Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


KAZ/318: 35-Stunden-Woche - Den Osten im Regen stehen lassen?


KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 370, Februar 2020
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!

35-Stunden-Woche
Den Osten im Regen stehen lassen?
Oder: Gemeinsam streiken in Ost und West!

von Ludwig Jost


In mehreren Ausgaben der KAZ (366/367/368), zuletzt in der Nr. 369 haben wir über die Auseinandersetzung zur Einführung der 35-Stunden-Woche in den Ostbetrieben und die Absichten der IGM-Führung berichtet. Jetzt ist es beschlossene Sache, dass versucht wird, die 35 Betrieb für Betrieb durchzusetzen. Die dafür notwendigen Vorbereitungen, evtl. Kündigung von Tarifverträgen sowie andere Einzelheiten sollen in den nächsten Wochen von den Tarifkommissionen festgelegt und beschlossen werden. Das hat der IGM-Vorstand am 11. Dezember 2019 in einer Presseerklärung offiziell mitgeteilt. Die IGM-Verhandlungskommissionen des Bezirks Berlin-Brandenburg-Sachsen haben die Gespräche mit dem Kapitalverband Gesamtmetall und den Ost-Kapitalverbänden "nach einem eineinhalbjährigen Verhandlungsprozess und insgesamt elf Verhandlungstagen" abgebrochen. Der zuständige IGM Bezirksleiter Höbel hat dazu u. a. festgestellt, dass viel "Zeit und Energie investiert" wurde und er "maßlos enttäuscht über die Haltung der Arbeitgeber" ist. Kollege Höbel vergisst hierbei allerdings, dass diese "Haltung" auf's eigene, auf's Haltungs-Konto der IGM-Führung geht. Sie hat bereits Mitte 2019 festgestellt, dass nach 6 Gesprächsterminen eine Einigung mit den Kapitalverbänden und ein Eingehen auf die von ihnen erhobenen Gegenforderungen mehr oder weniger unmöglich ist (IGM-Info 12./13. Juni). Im Juli 2019 hat Gesamtmetall Präsident Dulger nachgelegt und im Interview mit der Süddeutsche Zeitung (SZ 23.7.2019) festgestellt: "... wenn die Tarifvertragsparteien so weitermachen wie bisher, gehen weitere Firmen aus der Tarifbindung heraus, was ich sehr bedauern würde. (...) Aber wenn alle Unternehmen die Tarifbindung verlassen, kann die IG Metall zusehen, wie sie sich im Häuserkampf durchschlägt."

Und auf dem IGM-Gewerkschaftstag im Oktober 2019 hat Carmen Bahlo, ehrenamtliches Vorstandsmitglied für den Ost-Bezirk erklärt: "Wir haben anderthalb Jahre geredet, und zwar erst auf der Ebene Berlin-Brandenburg, dann im kompletten Osten und jetzt wieder auf der Ebene Berlin-Brandenburg-Sachsen. Ich kann Euch eines sagen: Die Arbeitgeber sind dabei extrem arrogant und rotzfrech aufgetreten. Sie wollen sich nicht festlegen. Es soll ein freiwilliger Einstieg sein. Sie wollen eine volle Kostenkompensation. Sie wollen eine weitere Arbeitszeitflexibilisierung, und sie wollen nicht einmal, dass am 01.01.2031 eine 35-Stunden-Woche verbindlich vorgeschrieben ist. (...)

Und wenn wir nur ein Stück weit erkennen lassen, dass wir jetzt zögern, dass wir uns nicht weiter trauen, dann - das sage ich Euch - werden sie uns am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Entweder kriegen wir gar keinen Tarifvertrag, oder wir kriegen so einen schlechten, dass er uns in Ost und West auf die Füße fallen wird. Wenn wir das Thema nicht endlich wuppen, wird es nicht nur im Osten ein Problem, sondern überall. Denn bei jeder Standortsicherung werdet Ihr auch damit konfrontiert werden.

Wir müssen beim Thema "Arbeitszeit 35 Stunden" die Angleichung an den Westen hinkriegen - nicht an den Osten. Damit haben uns die Arbeitgeber in den Gesprächen oft genug gedroht."

