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IZ3W/272: Tunesien - Die Tür zur EU steht nur zum Teil offen


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 330 - Mai/Juni 2012

Die Tür steht nur zum Teil offen

Von Stefan Brocza



Anfang Februar wurde Tunesien von Seiten der EU eine "privilegierte Partnerschaft" in Aussicht gestellt. Was das genau bedeutet, ist unklar. Derweil läuft das altbekannte Programm "Freihandelsabkommen als Heilmittel für alle Probleme" an. Die Beziehungen EU-Tunesien sind somit geprägt von business as usual.

Groß waren im Februar 2011 in Tunesien die Erwartungen, als wenige Wochen nach der erfolgreichen Revolution die EU-Außenrepräsentantin Ashton das Land besuchte. In kurzen Abständen folgten EU-Kommissionspräsident Barroso, die Kommissare Füle (Nachbarschaftspolitik), Malmström (Inneres), De Gucht (Außenhandel) und schließlich der damalige EU-Parlamentspräsident Buzek. Sie alle waren voll des Lobes für die Revolution und unterstrichen die besondere Bedeutung der Beziehungen zwischen EU und Tunesien. Mit großen Worten wurde Unterstützung in allen Bereichen zugesagt.

Ein Jahr später ist der politische Alltag längst wieder eingekehrt. Langwierige, meist technische Verhandlungsrunden stehen auf der Tagesordnung, von der Euphorie der ersten Tage sind meist nur Worthülsen übrig geblieben.

Am 14. Dezember 2011 beschlossen die europäischen AußenministerInnen die Aufnahme von Handelsverhandlungen mit Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien. Ziel ist die Schaffung von so genannten "weitreichenden und umfassenden Freihandelszonen" (DCFTA, Deep and Comprehensive Free Trade Agreement). Dabei steht nicht der klassische Abbau von Zollbarrieren im Vordergrund, man will sich vielmehr auf so genannte "handelsrelevante Regulierungsfragen" konzentrieren - also etwa Investitionsschutz oder öffentliches Beschaffungswesen. "Wir bieten Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien die schrittweise wirtschaftliche Integration in den EU-Binnenmarkt an", erklärt dazu EU-Handelskommissar De Gucht. "Unsere Tür steht auch weiteren Partnern im südlichen Mittelmeerraum offen."

Diese neuen Freihandelsabkommen sollen Teil der bereits bestehenden EU-Mittelmeer-Assoziierungsabkommen sein und eine möglichst große Bandbreite von gemeinsamen Interessen abdecken, wie Handelserleichterungen, Beseitigung technischer Handelshemmnisse, Harmonisierung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen und Wettbewerbspolitik. Mit den Verhandlungen sollen die Möglichkeiten für den Marktzugang, aber auch das Investitionsklima verbessert werden. Die EU glaubt, dadurch die in diesen vier Ländern begonnen Wirtschaftsreformen bestmöglich zu unterstützen. Mit auf der Agenda steht dabei die Förderung der regionalen wirtschaftlichen Integration.

Solcherart gestaltete Beziehungen zwischen der EU und Tunesien haben Tradition. Bereits 1969 wurde ein erstes Kooperationsabkommen abgeschlossen, damals noch auf handelspolitische Aspekte beschränkt. 1976‍ ‍folgte ein neues bilaterales Abkommen, jetzt auch mit wirtschaftlicher und finanzieller Hilfe. Im Rahmen des so genannten Barcelona-Prozesses schloss Tunesien in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre als erstes nordafrikanisches Land ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Dieses Abkommen stellt noch heute die Basis für die Beziehungen dar. Es beinhaltet eine politische Partnerschaft, inklusive einer so genannten Sicherheitspartnerschaft. Seit 2004 ist Tunesien Teil der "Europäischen Nachbarschaftspolitik" (ENP) und seit 2008‍ ‍auch der neu geschaffenen "Union für den Mittelmeerraum".

Als erste Reaktion auf die politische Neuorientierung Tunesiens nach dem Sturz von Ben Ali wurden seitens der EU die im Rahmen bestehender Kooperationen vorgesehenen Finanzmittel erhöht: Für den Zeitraum 2011-2013 wurden bereits budgetierte Mittel in der Höhe von EUR 240 Millionen auf EUR 400 Millionen angehoben. Diese Mittel sind vorwiegend für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen und den demokratischen Transformationsprozess vorgesehen.

Als zusätzliches Forum für Zusammenkünfte wurde Ende September 2011 die "Tunisia - European Union Task Force" ins Leben gerufen. Unter dem gemeinsamen Vorsitz der EU-Außenrepräsentantin und des tunesischen Premierministers soll noch mehr auf die Koordination europäischer und internationaler Unterstützung für Tunesien geachtet werden. Tunesien setzt dabei hohe Erwartungen in einen Dialog über Migration, Mobilität und Sicherheit. Diese Erwartungen wird die EU wohl kaum erfüllen sind, denn Tunesien möchte den freien Zugang seiner BürgerInnen zur EU.

Im Rahmen des ersten Besuchs des tunesischen Regierungschefs Hamadi Jebali bei den europäischen Institutionen in Brüssel am 2. Februar 2012‍ ‍wurde durch den EU-Kommissionspräsidenten Barroso eine "privilegierte Partnerschaft" angeboten. Worin diese "Privilegierung" bestehen soll, blieb jedoch im Unklaren. Im Abschlussprotokoll des Treffens werden lediglich die bereits bekannten Vorhaben wie Handelsliberalisierungen und "Migrationspartnerschaft" erwähnt. Im Europarecht ist eine "privilegierte Partnerschaft" nicht vorgesehen, allenfalls könnte man Anleihen aus der politischen Diskussion rund um die Frage einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Türkei nehmen. Demnach wäre eine "privilegierte Partnerschaft" eine möglichst enge Anbindung, jedoch ohne Mitgliedschaft und der daraus sich ergebenden Rechte. Offen bleibt die Frage, weshalb Barroso dies angeboten hat. Ein diesbezügliches Mandat durch den EU-Ministerrat hatte er jedenfalls nicht und ein politischer Vorstoß, mit dem Tunesien auf die gleiche politische Bedeutungsebene wie die Türkei gehoben werden sollte, ist wohl auszuschließen.

