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MARXISTISCHE BLÄTTER/383: Wirtschaftskrise und Krise der neoliberalen Ideologie


Marxistische Blätter Heft 1-09

Wirtschaftskrise und Krise der neoliberalen Ideologie

Von Vladimiro Giacché


"Es ist bitter, aber wahr: die Weltwirtschaft befindet sich in ihrer schwierigsten Phase seit der großen Krise nach 1929." Wenn selbst der Leitartikel einer wenig zu Übertreibung neigenden Zeitung wie der Frankfurter Allgemeinen mit einem solchen Satz endet, muss die Lage ernst sein. Und sie ist es tatsächlich. Die Krise trifft heute alles und alle: die Banken, die Industrieunternehmen, die Staaten. Die Wirtschaftszeitungen sind Kriegsberichte geworden. In einer einzigen Ausgabe, der vom 11. November, berichtete die Financial Times über weitere "enorme Verluste" von Fannie Mae und AIG, Tausende vernichteter Arbeitsplätze bei Nortel und DHL, die Verstaatlichung der Investment-Bank Carnegie durch die schwedische Regierung, die drastische Drosselung der Stahlproduktion in der Ukraine. die Schließung zahlreicher Fabriken in China.

Das Ausmaß der Krise und ihre dramatische Beschleunigung widerlegt alle Versuche, ihre Bedeutung zu bagatellisieren und sie mit psychologischen oder moralischen Faktoren erklären zu wollen. Was das Bagatellisieren angeht, erinnern wir uns an jenen englischen Vermögensverwalter, dem die Financial Times am 23. August 2007, wenige Wochen vor dem Ausbruch der Krise, Platz für einen Gastkommentar einräumte, der mit dem Satz überschrieben war: "History teaches this is just a bull market correction" ("Die Geschichte lehrt, dass dies nur die Korrektur einer Hausse ist) und der damit die Wahrheit des Hegelschen Diktums bestätigte, dass die Geschichte noch nie jemanden etwas gelehrt hat. Auch die psychologisierenden und moralisierenden Erklärungen waren - und sind zum Teil immer noch - weit verbreitet: Noch am 12. November 2008 konnte man in der Financial Times lesen, die Krise sei durch die "human frailty" (menschliche Schwäche) verursacht! Eine Woche später attackierte ein Artikel in derselben Zeitung allerdings zu Recht den Versuch, die Krise ausschließlich mit "laxen Aufsichtsbehörden, unaufmerksamen Ratingagenturen und gierigen Finanzinstituten" zu erklären. Nachlässigkeit, Unaufmerksamkeit, Gier: lauter psychologische, "menschlich-allzumenschliche" Begründungen. Wer wollte tatsächlich glauben, dass eine Krise, die allein den Banken bereits Verluste von 1.000 Milliarden Dollar eingetragen hat, solche Ursachen hat?

Natürlich steht der Rückgriff auf psychologische Erklärungen der Entstehung der Krise völlig in Einklang mit der bis heute herrschenden neoklassischen Wirtschaftswissenschaft. Und dasselbe gilt für die Annahme, für den derzeitigen Verlauf der Krise sei ein "massenhafter Vertrauensverlust seitens der Investoren und Konsumenten" verantwortlich, wie erst kürzlich wieder der EU-Kommissar Günther Verheugen gemeint hat. Aber beides ist falsch. Der Präsident der Federal Reserve, Bernanke, und der US-Finanzminister Paulson waren bemerkenswerterweise die ersten Opfer dieses oberflächlichen, auf individuelle Irrtümer und Unvorsichtigkeiten rekurrierenden Ansatzes: tatsächlich resultierte ihr "fallweises" Eingreifen, das bis zum Konkurs von Lehman Brothers andauerte, aus ihrem sturen Festhalten an der Vorstellung von einer Krise, die das Ergebnis von individuellen Fehlern einiger Banken und ihrer Manager sei, und aus ihrer Weigerung anzuerkennen, dass die Probleme struktureller Art waren. In den Worten des Unternehmensanwalts Guido Rossi: "Es ist das ganze System, was versagt hat, das System ist zusammengekracht."