Statt jetzt die gesamte IGM gegen die Kapital-Haltung zu mobilisieren, damit das Thema beim "Wuppen nicht über die Wupper geht", hat sich die IGM-Kommission in fünf weiteren Gesprächsterminen (der 6. wurde abgesagt) demütigen und hinhalten lassen. Das hat die Kapitalverbände geradezu animiert, immer frecher und dreister zu werden. Hierbei werden die Ost-Kapital-Verbände mit dem von Gesamtmetall vorgegebenen und bestimmten Kurs in der Spur gehalten. Und der heißt: Gegenforderungen in Stellung bringen und die IGM damit zurückschlagen, um sie jahrelang mit der beim IGM-Vorstand abgekupferten Blaupause "TV Future" - gleich "Zukunftstarifvertrag" - auf Distanz zu halten. Bezirksleiter Höbel hat die wesentlichsten Kapitalforderungen in der o. g. Presseerklärung noch einmal zusammengefasst (siehe Kasten unten) und die Warnungen von Vorstandsmitglied Carmen Bahlo mit den folgenden Worten bestätigt: "Der Prozess hat gezeigt, dass keine Verlässlichkeit gegeben ist. Trotz eines bereits 2018 unterschriebenen Eckpunktepapiers war es 2019 nicht möglich, die Positionen konsensfähig zu machen. Ursprünglich gemachte Zusagen der Arbeitgeberseite wurden nicht eingehalten oder sogar zurückgenommen. Die Arbeitgeber weigern sich, die 35-Stundenwoche über den Einführungszeitraum hinaus verlässlich in Ostdeutschland einzuführen."

Anfang Texteinschub
Das Eckpunktepapier von Gesamtmetall

"TV Future" - nicht unsere Zukunft!

"Gesamtmetall will die Schutzfunktion des Tarifvertrages deregulieren und die Verantwortung den Betriebsräten aufbürden, bis hin zum Eingriff in bestehende Entgelttabellen. Der Vorschlag von Gesamtmetall beinhaltet den Angriff auf bestehende Erholungspausen, im Schichtbetrieb bis hin zur völligen Abschaffung. Im Bereich der Kostenkompensation sollen die Kosten für die Arbeitszeitverkürzung entgegen aller Verhandlungsstände in vollem Umfang von den Beschäftigten alleine getragen werden Eine massive Ausweitung der Arbeitszeitflexibilität täglich, wöchentlich und monatlich mit massiver Ausweitung zur 40-Stundenwoche soll durchgesetzt werden."
(Aus der Presseerklärung des IGM-Vorstands vom 11.12.2019)
Ende Texteinschub


Vielleicht führt diese "Haltung" des Kapitals ja dazu, dass nicht nur der "maßlos enttäuschte" Bezirksleiter in der IGM, sondern ebenso Betriebsräte und Belegschaften sich weniger von zerstörerischen Sozialpartnerschafts-Gedanken leiten lassen und sich stattdessen wieder zu der Erkenntnis durchschlagen: Es gibt keine gemeinsamen Interessen von Kapital und Arbeit. Sie stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Das ist die gesellschaftliche Realität, sie wurde in unzähligen IGM-Seminaren immer wieder vermittelt. Die Kapitalisten haben kein Interesse daran, die Spaltung zwischen Ost und West, die unterschiedlichen Arbeitszeiten, Löhne und vieles andere zu beseitigen. Ihr Interesse ist Aufrechterhaltung der Spaltung und der damit beabsichtigten Schwächung unserer Klasse und Kampfkraft zur Sicherung ihrer Macht und Herrschaft.

Mit dem Ziel, dem entgegenzutreten, sollte der IGM-Gewerkschaftstag im Oktober 2019 eine Kampagne beschließen, mit der die gesamte IGM die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche im Osten als Kampfauftrag erhält und dafür mobilisiert wird. Und hierbei ging und geht es nicht nur um die kurzfristige Durchsetzung der 35, sondern wie ebenso in den Anträgen gefordert: Um den gewerkschaftlichen Kampf für die Aufhebung der Spaltung zwischen Ost und West. Für die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen an Westniveau, für gleiche Rechte in Betrieb und Gesellschaft (KAZ 368/369).