Für die erste Jahreshälfte 2012 wurde jedenfalls ein Treffen des EU-Tunesien-Assoziierungsrates vereinbart, in der zweiten Jahreshälfte soll eine neuerliche Zusammenkunft der "Task Force" stattfinden. Man darf gespannt sein, welche politische Eigendynamik das Instrument der "privilegierten Partnerschaft" noch entwickelt. Skeptiker erwarten jedenfalls keine Überraschungen und prognostizieren eher ein stilles Dahinscheiden dieses Konzept-Schnellschusses.


Stefan Brocza beschäftigt sich seit den frühen 1990er Jahren mit EU-Themen und Fragen der Internationalen Politik (zuerst in der EU-Koordinierung des Innenministeriums in Wien, ab 1996 im Generalsekretariat des Rates der EU in Brüssel). Er ist Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien und Salzburg.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 330 - Mai/Juni 2012

Arabischer Frühling 2.0
Die Wut ist nicht verraucht

»Die Revolution ist die erfolgreiche Anstrengung, eine schlechte Regierung loszuwerden und eine schlechtere zu errichten.« Trifft diese sarkastische Bemerkung von Oscar Wilde auch auf die Umbrüche zu, die unter der Bezeichnung »Arabischer Frühling« zusammengefasst werden? Diese Frage ist eine Art Leitmotiv dieses Themenschwerpunktes.

Selten hat eine Bewegung von der viel zitierten "Straße" weltweit so viele Hoffnungen geweckt wie die Aufstandsbewegung in arabischen Ländern. Trotz aller Rückschläge und betonartiger Strukturen bleibt festzuhalten: Die Bevölkerung sieht sich zunehmend als aktive politische Akteurin und nicht mehr als zu beherrschendes Objekt.


INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial - Ernüchterte Ernüchterung

POLITIK UND ÖKONOMIE

Migration: Kein Frühling für Flüchtlinge
Ägyptische Behörden gehen gegen eritreische Opfer von Menschenhändlern vor
von Meena Federer

Welthandel: Kein Grund zur Freude
Die WTO steckt in der Sackgasse
von Angela Geck

Konzerne: Gefährliche Pestizide
Das Permanent Peoples' Tribunal klagt Agromultis an
von Philipp Mimkes

Zentralasien: Aufstieg der Marschrutkas
Öffentlicher Nahverkehr und Linientaxis
von Wladimir Sgibnev, Janny Schulz und Friederike Enssle

Gambia: Jammeh auf Lebenszeit
Ein wahrlich bizarrer Präsident
von Günter Spreitzhofer

Pakistan: Vom Terror erdrückt
Warum wird Pakistan von Oligarchen, Militärs und Taliban dominiert? (Teil II)
von Jakob Rösel

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SCHWERPUNKT: Arabischer Frühling 2.0

Editorial zum Themenschwerpunkt

Vorwärts und nichts vergessen
Die Demokratisierung ist nicht mehr aufzuhalten
von Jörn Schulz

Den Reset-Knopf drücken
Blogger-Pioniere in arabischen Golfstaaten (Langfassung nur online)
von Sultan Al-Qassemi

Moschee statt Kaserne
Inwieweit ist die türkische AKP ein Modell für Nordafrika?
von Magnus Engenhorst

Lang ersehnte Freiheit
Aufbruchstimmung in Libyen nach der Revolution
von Jacqueline Passon und Klaus Braun

Alexandria in der Hand von Islamisten
Eine ägyptische Bloggerin erklärt, wie es dazu kam
von Shahinaz Abdel Salam

Das Gefühl, alles verändern zu können
Eine Deutsch-Ägypterin spürte den Geist der Revolution
von Jasmin Ateia

Die Lebenden und die Toten
Eine deutsche Journalistin würdigt die Opfer des Kampfes um Befreiung
von Juliane Schumacher

Die Revolution bleibt aus
In Algerien erkauft sich das Regime politische Ruhe
von Rachid Ouaissa

Marokkos moderner Monarch
Mohammed VI. begegnet Protesten mit Schein-Demokratisierung
von Janina Pohle

»Was hat sie getrieben?«
Die syrische Opposition droht zerrieben zu werden
von Markus Bickel

Neue Spielräume
Wie die KurdInnen in Syrien den Arabischen Frühling für sich nutzen (Langfassung nur online)
von Thomas Schmidinger

nur online: Die Tür steht nur zum Teil offen
Die EU bietet dem neuen Tunesien eine "privilegierte Partnerschaft" an
von Stefan Brocza

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KULTUR UND DEBATTE

Film I: Revolten auf der Leinwand
Cineastische Reflexionen der Umwälzungen in Nordafrika
von Karl Rössel

Film II: »Wenn die Revolution scheitert...«

Interview mit der ägyptischen Journalistin Nora Younis

Film III: »Du kannst die Erinnerung nicht zerstören«
Interview mit dem kambodschanischen Dokumentarfilmer Davy Chou.
Mit einer Einführung von Isabel Rodde

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum

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Quelle:
iz3w Nr. 330 - Mai/Juni 2012, S. 39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2012