Die wirklichen Krisenursachen:

1. Die Ungleichheit

Mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, den man einen "11. September des US-Finanzwesens" nennen könnte, verändert sich das Szenario. Panik verbreitet sich auf den internationalen Märkten. Das Wort "Rezession" beginnt auf den Titelseiten der Zeitungen zu erscheinen, und man spricht jetzt offen von einer Auswirkung der Finanzkrise auf die "Realwirtschaft". Diese Meinung ist sehr populär und auch unter Linken weit verbreitet. Sie hat u. a. den offenbaren Vorteil, das gegnerische Lager aufzuspalten in böse Kapitalisten (die Finanzleute) und gute Kapitalisten (die Industriekapitalisten), in eine "abartige" Wirtschaft (die Finanz) und eine "gesunde" Wirtschaft (die "reale"). Diese Auffassung mag tröstlich sein. Aber leider ist sie vor allem falsch. Gerade die Krisendynamik zeigt uns, dass die Dinge anders liegen. Die Krise hat nämlich ihre Ursprünge in der "realen" Wirtschaft. Der Zusammenhang zwischen "Realwirtschaft" und Finanzprodukten wird deutlich, wenn wir die berüchtigten Subprime-Kredite untersuchen, die zum Auslöser der Krise wurden. Wir müssen dabei aber einen Protagonisten einführen, der in den offiziellen Darstellungen gewöhnlich fehlt: die zunehmende Ungleichheit.

Am 8. April 2008 erschien in der Financial Times ein wichtiger, auf der ersten Seite folgendermaßen angekündigter Artikel: "Rückkehr zu den 20er Jahren. Die Rückkehr zu einer ungleichen Welt". Der Beitrag begann mit diesen Worten: "Die Ungleichheit zwischen den Einkommen in den Vereinigten Staaten hat ihren höchsten Punkt seit dem Katastrophenjahr 1929 erreicht. Und er fuhr so fort: "Die bemerkenswerteste Eigenschaft der Ära der Ungleichheit und des freien Markts, die in den 80er Jahren begann, stellt die Tatsache dar, dass es so wenig Reaktionen gab auf die Stagnation der Löhne und Gehälter der einfachen Leute in einem so großen Teil der Volkswirtschaften der entwickelten Welt." Die Zahlen sind in der Tat eindrucksvoll. Zwischen 1979 und 2005 sind die Vor-Steuer-Einkommen der ärmsten US-amerikanischen Familien um 1,3 Prozent jährlich gewachsen, die der mittleren Schicht um weniger als 1 Prozent, während die der reichsten 1 Prozent der Bevölkerung um 200 Prozent vor Steuern und sogar um 228 Prozent nach Steuern stiegen - pro Jahr! Ergebnis: 2005 betrug das Einkommen nach Steuern des ärmsten Quintils der Bevölkerung 15.300 Dollar jährlich, das des mittleren Quintils 50.200 Dollar, während das des obersten einen Prozent über 1 Million Dollar lag. In den Jahren zwischen 2002 und 2006 kamen fast drei Viertel des Wachstums des Gesamteinkommens dem obersten 1 Prozent der amerikanischen Bevölkerung zugute. 2005 hat dem US Census Bureau zufolge der Ungleichheitsindex der Einkommen sein historisches Maximum erreicht. Dasselbe gilt für Großbritannien nach dem Machtantritt von Blairs New Labour 1997: auch hier klafft nach den Daten der Regierung die Einkommensschere so weit auseinander wie nie zuvor. Doch der Rückgang des auf die Löhne entfallenden Bruttoinlandsprodukts und das Wachstum der auf die Profite entfallenden Quote ist eine Tendenz, die alle Länder des entwickelten Kapitalismus betrifft, wie eine Untersuchung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich deutlich gemacht hat: In Italien z. B. ist die Lohnquote von 1983 bis 2005 um 8 Prozentpunkte gesunken und in höhere Profite gegangen (die in diesem Zeitraum von 23 auf 31 Prozent des BIP gestiegen sind).

