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MARXISTISCHE BLÄTTER/434: Streik als Antwort auf neoliberale Bildungspolitik


Marxistische Blätter Heft 2-10

Streik als Antwort auf neoliberale Bildungspolitik

Von Simon Zeise


Dieses Jahr markiert den Prüfstein für zwei neoliberale Großprojekte. Gerhard Schröder wollte der Kanzler sein, der sich vor sieben Jahren auf das heutige Etappenziel festlegte. Seine Parole: Durch mehr Flexibilität und Eigenverantwortung zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und höherer Beschäftigung gelangen. Das Resultat ist beängstigend. In einem der reichsten Länder treten Kinderarmut und Analphabetismus wieder auf die Tagesordnung. Neben Schröders Agenda 2010 wurde das Bildungswesen denselben Methoden unterworfen. Mit gleicher Radikalität, aber auf gesamteuropäischer Ebene.


Erklärte Ziele der EU

1999 trafen sich in Bologna 29 europäische Bildungsminister und vereinbarten, binnen der kommenden elf Jahre ein einheitliches europäisches Hochschulwesen zu schaffen. Die bisher in Deutschland üblichen Diplom- und Magisterstudiengänge sollten, ebenso wie Staatsexamen, durch aufeinander aufbauende, zweistufige Studiengänge ersetzt werden. Heute stellt der Bachelor den ersten Regelabschluss, der Master das darauf folgende Zusatzstudium dar.

Die angestrebte Vereinheitlichung der europäischen Universitäten zielt darauf ab, dass die an ausländischen Universitäten erbrachten Leistungen unbürokratisch anerkannt werden können, also die Mobilität unter den Studierenden erhöht wird. Zur besseren Vergleichbarkeit der jeweiligen Leistungen wurde ein Kreditpunktesystem geschaffen.

Das Ziel, den Wechsel zwischen Hochschulen ins Ausland zu erleichtern, wurde verfehlt. Das europäische Studienprogramm "Erasmus", das jährlich Studierenden einen Auslandsaufenthalt ermöglichen soll, erfreut sich zunehmend überschüssiger Plätze. Schuld daran ist die Überarbeitung (workload) der Studierenden.Wer seine Kreditpunkte sichern will, der muss auf den Auslandsaufenthalt verzichten.

Selbst im Inland funktioniert der schnelle Studienwechsel nicht. Im Gegenteil, gab es im Sommersemester 2009 allein in den Ingenieurwissenschaften in der Bundesrepublik rund 1400 verschiedene Bachelorstudiengänge. Jeder dieser Studiengänge wurde dabei mit unterschiedlichen Lehrveranstaltungen und Prüfungen versehen, sodass es meist dem Zufall obliegt, wenn erbrachte Leistungen an anderen Universitäten anerkannt werden. Leider ist dies die Regel.


Unterfinanzierung

Außerdem sind die Hochschulen chronisch unterfinanziert. Dem Mangel an Lehrkräften stehen überfüllte Hörsäle und Seminarräume zur Seite. Professuren laufen aus und werden dann einfach nicht mehr neu besetzt. Bisher ist nur ein Bruchteil der Studienplätze ausfinanziert, weshalb in Deutschland nur 35 % eines Abiturjahrgangs ein Studium aufnehmen, während es im EU-Durchschnitt deren 50 sind.

Nach Angaben der Hochschulrektorenkonferenz fehlt es jährlich an 3,8 Milliarden Euro, die - neben den laufenden staatlichen Bildungsausgaben - ausgegeben werden müssten, um längst überfällige Qualitätsverbesserungen nachzuholen. Seit Mitte der 1970er Jahre werden die Bildungsausgaben allerdings sukzessive zurückgefahren. Wurden 1975 noch etwas mehr als 5 % des BIP investiert, waren es 2008 nur noch 3,69 %. Wenn Bildungsministerin Schavan das Bildungsniveau von 1995 erreichen will, müsste sie 10,3 Milliarden Euro zusätzlich investieren. Ein Bildungswesen aus dem Jahre 1975 würde sie sogar 35,5 Milliarden mehr kosten. Die Beschlüsse des von der Bundesregierung veranstalteten Bildungsgipfels im Herbst 2008 sehen hingegen vor, bis 2015 lediglich zehn Prozent des BIP in die Bildung zu investieren.

