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LICHTBLICK/169: Big Brother is watching you


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel - 2/2010

Big Brother is watching you
Über Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und den Abbau bürgerlicher Rechte



"Herzlich willkommen, herzlich willkommen, in unserer schönen, neuen Welt?!" Kaum ist die Erkennungsmelodie der 10. Staffel des RTL II-Formats "Big Brother" verklungen, wird bespitzelt und bespannert, abgehört und rangezoomt; Geheimnisse werden offenbart, Peinlichkeiten entdeckt, Äußerungen seziert, Makel benannt, Körper begutachtet, Versäumnisse breit getreten und Privates veröffentlicht.

Die Bewohner sind freiwillig dort. Sie wissen, worauf sie sich einlassen, und sie hoffen, von ihrem Aufenthalt im Haus zu profitieren.

Wollen Sie ins Haus, zum Großen Bruder? Sie schütteln ablehnend mit dem Kopf: "Nein, ganz bestimmt nicht!" Zu spät - Sie sind schon drin, im Überwachungsstaat.

Herzlich willkommen!

Seit etwa 10 Jahren werden in Deutschland kontinuierlich Gesetze verschärft, Kontrollen verstärkt, Einschränkungen vorgenommen und Befugnisse erweitert. Auf die Frage nach dem Warum gibt die Politikwissenschaft eine deutliche Antwort: Der Staat, der seinen Bürgern ganz offensichtlich keine ausreichende Sozial-, Renten- und Gesundheitsversorgung mehr bieten kann, der auch bei der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen versagt und Bildungsangebote reduziert, müsse sich eben anders legitimieren - als Sicherheitsstaat.

Die Politik ist unter Legitimationszwang: Wenn sie augenscheinlich versagt, wieso soll der Bürger sich ihr noch fügen, gar für ihre horrenden Kosten aufkommen!? Die Antwort gibt sie selbst: Sie beschütze ihre Untertanen, kümmere sich um ihre Sicherheit.

Der Philosoph Spinoza stellte in seinem "Tractus Politikus" fest: "Jene, die insgeheim die Angelegenheiten des Staates vorantreiben, halten diese unter ihrer Kontrolle und so verschwören sie sich (?) gegen die Bürger (?)."

George Orwell skizziert in seinem Roman "1984" einen totalitären Staat, der perfide seinen Untertanen Rechte und Freiheiten entzogen hat. In ihrem jüngst erschienenen Buch "Angriff auf die Freiheit" stellen die beiden Autoren Trojanow und Zeh fest, dass die beängstigende orwellsche Fantasie Realität ist, der "demokratische Sektor" bereits verlassen wurde und, wie durch das nationalsozialistische Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, die Freiheit irreversibel beschädigt wurde.

Dass dieser Vergleich weder unangemessen, noch übertrieben ist, weisen Trojanow und Zeh unmissverständlich nach: Angefangen bei der Rasterfahndung, über biometrische Ausweise, Fingerabdruck- und DNA-Dateien, Speicherung von Telekommunikationsdaten und Online-Durchsuchungen, Steueridentifikationsnummern, ELENA und Swiftabkommen bis hin zu öffentlicher und "privater" Videoüberwachung - umfassend bespitzelt der Staat seine Bürger. Er weiß, was sie essen, wann sie aufstehen, welche Krankheiten sie haben, wohin sie reisen, wie sie ihre Freizeit verbringen, wer ihre Freunde sind ? und dazu benötigt der Staat nicht einmal die richterliche Anordnung (gemäß BKA-Gesetz, in Kraft getreten am 01. Januar 2009). Die Informationen Ihres Stromversorgers geben Aufschluss darüber, wann Sie morgens Ihre Kaffeemaschine einschalten, Ihr Lebensmitteldiscounter weiß - dank Kundenkarte -, welchen Kaffee Sie trinken, die Videokameras in der U-Bahn erkennen Ihr Gesicht und speichern Ihre Fahrtstrecke, Ihr Handy übermittelt ohnehin stets, wo Sie sich aufhalten und mit wem Sie kommunizieren, jede E-Mail ist, bevor Sie sie lesen, bereits von ECHELON ausgewertet worden, Ihre Bank hat penibel jede Kontobewegung notiert und Verdächtiges gemeldet, der Müsliriegel in Ihrer Aktentasche sendet - dank RFID-Chip - unentwegt Daten. Dass Sie gerne in die Sauna gehen, nächste Woche zum Oasis-Konzert und im Sommer in die Türkei fliegen, weiß der Große Bruder dank Ihrer Bank, Ihrem Handy, Ihrem E-Mail-Account, Ihrem Internetprovider und anderen Daten-Schnüffler und -Kraken schon lange. Ihre Geschlechtspartner und sexuellen Vorlieben haben Algorithmen anhand Ihrer Bewegungsprofile, getätigten Einkäufe, besuchten Internetseiten und verschickten Mitteilungen errechnet, entdeckt und archiviert: Und selbst Ihre Gedanken und Gefühle sind bekannt: Die neuesten Technologien erlauben es, Ihren Gesichtsausdruck, Ihren Puls und Ihre Gehirnströme aus der Ferne zu messen.