Angesichts dieser Zahlen ist die Verwunderung der Financial Times über das Ausbleiben von Reaktionen (also Kämpfen) auf diese gigantische Umverteilung des Reichtums nach oben mehr als gerechtfertigt. An Erklärungen dafür fehlt es aber nicht. Neben dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen (das auch durch die von Ländern mit viel niedrigeren Kosten der Arbeitskraft ausgeübte Konkurrenz aus dem Gleichgewicht gebracht ist) haben zweifellos Faktoren eine erstrangige Rolle gespielt, die mit dem ideologischen Triumph des Kapitalismus zusammenhängen, der nach dem Fall der Berliner Mauer und der Implosion des realen Sozialismus in Osteuropa seinen eigenen Horizont als Horizont der menschlichen Geschichte ausgeben konnte. In den USA ist aber noch ein Faktor anderer Art von Bedeutung. Dort begann der Lebensstandard von Personen mit mittleren und niedrigen Einkommen sich von der Entwicklung der Einkommen abzukoppeln. Genau hier kommen jetzt der Immobiliensektor und die Subprime-Kredite ins Spiel. Die von der Fed betriebene expansive Geldpolitik und Politik niedriger Zinsen hat die Immobilienblase gefördert und es gleichzeitig auch Familien mit geringem Einkommen ermöglicht, relativ günstig Schulden zu machen. Das Wachstum der Immobilienwerte hat das Gefühl wachsenden Reichtums erzeugt, obwohl das Einkommen in Wirklichkeit nicht wuchs (Ähnliches war schon Ende der 90er Jahre mit der Börsenblase der "New Economy" passiert), und hat es unter anderem ermöglicht, mit den Krediten erneut zu handeln und auch Hypotheken auf die Immobilie aufzunehmen zur Garantie von zum Konsum bestimmten Darlehen. Wie Stiglitz schrieb, "hat die Immobilienblase den Verbrauch stimuliert, aus dem Haus wurde in hektischem Rhythmus Geld gezogen wie aus einem Bancomat, während die Sparguthaben der Familien dahinschmolzen". Unterdessen heckte die fruchtbare Fantasie der großen US-amerikanischen Kreditinstitute Produkte aus für Leute, die weder Einkommen noch Arbeit hatten und auch keine Vermögensgarantien anbieten konnten: die sogenannten "Ninja-Kredite" ("no income, no job, no asset"). Diese und andere hochriskante Kredite sind genau die berüchtigten Subprime-Kredite. Tatsächlich handelte es sich um Narkosemittel, Finanzdrogen, die es möglich machten, die sinkenden Einkommen der arbeitenden US-Bevölkerung (notwendig, um den Fall der Profitrate aufzuhalten) nicht zu Ungunsten des Konsums gehen zu lassen. Das explosionsartige Wachstum der Verschuldung der amerikanischen Familien (sie liegt bei 93 Prozent des BIP der USA) war also eine strukturelle Systemnotwendigkeit.

Wie wir jetzt wissen, gewährten die Banken diese Kredite und verkauften sie dann wieder - im Paket mit anderen Krediten besserer Qualität -, wobei sie sie in eigens dafür bestimmte Investitionsvehikel einfügten, deren Raten den Investoren als Obligationen mit besserem Rating angeboten wurden. Diese Konstruktion war perfekt, sieht man von einer kleinen Besonderheit ab: dass dieses ganze Kartenhaus nur so lange nicht zusammenfiel, solange der Wert der Immobilien nicht zu wachsen aufhörte (das erworbene Haus also im Wert stieg und deshalb mit Gewinn wieder verkauft werden konnte). Aber dies konnte natürlich nicht ad infinitum weitergehen. Und tatsächlich begann der US-Immobilienmarkt 2006 zu stagnieren und brach schließlich zusammen. Nicht einmal die gerissensten Wall Street-Banker können alles auf einmal haben.


2. Schulden, verkleidet als Liquidität

Der Rest der Geschichte ist bekannt: das Platzen der Blase der Subprime-Kredite, verursacht durch die Insolvenz hunderttausender US-amerikanischer Familien, trifft voll das globale Finanzsystem. Die involvierten Banken sind zu massiven Bilanzkorrekturen gezwungen, und der gesamte Obligationenmarkt wird von Verkäufen überflutet. Die Vermögensvoraussetzungen der Banken erweisen sich als ungeeignet, den eingegangenen Risiken zu begegnen. Die Banken geben sich gegenseitig keine Darlehen mehr, weil sie kein Vertrauen mehr in die Solvenz ihrer Partner haben. Es kommt zu wiederholten Kurseinbrüchen der Aktien. Die Rettung großer Banken, in den USA wie in Europa, durch die öffentliche Hand wird notwendig...

Soweit die Chronik. Doch es gibt ein Aber: warum konnte die Krise eines Produkts wie die Subprime-Kredite einen Dominoeffekt von diesen Ausmaßen auslösen? Der Grund ist ganz einfach. Der Schuldenberg war nicht nur für die amerikanischen Familien charakteristisch. Im Gegenteil: Der Finanzhebel war das Grundmerkmal der Funktionsweise des Systems in seiner Gesamtheit. Die extreme Nutzung dieses Hebels wurde ermöglicht durch niedrige Zinsen (in den USA waren sie tatsächlich negativ, lagen unter der Inflationsrate) und durch eine äußerst permissive Gesetzgebung (die unter anderem die Allokation von Investitionsvehikeln außerhalb der Bilanz erlaubte). Tatsächlich konnte man mit nur 1 Dollar an Eigenmitteln bis zu 30 Dollar Kredit aufnehmen. Ein Triumph des fiktiven Kapitals. Die enorme Liquidität auf den Märkten war selbst fiktiv: es handelte sich in Wirklichkeit um Geld, das von anderen Akteuren geliehen worden war. Dies ist der Grund, warum die gesamte Konstruktion wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel: um das Loch der Subprime-Kredite zu stopfen, musste man andere öffnen, um eine Schuld zu bezahlen war es nötig, sich neu zu verschulden. Das ist die Geschichte dieser Monate. Um ein bekanntes Wort des Vorsitzenden Mao zu paraphrasieren, der Imperialismus hat sich als ein Wertpapiertiger erwiesen. Liquidität, Profite, Gewinnspannen: alles war fiktiv. Als man die reale Kapitalisierung der Banken zu berechnen begann, also abzüglich der Schulden und der bei den Geschäftspartnern nicht mehr eintreibbaren Kredite, bemerkte man mit Schrecken, dass diese lächerlich niedrig oder geradezu negativ war.


3. Die Börsenspekulation als "Kapitalexport im Inland"

Die internationalen Finanzjournale haben uns von dem traurigen Fall des Herrn Adolf Merckle berichtet, dem deutschen Milliardär (nach Forbes die fünftreichste Person Deutschlands), Eigentümer von Ratiopharm, Phoenix und eines Großteils von HeidelbergCement, der eine Milliarde Euro verlor, indem er mit seinem Privatvermögen auf die Baisse der VW-Aktien setzte, und der sich daraufhin an ein Konsortium von 40 Banken und den Staat um Hilfe wandte. Ein ähnliches Missgeschick widerfuhr dem Finanzmann Zalesky, Großaktionär einiger der wichtigsten notierten italienischen Unternehmen (von Intesa-Sanpaolo bis Generali): er ging praktisch bankrott wegen der Entwertung von Papieren, die er auf Kredit gekauft hatte, und ein Konsortium von Banken (darunter die Intesa selbst) ist jetzt bemüht, ihn wieder aufzupäppeln. Dies sind extreme Fälle einer weit allgemeineren Erscheinung: der Durchführung spekulativer Aktionen, um Profitraten zu erzielen, die auf andere Weise nicht möglich wären. Sie können erfolgreich sein (und finden dann im allgemeinen keinen Eingang auf die Zeitungsseiten) - oder eben nicht, wie in den hier erwähnten Fällen. So oder so nichts Neues unter der Sonne; schon bei Marx war zu lesen: "Alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise werden ... periodisch von einem Schwindel ergriffen, worin sie ohne Vermittlung des Produktionsprozesses das Geldmachen vollziehen wollen." Es handelt sich um ein Phänomen, das, kurz vor der Krise von 1929, auch von Henryk Grossmann beschrieben wurde; er betrachtete die Börsenspekulation als eine Art Kapitalexport im Inland, ganz parallel zu dem "Kapitalexport ins Ausland". Diese Umleitung von Kapital aus der Warenproduktion auf spekulative Aktionen ist letzten Endes eine Folge der Krise der Kapitalverwertung in den ursprünglichen Sektoren der Aktivität. Ein Großteil der Produktionsbetriebe selbst hat in den letzten Jahren auf diese Weise Profite erzielt. Es gibt auch Multis wie die General Electric, die für diese Art Aktivität einen eigenen Unternehmenszweig gebildet haben, in diesem Fall GE Capital. Und in den Jahren vor der Krise dieser Branche hat die General Electric über 50 Prozent ihrer Profite mit dieser Tochter gemacht. Auch aus diesem Grund ist es Unsinn, von der "Finanzkrise" als von etwas ganz Eigenständigem, von der "Realwirtschaft" Unterschiedenem und ihr Entgegengesetztem zu sprechen.