Einhergehend mit der laufenden Unterfinanzierung wurde im Bologna-Prozess die Verkürzung und Verschulung des Hochschulwesens festgeschrieben. Die Wahlfreiheit in der Lehre wurde für die Studierenden krass beschnitten. Um nötige Kreditpunkte zu erzielen, deren Nichterreichen schnell zur Exmatrikulation führt, müssen Seminare besucht, Referate gehalten und Prüfungen absolviert werden, koste es, was es wolle. Was gelernt wird, ist egal. Allein die erlangten Punkte zählen.

Auf diese prekarisierten Studienverhältnisse reagiert die Bundesregierung mit der "Exzellenzinitiative". Besser gesagt, sie weicht aus. Nicht die Breite der Studierenden wird entlastet, indem neue und tarifierte Wissenschaftlerstellen geschaffen und damit Bildungsbarrieren abgebaut werden. Stattdessen wird "exzellente", weil international wettbewerbsfähige, Forschung gefördert.


Kapitalinteressen

Die Entwicklung der Hochschulen wirkt auf den ersten Blick Kapitalinteressen widersprechend. Schließlich war das Diplom bei Unternehmen anerkannt und erfreute sich in dieser Hinsicht internationaler Beliebtheit. Der Bachelor hingegen wird zumeist nicht als vollwertiger Abschluss anerkannt, entspricht er mit einer Regelstudienzeit von drei Jahren doch in etwa einer Zwischenprüfung der alten Studiengänge. Der darauf folgende Master, der nach zwei Jahren beendet sein soll, stellt erst den Abschluss dar, der auf dem Arbeitsmarkt Akzeptanz findet.

Den Universitäten, teilweise sogar einzelnen Fakultäten, steht es bis heute frei, Bachelor-Absolventen in das Master-Programm zuzulassen. Zugangsbarrieren lassen sich leicht erfinden, besonders kreativ sind sie nicht: meistens sind es der gute Notendurchschnitt und/oder Gebühren. An manchen Orten haben die Fakultäten in letzter Instanz dann immer noch die Entscheidungsgewalt darüber, welche Studierenden sie nehmen wollen. Warum aber wird diese europäische Mammutreform durchgesetzt, wenn für die breite Masse nur ein Schmalspurstudium gewährleistet wird? Ist das im Interesse deutscher, gar europäischer Wettbewerbspolitik?

Einfach gesagt, lässt sich die neoliberale Strategie auf das Prinzip Klasse statt Masse reduzieren. Die Universitäten müssen nicht mit neuen Finanzen ausgestattet werden. Stattdessen bietet die Verkürzung der Regelstudienzeit von fünf (Diplom) auf drei (Bachelor) Jahre hervorragende Ansatzmöglichkeiten den Rotstift zu zücken. Z. B. gaben die bundesdeutschen Universitäten im Jahr 2009 für jeden Studierenden (außer den Medizinern) rund 6300 Euro aus. Kürzt man die Studiendauer um zwei Jahre, ergibt sich für die knauserigen Universitäten, bei bundesweit etwa zwei Millionen Studierenden, ein Einsparungspotential von 12,6 Milliarden Euro.

Verhindert man des Weiteren, dass der Master für alle Bachelor-Absolventen gleichermaßen frei zugänglich ist, öffnet sich ein nächstes Profitfenster, indem man den Master als ein gebührenpflichtiges Aufbaustudium deklariert. Hiervon profitieren dann nicht nur die Universitäten, sondern auch Banken und Versicherungen. So genannte "Bildungskredite" sind ein lukratives Geschäft und waren während der Studiengebühren in der Prä-Ypsilanti-Ära für hessische Studierende bereits Realität. Heute gibt es Gebühren für das Erststudium noch in Niedersachsen, NRW, Baden-Württemberg, Hamburg, Bayern und im Saarland. Abgesehen davon beträgt vielerorts schon der reguläre Semesterbeitrag eine Summe, bei der getrost von verkappten Studiengebühren gesprochen werden darf.