Wieso lassen die Bürger sich das gefallen, lassen sich kontrollieren und gängeln? Eine Antwort der Wissenschaft ist, dass die Bürger mit zu viel Freiheit gar nicht umgehen können, klare Grenzen benötigen. Denn Freiheit - Individualismus, die Abschaffung von Denk- und Handlungszwängen - ist eine neuzeitliche Errungenschaft, und Fremdbestimmung entlastet, gibt Sicherheit.

Eine weitere Antwort gibt der Chaos Computer Club: Der "normale" Bürger könne mit dem technischen Fortschritt kaum mithalten, sei von der Innovationsflut erschlagen. Er könne neue Technologien zwar anwenden, durchschaue sie jedoch nicht. Und die notwendige Aufklärung werde von Wirtschaft und Politik nicht ausreichend betrieben, weil es gar nicht in deren Interesse läge.

Die Massenmedien sind hier keine Hilfe. Ihr Credo "Angst sells" spielt Politik und Wirtschaft in die Hände, man erinnere sich an ausgemalten Schreckensszenarien zur Schweinegrippe, dem Sturmtief "Daisy" und dem Flugverbot wegen des Vulkanausbruches und des damit angeblich einhergehenden Weltunterganges.

Die Ziele der Wirtschaft sind mit denen der Politik annähernd deckungsgleich: An den gläsernen Kunden, über den die Unternehmen durch Kundenkarten, Auskunfteien und Datensammlungen eine Vielzahl von Informationen besitzen, lässt sich gut verkaufen.

Kennen Unternehmen die Bedürfnisse und Wünsche von Bürger/potenziellen Kunden, können sie ihnen adäquate Angebote machen; kennen sie ihre Schwächen, können Sie sie ausnehmen. Einhalt geboten hat diesem beängstigenden Treiben von Wirtschaft und Politik unlängst das Bundesverfassungsgericht: Am 02.März 2010 hat es die Vorratsdatenspeicherung gekippt. Gemäß dem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung wurden sämtliche Telefon-, Handy- und E-Mail-Verbindungsdaten für sechs Monate gespeichert; bei Handytelefonaten und SMS wurde auch der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten. Nach dem Erfolg der Verfassungsbeschwerde, an der sich über 30.000 Kläger beteiligten, versuchen "freiheitsliebende Bürger", so der Initiator FoeBuD e.V., nun ELENA zu stoppen.

Elena ist ein hochumstrittenes Verfahren zum elektronischen Entgeltnachweis und gefährdet die Privatsphäre aller Arbeitnehmer.

Selbst Peter Schaar, seit 2003 Bundesdatenschutzbeauftragter, hat in seinem Buch "Das Ende der Privatsphäre" vor Überwachung, Kontrolle und Einschränkung gewarnt. Er rät: "Nehmen Sie Ihre Rechte wahr! Eine kritische Öffentlichkeit und aufmerksame Bürgerinnen und Bürger sind der wahre Garant für Datenschutz."

Trojanow und Zeh richten einen eindringlichen Aufruf an das Volk: "Wir sind dabei, unsere persönliche Freiheit gegen ein fadenscheiniges Versprechen von "Sicherheit" einzutauschen. Ein autoritärer Staat kann jeden Protest im Keim ersticken, mit Hilfe von Gesetzen, die heute verabschiedet werden, um uns angeblich zu schützen. Wehren Sie sich. Noch ist es nicht zu spät."

Denn das Herzliche Willkommen in der schönen neuen Welt wird ein böses Erwachen in der Huxley'schen Welt?

Orwell George Orwells Roman "1984", den er 1948 geschrieben hat, schildert den "Großen Bruder", den totalitären Überwachungsstaat, in eindrucksvollen Schreckensbildern. Zusammen mit "Schöne neue Welt" ist "1984" die bekannteste und meist diskutierteste Sozialutopie. Die größte Raffinesse der Darstellung liegt in der Sprache, mit der Orwell seine Vorliebe für Paradoxie auf die Spitze treibt. Können die Parolen des Orwellschen Ministeriums für Wahrheit:
Krieg ist Frieden
Freiheit ist Sklaverei
Unwissenheit ist Stärke
nicht auch aus manchem Politikermund der heutigen Zeit stammen!?
Trojanow / Zeh:
"Angriff auf die innere Freiheit"
In allen Teilanstaltsbüchereien der JVA Tegel steht Ilija Trojanows und Juli Zehs Buch zur Ausleihe bereit.
Schaar:
Peter Schaar, Bundestagsdatenschutzbeauftragter, skizziert in seinem Buch "Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft" die Gefahren, die der Privatsphäre des Individuums drohen; "Ein Frosch, den man in einen Kessel sprudelnd heißen Wassers wirft, springt reflexartig sofort wieder hinaus. Setzt man den Frosch hingegen in einen Topf mit kaltem Wasser und erwärmt ihn allmählich, so bleibt er drin. Zunächst mag das sich erwärmende Wasser sogar recht angenehm sein. Wenn das Wasser weiter erhitzt wird, sind seine Kräfte erlahmt. Wenn es den Siedepunkt erreicht hat, ist er tot." Ergeht es uns auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft nicht ähnlich, fragt Schaar. Und: werden wir nicht bereits abgekocht?

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Quelle:
der lichtblick, 42. Jahrgang, 2/2010, Heft Nr. 343, S. 16-19
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2010