Ideologische Folgen der Krise

Je mehr die Krise sich verbreitet und vertieft, wächst die Angst des Establishments, weltweit. Auch weil immer deutlicher wird, dass das System auf der Anklagebank sitzt. Angeklagt ist der heutige Kapitalismus. Mit seiner Ideologie, der die jetzige Krise furchtbare Schläge zufügt, die die ideologischen Erfolge von gestern pulverisieren und vernichten. Einige Beispiele.


1. Die Ungleichheit als Problem

Wir haben vor allem das Umkippen eines der Angelpunkte der herrschenden Ideologie, die in der Ungleichheit den Motor des Wirtschaftssystems sieht. Diese wäre einerseits Ausdruck der unterschiedlichen Verdienste und Fähigkeiten der untereinander in gesundem Wettbewerb stehenden Individuen, andrerseits ein wesentlicher Stimulus sich zu verbessern, immer effizienter und konkurrenzfähiger zu werden, um so das eigene Vermögen zu vermehren und auf der sozialen Leiter aufzusteigen. Die jüngsten Ereignisse sagen uns, dass das Gegenteil wahr ist: die Ungleichheit führt die strukturelle Ungerechtigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems vor Augen, offenbart seine immanenten Grenzen und ist heute anscheinend in der Lage, es in die Krise zu stürzen, wobei sie Kettenreaktionen auslöst, die an den Lebensnerv der Finanzwelt rühren. Auch für die gegenwärtige Krise gilt, was Marx beobachtet hat: "Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde."


