän der Taipan entschuldigt. Drei weitere haben ihre Lebensverhältnisse in Somalia geschildert, andere machen von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Einige waren als Fischer tätig, berichteten von den großen Fangflotten, die das Meer leer räumen, und vom Tsunami, der 2004 viele Boote, Generatoren und Kühlcontainer zerstörte. Alle sechs, die bisher ausgesagt haben, gaben an, aus finanzieller Not oder aus Angst um ihr eigenes Leben oder das ihrer Familie gehandelt zu haben.

Soweit bekannt, zählen alle Angeklagten zu den ärmsten Menschen der Welt, viele haben keine Schule besucht, können weder lesen noch schreiben. Dem Prozess können die meisten trotz Übersetzung nicht folgen. Einige waren bei ihrer Verhaftung unterernährt.

Der Prozess hat mittlerweile seinen Medienreiz verloren. Womöglich ist die Sache zu komplex. Der Prozess wirft viele fundamentale rechtspolitische Fragen auf, etwa die der Resozialisierung, der Strafziele des deutschen Rechts und ihre Anwendbarkeit auf die mutmaßlichen Piraten, der Zuständigkeit des Militärs, der Einhaltung der Menschenrechte auf Hoher See und des Handelns in existenziellen Notlagen angesichts der ungleichen globalen Eigentums- und Lebensverhältnisse. Gleichzeitig ist er eine Art Länderkunde, die den Blick frei gibt auf die Gewaltförmigkeit der somalischen Gesellschaft, das Clandenken und die islamistischen al Shabab-Milizen.

Die Anwältin Gabriele Heinecke sagte, es könne angesichts der Situation in Somalia kein Zweifel daran bestehen, dass dieses Strafverfahren - und seien die Strafen noch so drakonisch - nicht geeignet sei, Piraterie zu bekämpfen. »Wenn täglich die Millionenwerte der reichen Industrienationen an einem in der Apokalypse untergehenden Land vorbeischwimmen, liegt für keinen Menschen in solch existenzieller Lage der Gedanke fern, sich aus dieser unerträglichen Lage zu befreien. Eine andere Argumentation ist ein Luxus derer, die es im Leben warm und weich haben«, so Heinecke.

Letzten Endes bleibt es die individuelle Entscheidung eines jeden Menschen, wie er oder sie in Not handelt. Immerhin werden von den Piraten Seeleute mit Waffen angegriffen, wochen- und monatelang festgehalten, manche sogar verletzt und getötet. Viele Menschen in Somalia lehnen trotz Hunger und Armut die Piraterie ab. Nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch, weil die Piraterie nachteilige Folgen für viele SomalierInnen habe, etwa der Preisanstieg für Dinge des täglichen Bedarfs, argumentiert der Frankfurter Politologe Abdirizak Sheikh.

Nichtsdestotrotz lassen die imperialen Machtverhältnisse die strafrechtliche Verfolgung der Männer aus Somalia wohlfeil erscheinen. Sie sitzen auf der Anklagebank in einer der reichsten Städte der Welt wegen Piraterie, die für sie eine Strategie des Überlebens gewesen sei oder zu der sie mit Gewalt gezwungen worden seien. Derweil werden die Verantwortlichen für Raubfischerei und Verklappung von Giftmüll vor Somalias Küste nicht einmal angeklagt. Nach der UN-Seerechtskonvention sind alle drei Aktivitäten verboten - verfolgt wird aber nur die Piraterie.

Ein Antrag des Verteidigers Tim Burkert verweist auf die Unzumutbarkeit des Prozesses für seinen Angeklagten angesichts der existenziellen Not in Somalia. »Es gehört zur Menschenwürde, dass nicht nur die materielle Existenz, sondern auch die moralische und emotionale Existenz bei jeder staatlichen Handlung berücksichtigt wird.« Die Angeklagten müssten aus der Haft hilflos mit ansehen, wie ihre Angehörigen in Somalia mit dem Tode ringen. Nur weil Solidaritätsgruppen Geld für Telefonate spendeten, könnten sie immerhin versuchen, Verwandte zu erreichen.

Eine existenzielle Notlage kenne das deutsche Strafrecht aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht. Burkert betont jedoch, dass es Verfahren gegeben habe, in denen die Verurteilungen auf übergesetzliche Rechtsprinzipien gestützt worden seien, etwa im Mauerschützenprozess oder in Verfahren gegen NS-Täter, die sich auf nationalsozialistisches Recht bezogen haben. Es finde sich aber keine Rechtssprechung zum umgekehrten Fall, »nämlich der Frage, wann gesetzliches Unrecht aus übergesetzlichen Gesichtpunkten heraus nicht gesühnt werden darf«, so Burkert. Sein Antrag wurde allerdings abgelehnt. Diese Aspekte könnten allenfalls beim Strafmaß berücksichtigt werden, so das Gericht. Weitere Prozesstermine sind bis November angesetzt.

Das deutsche Mandat für die EU-Mission läuft zunächst bis Dezember 2011. Womöglich wird der Einsatz Jahr für Jahr verlängert, immerhin unterhält die Seemacht Deutschland gemessen an der Nationalität der Schiffseigner die größte Handelsflotte der Welt - auch wenn nur ein Bruchteil der Schiffe unter schwarz-rot-goldener Flagge fährt. Übrigens: Die Hamburger Konvoischiffe waren ab 1665 über hundert Jahre lang im Einsatz.


Anke Schwarzer arbeitet als Journalistin in Hamburg.


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 327 - November/Dezember 2011


Der Grüne Kapitalismus kommt

Mission Windrad

In der Ära des New Green Deal werden wir mit Sonne und Wind Energie erzeugen, mit Elektroautos umherflitzen und stromsparend produzieren. Hierzulande klingen solche Aussichten nicht ganz unrealistisch, in Mumbai-Dharavi wird darüber eher herzlich gelacht.

Wie grün und wie universal ist dieser Deal? Sind die neuen Technologien wirklich sanft? Welche neuen Energiebeziehungen kommen im Grünen Kapitalismus? Und wie steht es um Sozialverträglichkeit und Arbeitsbedingungen in den Leitbranchen des New Green Deal? Nach Antworten suchen wir im aktuellen Themenschwerpunkt.


INHALTSÜBERSICHT


Editorial - Lieber Siebenmilliardster Erdling


POLITIK UND ÖKONOMIE

England: Im Ausnahmezustand
Die Riots verweisen auf die Krise neoliberaler Politik
von Moritz Altenried und Sibille Merz

Chile: »Und er wird stürzen«
Junge Menschen kämpfen gegen die Vermarktung der Bildung
von Jürgen Schubelin

Kinderarbeit: Schwere Lasten
Der Kampf gegen die Kinderarbeit im indischen Bundesstaat Nagaland
von Thomas Schwarz

Piraterie: Große Themen vor Gericht
Der Hamburger Piraten-Prozess wirft fundamentale Rechtsfragen auf
von Anke Schwarzer

Eritrea I: Migration statt Revolution
Zwanzig Jahre nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges hält Eritreas Misere an
von Magnus Treiber

Eritrea II: Auf der Flucht vor dem giftigen Drachen-Geschichten von eritreischen MigrantInnen
von Eva-Maria Bruchhaus

Eritrea III: Sparen bei den Ärmsten
Die Weltbank zieht sich aus einem Bildungsprogramm zurück
von Johanna Fleischhauer


SCHWERPUNKT: GRÜNER KAPITALISMUS


Editorial

Ein grüner Kapitalismus?
Auch das neue »Modell Deutschland« ist eine expansive Wachstumsökonomie
von Joachim Hirsch

Klein und rein
Grüne Technologien und ihr Stellenwert in der Technikgeschichte
von Cord Riechelmann

Gefährliche Zeiten
Der grüne Kapitalismus und sein Imperialismus
von Rainer Trampert

Made in China
Die chinesische Variante des Grünen Kapitalismus
von Uwe Hoering

Wenn Kohle grün wird
Energiebeziehungen zwischen der EU und Südafrika
von Franziska Müller

Maximale Windgeschwindigkeit
Windenergieanlagen sind eine Schlüsseltechnologie im Grünen Kapitalismus
von Jörg Alber

Teils heiter, teils wolkig
Das Desertec-Projekt in Nordafrika ist nicht zwangsläufig neokolonial
von Wolfgang Pomrehn

Woanders emittieren
Elektrofahrzeuge sind keine Lösung des Autoproblems
von Michael Adler


KULTUR UND DEBATTE

Musik: Kitsch ohne Copyright
Die Tecnobrega-Szene mischt den Norden Brasiliens popmusikalisch auf
von Simon Brüggemann

Film I: Kolonialsoldaten hinter der Kamera
Der Zweite Weltkrieg in Spielfilmen aus Afrika
von Karl Rössel

Film II: Logik der Unterwerfung
Der Spielfilm »Schlacht um Algier« ist eine zeitlose Anklage des Kolonialismus
von Gerhard Hanloser

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum


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Quelle:
iz3w Nr. 327 - November/Dezember 2011, S. 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2011