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LICHTBLICK/185: plus & minus - Weihnachtsamnestie


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 349 - 4/2011

plus & minus: Weihnachtsamnestie

Weihnachtsamnestie - statt einem "plus" gibt's ein dickes "minus".
Das, was die Justiz alle Jahre wieder aus Gnade verteilt, ist ein Danaergeschenk.

Von Dieter Wurm


Amnestie ist ein Straferlass. Entweder vollzogen am Einzelnen - in Form eines Gnadenaktes - oder aber einer größeren, bestimmten Gruppe von Untertanen wird ihre Strafe erlassen.

Im Feudalismus, also in Zeiten, als das Land noch Kaiser, Könige und Fürsten regierten, erfolgte durch diese Oberhäupter der allergnädigste Gnadenakt: die Amnestie. Man ließ Gnade vor Recht ergehen.

Adenauer hat die Nazikriegsverbrecher und die Verkehrssünder begnadigt (1959), das letztere wegen seiner sündigen Tochter.

Heute hat das Gnadenrecht die Aufgabe, Härten und Unbilligkeiten von strafgesetzlichen Entscheidungen auszugleichen. So kann der Bundespräsident - bei Verurteilungen, die erstinstanzlich in Ausübung der Gerichtsbarkeit des Bundes gesprochen wurden - weitgehend nach freiem Ermessen Gnade erweisen. Eine Amnestie für ganze Gruppen von Personen jedoch kann er nicht erlassen.

In den Bundesländern übernehmen meist Gnadenausschüsse Straferlasse im Einzelfall.

Auch zur Wiedervereinigung gab es in Deutschland keine Amnestie. Das Argument der Bundesregierung lautete damals, dass die deutsche Justiz derart rechtstaatlich sei, dass man da keine Amnestie bräuchte.


In den letzten Jahren kamen Berliner Gefängnisinsassen jedoch in den Genuss eines sogenannten "Weihnachtsgnadenerweises". Auch in anderen Bundesländern räumt man zum Jahresende die Knäste - in Zeiten der Überbelegung geschah dies auch, um Platz für neue Insassen zu schaffen.

Durch das Netz dieser Weihnachtsamnestien flutschen nur ganz kleine Fische, denn dessen Maschen sind nicht allzu großzügig: In Berlin können am 19. Oktober 2011 Gefangene, deren Entlassung in die Zeit vom 20. Oktober bis 15. Januar 2012 fällt, vorzeitig aus dem Netz schlüpfen, wenn sie eine Vielzahl von Voraussetzungen erfüllen. Zudem sind von der Gnade Insassen, die wegen BTM, Raub oder Straftaten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit inhaftiert sind, ausgeschlossen - obwohl sie in dem obigen Zeitraum entlassen werden.

Allein deshalb erweist sich die Gnade als wenig gnädig. Zudem ist diese Amnestie eine Mogelpackung, denn bei manchen vorzeitig Entlassenen wird die Strafe nicht beendet, sondern nur unterbrochen (bei den Gefangenen bei denen das Gericht die Vollstreckung der Rest-Freiheitsstrafe aussetzt). Experten sprechen zudem von einem statistischen Kniff, den die Justizbehörden anwenden: Sie schönen damit die Zahl der vorzeitig Entlassenen! Das Statistische Bundesamt rechnet in seiner Statistik unter den "Aussetzungen des Strafrestes" die Gnadenerweise zu Weihnachten mit ein.

In Berlin gewinnt dies besondere Brisanz - oder kann man gar von Heimtücke sprechen? -, denn bei der Zahl der vorzeitig Entlassenen ist Berlin Schlusslicht; rechnet man die Weihnachtsamnestierten ab, bleibt ein mickriger Rest von Gefangenen die so erfolgreich resozialisiert wurden, dass die Gerichte sie vorzeitig entlassen konnten. Ist dies also der Beweis, dass in Berlin die schlechteste Strafvollzugsarbeit geleistet wird?

Wie dem auch sei - Inhaftierte und auch Strafvollzugsexperten kritisieren die praktizierte Weihnachtsamnestie: Gnade für die, die ohnehin in Kürze entlassen werden - und ohnehin, weil sie sich anständig führten, frühzeitig gelockert und vorzeitig entlassen werden sollten.

Die richtige Titulierung dieses Vorgangs wäre vielleicht: Platzschaffung oder Statistikfrisur.


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Quelle:
der lichtblick, 44. Jahrgang, Heft Nr. 349, 4/2011, Seite 24
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2011