2. Vom Staat als Problem zum Staat als Lösung

Doch unmittelbar betroffen ist ein ideologischer Hauptfetisch der letzten zwanzig Jahre: der Markt. Endlich haben sie uns davon überzeugt, dass der Markt der Urheber all des Guten ist, was es in unserer Welt gibt, während der Staat nur dessen Werk zerstören kann, und da kommt die Krise. Und ereignet sich das Wunder: Plötzlich ist die "sichtbare Hand" des Staates nicht nur wieder erwünscht, sondern wird, von ganz unverdächtigen Stimmen, geradezu angefleht. Es hat schon etwas, wenn die Financial Times nichts einzuwenden hat gegen die Verstaatlichung der vor dem Bankrott stehenden englischen Bank Northern Rock oder gegen die 50-Milliarden-Pfund-Stütze für die Banken durch die Bank of England in Form von Staatspapieren im Tausch gegen Immobilienkredite. Und es hat noch mehr, wenn der Präsident der Federal Reserve, Bernanke, nachdem er die in Schwierigkeiten geratenen Geschäftsbanken refinanziert hat, nachdem er als Garantie für ihre Finanzierung mit 200 Milliarden Dollar Subprime-Titel akzeptiert hat, die Rettung der Bear Stearns Bank damit rechtfertigt, dass es sich in Wirklichkeit um eine "Rettung der Märkte" handle ... Aber die Überraschungen nehmen kein Ende: von dem Finanzmann George Soros, der gegen den "Marktfundamentalismus" wettert, zu dem ehemaligen italienischen Minister Domenico Siniscalco (heute schließlich bei Morgan Stanley), der die "pragmatische" und anti-ideologische Haltung derer preist, die "das Dogma, der Markt könne alle Problem lösen" endlich aufgegeben haben; vom alten Paul Samuelson, für den "etwas Etatismus nötig ist", zum Herausgeber der Repubblica, Ezio Mauro, der vom Ende der "einzigen übriggebliebenen Ideologie - ein universeller Markt ohne Staat und ohne Regierung" - spricht. Kurz: die "Konvertiten zum interventionistischen Staat" - wie sie der deutsche Soziologe Ulrich Beck genannt hat - lassen sich wirklich nicht mehr zählen. Beginnend, könnte man sagen, mit den Finanzmärkten selber: als der Paulson-Plan, den Banken ihre Anleihen wieder abzukaufen, lanciert wurde, konnte die Financial Times mit der Schlagzeile aufmachen: "Global markets roar in approval" ("Stürmischer Beifall der globalen Märkte"). Wenige Tage zuvor hatte Paulson selbst unfreiwilligerweise das Signal zum Ende des Mythos von der Selbstgenügsamkeit des Marktes gegeben, als er die Weigerung, den Konkurs von Lehman Brothers zu verhindern, mit einer feierlichen Versicherung besiegelte: "Der Markt muss sich um den Markt kümmern." Und alle Börsen hatten unisono zum Ausdruck gebracht, was sie davon hielten: mit einem dramatischen Absturz.


3. Der Markt als Monster: die Deregulierung unter Anklage

Das Modell der Deregulierung der Märkte, das von Reagan seit den 80er Jahren gestartet worden war, ist tatsächlich in eine irreversible Krise geraten. Von der Schwere dieser Krise zeugt eindringlich das Wort des deutschen Bundespräsidenten (und ehemaligen Direktors des Internationalen Währungsfonds) Horst Köhler: "Die internationalen Finanzmärkte haben sich zu einem Monster entwickelt, das in die Schranken gewiesen werden muss." Es wird jetzt also deutlich und auch offen gesagt, was viele schon wussten: die "Selbstregulierung" der Märkte meine schon immer "Fehlen von Regulierung". Sogar in der Financial Times kann man lesen, dass die Aufforderung, "es den Markt richten zu lassen", inzwischen jede Glaubwürdigkeit verloren hat. Und auch Tommaso Padoa Schioppa spricht jetzt von der "Krise einer ideologischen Sicht der Ökonomie. nämlich der, wonach die Märkte in jedem Fall recht haben und keiner Eingriffe bedürfen"; und er behauptet sogar, dass "die Krise von der Unfähigkeit des Marktes herrührt, Tag für Tag 'gerechte' Bewertungen zu treffen". Kurz, die Rationalität des Markts ist einfach zum Teufel gegangen. Es ist kein Zufall, dass die anthropomorphe Metapher vom Markt als rationalem Subjekt, eins der Kernstücke der neoliberalen Ideologie der letzten Jahre, beunruhigenden Monster-Metaphern weicht.


4. Die Krise der Legitimität des Markts

Parallel zur wachsenden Notwendigkeit staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft - in Größenordnungen, die Entsprechungen nur in der Zeit der Großen Depression finden -, zeichnet sich eine regelrechte Legitimitätskrise des Markts ab. "Die politische Legitimität der Marktwirtschaft selbst" gerät ins Wanken. Diese Legitimitätskrise ist so gravierend, dass sich die Financial Times veranlasst sah, ein Editorial dem "Lob der freien Märkte" zu widmen. Auch die Frankfurter Allgemeine beschäftigte sich in einem sehr besorgten Leitartikel mit der traurigen Tatsache, dass "die Finanzkrise das Vertrauen in die Marktwirtschaft erschüttert". Es ist kein Zufall, dass immer häufiger der Vergleich zwischen dem Fall der Berliner Mauer und dem Fall der Mauern von Wall Street gezogen wird. Anthony Giddens, einer der theoretischen Väter von Tony Blair und New Labour, meint, dass "wir am Anfang einer neuen Ära stehen, ein wenig wie 1989, beim Fall der Berliner Mauer". Die Financial Times hat eine von der John-Templeton-Stiftung bezahlte Seite veröffentlicht zu dem spannenden Thema "Zersetzt der freie Markt die Moral?" Die Antwort der befragten "Experten" ist natürlich negativ, aber die Seite ist zweifellos ein Zeichen der Zeit. Und da verwundert uns nicht einmal mehr der in derselben Zeitung veröffentlichte Leserbrief mit dem kühnen Titel: "Der Kapitalismus darf nicht als bedingungsloses Dogma betrachtet werden."


5. Hinter dem "Markt" versteckt: der Kapitalismus

In Wirklichkeit geht es genau darum: "Markt" meint "Kapitalismus". Wenn die neoliberalen Ideologen vom "Markt" sprechen, meinen sie in erster Linie weder den freien Warenaustausch noch die freie Konkurrenz. Sie meinen die Eigentumsrechte: das Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln. Sie meinen Kapitalismus. Das ist die Übersetzung von Ausdrücken wie "Marktgesellschaft", "marktwirtschaftliche Ordnung", "Marktwirtschaftssystem", "Marktsystem" und vor allem "Marktwirtschaft". Wir sind nicht die einzigen, die das feststellen: auch der Präsident einer der führenden italienischen Banken hat schon vor Jahren vom "herrschenden Wirtschaftssystem - früher Kapitalismus, heute Marktsystem genannt" gesprochen.

Was ist der Grund für diese Neudefinition des Kapitalismus über den Markt? Das wird sehr gut in einem der letzten Aufsätze von John Kenneth Galbraith erklärt: "Seinerzeit", erinnert sich Galbraith, "war 'Kapitalismus' nicht nur die gängige Definition des bestehenden Wirtschaftssystems; in dem Wort war auch der Bezug auf diejenigen enthalten, die die wirtschaftliche und daher politische Macht ausübten. Man sprach von Handelskapitalismus, Industriekapitalismus, Finanzkapitalismus." Dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, "bürgerte sich [in den USA] der Begriff 'market system' ein. Man hätte kaum einen nichtssagenderen Ausdruck ersinnen können. Eben deshalb war er erfolgreich. Der Verweis auf den Markt als gnädige Alternative zum Kapitalismus ist ein kosmetisches, lasches und fades Verfahren, das eine unbequeme Wirklichkeit kaschieren soll. ... Niemand beherrscht den Markt, weder Einzelne noch Unternehmen. Keinerlei Form ökonomischer Vor-herrschaft wird angesprochen. Marx und Engels scheinen nie existiert zu haben. Es gibt nur den unpersönlichen Markt."


6. Versuche der Verteidigung

Derzeit fehlt es natürlich nicht an ideologischen Verteidigungen des Markts, die auf der Annahme basieren, die Probleme seien dessen Mängeln geschuldet. Manchmal wird sogar verneint, dass die Märkte, die Probleme geschaffen haben, den Namen "Märkte" überhaupt verdienen. So schrieb ein wichtiger europäischer Finanzmann in einem Brief: "Ich bin der Meinung, dass wir als 'Finanzmärkte' einen Wust von Transaktionskanälen bezeichnen, die zu mindestens drei Vierteln ein Sammelsurium von künstlich segmentierten und völlig undurchsichtigen Domänen weniger großer oligopolistischer Banken sind, die ihre Position den Verzerrungen des 'too big to fail' verdanken." Kurz, es sei fast "schändlich", diese Kanäle "Märkte" zu nennen. In Krise geraten wäre demnach nicht der Kapitalismus, sondern allenfalls eine Spielart des Kapitalismus. Diesem Ansatz zufolge gibt es einerseits die "Marktmechanismen", andererseits ihre "Entartungen". Einerseits das Ideal des "perfekten Konkurrenz-Markts", andrerseits das, was ihn von außen daran hindert, sich völlig zu entfalten. Das Schema wird mancher Leser wiedererkennen: es wurde in der Sowjetunion Breschnews gerne verwendet. So gesehen, sind die heutigen Apologeten des "Realkapitalismus" nicht sehr innovativ.