Das ist mit dem sogenannten "Häuserkampf", wie jetzt vom IGM-Vorstand und der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Sachsen geplant, nicht durchzusetzen. Bei dieser "Kampftaktik" steht jede Belegschaft ihrem von Gesamtmetall mit den Kapital-Forderungen geimpften Einzelkapitalisten allein gegenüber. Dabei ist der "Flickenteppich", dass in jedem Betrieb etwas anderes, eine andere Arbeitszeit gilt, vorprogrammiert. Dagegen steht nach wie vor die Mobilisierung und der Kampfauftrag für die gesamte IGM. Keine Frage, dass muss von den Belegschaften aus den Betrieben heraus in Ost und West gemeinsam organisiert werden. Wie so etwas gemacht wird, haben uns unsere französischen Kolleginnen und Kollegen sozusagen als Beispiel über etliche Wochen, über das hier unantastbare Weihnachtsfest und den "Rutsch ins neue Jahr" vorgeführt. Dazu gehört - wie u. a. von der IGM-Geschäftsstelle Ingolstadt gefordert und vom IGM-Gewerkschaftstag abgelehnt - der politische Streik. Und dafür müssen in so viel Betrieben wie möglich, die Hebel runter gehen. Dann werden wir schnell sehen und hören, wieviel Gesprächsbedarf die Kapitalisten von Gesamtmetall noch haben. Darüber in Betrieb und Gewerkschaft nicht nur nachzudenken, ist längst überfällig.

Anfang Texteinschub
Keine Power für den Osten?

Wir brauchen Powerstreiks für alle, ob Flächen- oder Haustarif!


Das ist die Aussage eines Delegierten in der nachfolgend kurz geschilderten Auseinandersetzung. Gemeint sind die in der Tarifbewegung 2018 erstmals durchgeführten und mit Streikgeld bezahlten 24-Stunden-Warn-Streiks. Sie werden seitdem in der IGM und nicht nur in den beteiligten Betrieben als "Powerstreiks" bezeichnet. In der Diskussion über "neue Arbeitskampfinstrumente" haben eine Reihe von Delegierten aus den Osttarifgebieten beim IGM-Gewerkschaftstag gefordert, die neue "Power" auch im "Häuserkampf" anzuwenden und in der entsprechenden Entschließung E3 festzuschreiben. Damit haben sie allerdings vor allem den hauptamtlichen Teil der Klassenkampf- und Streikexperten gegen sich mobilisiert. Die haben ihnen im Vorgriff auf die kommende Tarifrunde dann auch gleich eine ganze Ladung von Gegenargumenten vor die Füße gekippt. 24-Stunden-Warnstreiks sind für den Häuserkampf, zur Durchsetzung von Haustarifverträgen nicht geeignet. Sie wurden angeblich nur beschlossen, um die "Handlungsfähigkeit" und Kampfkraft der IGM in der Fläche, also für die Durchsetzung von Flächentarifverträgen zu erhöhen. Die Diskussion darüber ist auf 15 Protokollseiten (Gewerkschaftstag 11. Okt. 2019) festgehalten. Beteiligt waren 11 Delegierte, davon einschließlich Bezirksleiter Höbel 4 Hauptamtliche. Aufgrund des massiven Wiederstands der Ostdelegierten war die Antragsberatungskommission (ABK) gezwungen einen Kompromissvorschlag zu machen. Er wurde mit großer Mehrheit akzeptiert. Für die Zukunft der "Powerstreiks" im "Häuserkampf" heißt es jetzt als Ergänzung in der Entschließung E3: "Basierend auf den Erfahrungen mit dem neuen Streikkonzept der Metall- und Elektroindustrie wird die IG Metall prüfen, ob das Instrument des 24-Stunden-Warnstreiks oder andere Maßnahmen zu Erweiterung der Arbeitskampfinstrumente für betriebliche Auseinandersetzungen genutzt bzw. entwickelt werden können."

Bleibt die Frage zu prüfen, ob es nicht sinnvoll ist, basierend auf der Erfahrung dieser Diskussion einen Video-Clip oder Comic für die Bildungsarbeit oder z. B. auch als Unterhaltung für die streikenden Kolleginnen und Kollegen in Frankreich oder anderswo herzustellen. Überschrift: Probleme der deutschen Arbeiterklasse im Klassenkampf
Ende Texteinschub

*

Quelle:
KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 370, Februar 2020, S. 20-21
Herausgeber und Verlag:
Gruppe Kommunistische Arbeiterzeitung, Selbstverlag
Anschrift: KAZ-Redaktion, Reichstraße 8, 90408 Nürnberg
Tel. und Fax: 0911/356 913
E-Mail: gruppeKAZ@kaz-online.com
Internet: www.kaz-online.de
 
KAZ erscheint viermal jährlich.
Einzelpreis: 1,50 Euro
Normalabo: 10,00 Euro, Sozialabo: 7,70 Euro.
Förderabo: mindestens 20,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang