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IZ3W/324: Rezension von Sarah Schmelzer-Roldán - Wie Gesundheit zur Ware wird


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 340 - Januar/Februar 2014

Wie Gesundheit zur Ware wird

von Sarah Schmelzer-Roldán



In den letzten Jahren kam es in Lateinamerika zur erhöhten Beteiligung des Privatsektors an Gesundheitsleistungen. Der Zugang zum Gesundheitssystem zeichnet sich trotz unterschiedlicher Reformvorhaben nach wie vor durch große soziale Ungleichheiten aus. Auf Grundlage ihrer Dissertation untersucht Anne Tittor anhand der Länderbeispiele Argentinien und El Salvador Gemeinsamkeiten in den Triebkräften der Kommodifizierung bei der Gesundheitspolitik in Lateinamerika. Unter Kommodifizierung versteht die Autorin die »zunehmende Abhängigkeit des Einzelnen von seiner Kaufkraft beim Zugang zu Behandlungen und Vorsorgeuntersuchungen«. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Analyse der Rolle internationaler Organisationen und nationaler Akteure sowie von historischen Ursachen.

Tittor knüpft an den neogramscianischen Autor Robert W. Cox an, um in einem ersten Schritt die hegemonialen Projekte im Gesundheitsbereich in historischer Betrachtungsweise zu identifizieren und die Triebkräfte der Kommodifizierung auf Akteurs- und Strukturebene zu untersuchen. Die Autorin geht von der Annahme aus, dass die Kommodifizierung im Gesundheitsbereich auch in sehr unterschiedlichen Länderkontexten ähnliche Ursachen hat und mit Hilfe derselben Mechanismen durchgesetzt wird. So erfolgten die Gesundheitsreformen in Argentinien und El Salvador in Zusammenhang mit Strukturanpassungsprogrammen.

Die Reformen in Argentinien wurden bereits Anfang der 1990er Jahre eingeleitet und aufgrund der dezentralen Struktur des argentinischen Gesundheitssystems schrittweise eingeführt. Der Reformprozess in El Salvador begann erst Ende der 1990er Jahre und führte zu umfangreichen Privatisierungsmaßnahmen. In der Folge kam es in El Salvador zu einer breiten Protestbewegung, die weitere Privatisierungen im Gesundheitsbereich verhinderte. Auch in Argentinien kam es durch den Zusammenbruch des Finanzsystems 2001/02 und der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise bei den Gesundheitsreformen zu einem Stillstand. Die Autorin spricht von »critical junctures«, die in beiden Ländern dazu führten, dass sich die Zahl der BefürworterInnen von Kommodifizierung deutlich verringert hat. Die Reformen in Argentinien waren insgesamt weniger gesellschaftlich umkämpft und erstreckten sich über einen längeren Zeitraum als in El Salvador. Folglich ist laut Tittor die Kommodifizierung des Gesundheitswesens in Argentinien deutlich weiter fortgeschritten.

Die Arbeit bietet einen guten Überblick über Gesundheitsreformen und historische Kontexte der untersuchten Länder. Indem Tittor die Bedeutung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse berücksichtigt, erfasst sie einen Aspekt, der in anderen Studien zum Thema bislang vernachlässigt wird. Sie überträgt den neogramscianischen Ansatz auf Länder Lateinamerikas und zeigt somit die dynamischen Wechselwirkungen zwischen Struktur- und Akteursebene im nationalen und transnationalen Kontext auf.


Anne Tittor:
Gesundheitspolitik in Lateinamerika
Konflikte um Privatisierungen in Argentinien und El Salvador.
Nomos, Baden-Baden 2012. 375 Seiten, 59.- Euro

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 340 - Januar/Februar 2014

Eigentor Brasilien
vom Elend eines Global Players

Mit der Ausrichtung der Männer-Fußball-WM im Juni 2014 und der Olympischen Sommerspiele 2016 unterstreicht Brasilien seinen Anspruch, künftig ein Global Player zu sein. Doch hinter den Erfolgsmeldungen vom Aufstieg Brasiliens zur sechstgrößten Wirtschaftsnation der Welt geraten die sozialen Kosten aus dem Blick. Die Spaltung zwischen Arm und Reich wächst, Umweltprobleme verschärfen sich, und Minderheiten bekommen nicht die Rechte, die ihnen zustehen.

Von den gewaltigen Problemen wollte bis vor kurzem weder die fußballbesoffene Weltöffentlichkeit noch der politische Mainstream Brasiliens etwas wissen. Das änderte sich erst, als im Juni 2013 lang angestauter Unmut aufbrach und bei Massenprotesten kritische Stimmen laut wurden. Hunderttausende gingen auf die Straßen, sie forderten mehr Ausgaben für Bildung und Gesundheit, bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr und die Bekämpfung der Korruption. Das gemeinsam mit KoBra (Kooperation Brasilien e.V.) herausgegebene Dossier will dazu motivieren, einen Blick hinter die Kulissen der glamourösen Großevents zu werfen.

BEITRÄGE IM DOSSIER:

Editorial zum Dossier

Traum oder Alptraum?
Brasiliens Metamorphose vom sozialen Vorzeigeland zum Polizeistaat
von Verena Glass

»Das Neue ist immer schwierig«
Interview mit Eduardo Pereira über die Proteste in Brasilien

Alles Ninja, oder was?
Brasiliens alternative Medienlandschaft im Umbruch
von Nils Brock

Grobes Foulspiel
Die WM unterhöhlt die Rechte der Stadtbevölkerung
von Adrian Mengay und Maike Pricelius

»40 Jahre sind genug!«
Deutsch-brasilianische Kooperation zwischen Solidarität und Atomgeschäften
von Christian Russau

Schönfärbendes Weißwaschen.
Das postkoloniale Brasilien ist keineswegs eine egalitäre Regenbogennation
von Sarah Lempp

Latinos, das sind die anderen
Brasilien hat ein kompliziertes Verhältnis zu Lateinamerika
von Dawid Danilo Bartelt

Konflikte exportieren
Das Agrarprojekt ProSavana in Mosambik wiederholt brasilianische Fehlentwicklungen
von Fátima Melio

Dumping mit Hühnerfleisch
Brasilien bedrängt Agrarmärkte im südlichen Afrika
von Stefan und Andreas Brocza

Brasilien, Land des Fußballs
Debatten über einen identitätsstiftenden Mythos
von Thomas Fatheuer

Einfach Spitze!
Eine kleine Polemik über das Bedürfnis nach Brasilienbildern
von Simon Brüggemann

Luiz Ruffatos Romane über die Marginalisierten

Rezensionen
von Anne Reyers und Judith Felizita Säger

Zeitschriften - Bücher - Multimedia


WEITERE THEMEN IM HEFT:

Hefteditorial


Politik und Ökonomie:

Südsudan: Rückkehr oder Vertreibung?
Die "Returnees" in Juba
von Ulrike Schutz

Mexiko: »Sie schenkten uns dieses Haus«
Modelldörfer in Chiapas stoßen auf Kritik
von Anne Haas

Erster Weltkrieg: »Die Front ist die Hölle«
Im Ersten Weltkrieg wurden Millionen Kolonialsoldaten eingesetzt (Teil 1) 
von Karl Rössel

Umfangreiche Literaturliste zum Thema Afrika im Ersten Weltkrieg
von Oliver Schulten

Indien: Nicht still halten, nicht schweigen
Frauenproteste in Indien
von Maya Subrahmanian

»Das dominante Konzept von Sexualität in Frage stellen«
Interview mit Vibhurti Patel

Gesundheit: Weibliche Genitalverstümmelung...
ist kein "afrikanisches" Problem
von Oliver M. Piecha

Antiziganismus: Zum Davonlaufen
Roma in Serbien und im Kosovo
Langfassung mit Bilderstrecke
von Albert Scherr und Elke Scherr


KULTUR UND DEBATTE:

Musik: Fuerte, rapido, duro
Wie Punk zu einer globalen Jugend- und Protestkultur wurde
von Ingo Rohrer

Buch & Film: Von Freunden und Feinden
Schlaglichter auf Israel
von Gaston Kirsche

Literatur: Klagelied für Teheran
Amir Hassan Cheheltans Roman über die "Stadt ohne Himmel"
von Azadeh Hatami

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Quelle:
iz3w Nr. 340 - Januar/Februar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2014