Eine weitere Verteidigungslinie besteht in der sonderbaren Verkehrung der Verwendung des Marktbegriffs zu euphemistischen Zwecken. Wenn beispielsweise Joseph Stiglitz betont, "der Fall von Wall Street ist für den Marktfundamentalismus das, was der Fall der Berliner Mauer für den Kommunismus war", wird nicht nur deutlich, dass wir es hier mit einer asymmetrischen Gleichsetzung zu tun haben (warum wird nicht von "Kapitalismus" gesprochen?), sondern auch, dass der Markt jetzt in einen abwertenden Kontext gestellt werden soll, um den Kapitalismus zu retten. Der Kapitalismus wird so vor seinen Kritikern geschützt, ohne ihn zu nennen. Noch besser der französische Ministerpräsident Fillon: er meinte, das, was auf den Finanzmärkten durch das Wirken der US-amerikanischen "Finanzleute" geschehen sei, habe zu einer "Irreleitung [dévoiement] des Kapitalismus" geführt. Über die übliche Gegenüberstellung von "idealem" und "realem" Kapitalismus hinaus wird hier der Markt aufgegeben: der Strohmann wird seinem Schicksal überlassen. Wie der Spion in einem Roman von Le Carré: zu exponiert und deshalb "verbrannt".


Schluss

An dieser Stelle empfiehlt es sich, das wirkliche Verhältnis zwischen Markt und Kapitalismus zu klären. Das ist sehr wichtig, um die neoliberale Ideologie zurückzudrängen, ihre Hegemonie auf dem Feld der Begriffe und strategischen Konzepte in Frage zu stellen. Vor allem muss der Marktbegriff von dem ideologischen Inhalt, der ihm fälschlicherweise zugeschrieben wurde, befreit werden. Der Markt ist, soviel zunächst, kein Subjekt (weder ein rationales noch ein monströses): er ist ein Ort. Ein Ort, an dem etwas ausgetauscht wird (Heringe, Aktien, Informationen ...). Märkte hat es immer gegeben. Jeder Markt braucht per definitionem Regeln, um zu funktionieren. Schon deshalb ist die Entgegensetzung von Staat und Markt unsinnig: tatsächlich legt der Staat die Regeln fest, nach denen der Markt funktioniert. Allerdings nicht allein: entscheidend sind die Funktionsregeln, die den Märkten von der Produktionsweise, in der sie operieren, und von den bestehenden Klassenverhältnissen auferlegt werden. Auch die Festlegung der mehr oder weniger rigiden Regeln seitens des Staates hat mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu tun: so ist beispielsweise ein deregulierter Arbeitsmarkt wie der jetzige die Folge der für die Arbeitenden ungünstigen Kräfteverhältnisse der letzten Jahrzehnte. Aus dem eben Gesagten geht hervor, dass es einen in striktem Sinne 'freien' Markt nicht gibt (jeder Markt folgt bestimmten Regeln). Aber vor allem geht daraus hervor, dass die seit den 90er Jahren in den USA und dann (wenn auch in unterschiedlichem Maße) in Europa erfolgte Deregulierung der Finanzdienstleistungen nicht nur genau bestimmbaren Klasseninteressen entsprach, sondern auch zweckmäßig war für die derzeitige Phase der Entwicklung des Kapitals und mit seinem generelleren Bedürfnis übereinstimmte, so frei und beweglich zu sein wie nur möglich.

Dies ist, ob es einem gefällt oder nicht, der Realkapitalismus, der real existierende Kapitalismus. Und er hat Bankrott gemacht.


Vladimiro Giacché, Dr., Rom, Wirtschaftswissenschaftler

Übersetzung aus dem Italienischen: Hermann Kopp


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-09, 47. Jahrgang, S. 62-69
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2009