Spaltung in Elite und Masse

Zusammengefasst ergeben sich die folgenden Trends. An der breiten Masse wird verdient. Junge Menschen müssen für große Teile ihrer Ausbildung selbst aufkommen, sei es durch fehlende soziale Förderung wie BAföG, oder Gebühren für den Master bzw. das Erststudium.

Deutsche Unternehmen müssen dabei aber keine Einbußen hinnehmen, denn oft haben sie unmittelbare Einflussmöglichkeiten auf Lehrinhalte. Die Frankfurter Goethe-Universität ist heute z.B. eine Stiftungsuniversität, an deren Wirtschaftswissenschaftlicher Fakultät - dem "House of Finance" - Stiftungsprofessuren an die Chefs von Deutsche Bank und Fraport vergeben werden. Die Verkürzung der Ausbildungsdauer ist im Übrigen ein probates Mittel um Löhne zu drücken.

Bewerben sich Universitäten um Geld aus der "Exzellenzinitiative", stehen sie untereinander im Wettbewerb um die effizientesten Forschungsprojekte. Sie kürzen am Studienangebot, um einen vom Bund geförderten Forschungsauftrag ("Exzellenzcluster") zu ergattern. Die Folge ist, dass an "Orchideenfächern", wie etwa Soziologie, gekürzt wird, während man z. B. Luftfahrttechnik fürstlich ausstattet. Der Druck auf die Studierenden wird dadurch erhöht. Die Spaltung zwischen Elite und Masse zementiert.


Protest

Glücklicherweise sind diese Trends nicht irreversibel, denn die Betroffenen wehren sich. Die Initialzündung für die jetzige Bildungsstreikbewegung waren die Schülerdemonstrationen vom 12. November 2008. Völlig unterschätzt wurde der Aufruf "Für freie und bessere Bildung - Bildungsblockaden einreißen", dem allein in Berlin 5000 Schüler folgten und zeitweise die Humboldt-Universität besetzten. Der Protest zielte ab auf die zunehmende Privatisierung der Bildung und die Verkürzung des Abiturs auf 12 Jahre.

Für die hochschulpolitische Linke war anschließend klar, dass dieser noch isolierte Protest ausbaufähig sein könnte und so wurde ein breites Bündnis für den "Bildungsstreik 2009" gegründet. Schüler und Studierende planten für den Juni nun eine gemeinsame Aktionswoche.

Während der Bildungsstreikwoche im Juni 2009 beteiligten sich in ganz Deutschland mehr als Hunderttausend Schüler und Studierende an den Protesten. In vielen Städten wurden Hörsäle mehrere Wochen lang besetzt, alternative Vorlesungen wurden gehalten und verschiedene Arten des kreativen Protests ausprobiert. Der Junistreik wurde dezentral organisiert. In jeder Streikstadt wurden eigene Bündnisse gegründet. Jedoch, und das war das Entscheidende, gab es eine funktionierende bundesweite Koordination, die über ein bloßes Netzwerk hinausreichte.

Zwei weitere Punkte sind wichtig zu erwähnen, da sie die Proteste trugen. Zur selben Zeit wie die Schüler und Studierenden streikten nämlich die Erzieher der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) für höhere Löhne. Vielerorts gelang es die Streikenden zusammenzuführen. Auch an den Universitäten unterstützte die GEW die Proteste und wies auf die prekären Arbeitsverhältnisse von Doktoranden, Hilfswissenschaftlern und Privatdozenten hin.

Aus dem Bildungsstreik wurden antikapitalistische Forderungen entwickelt. Am Vorabend der größten Krise des Kapitalismus seit 1929 wollten die Streikenden nicht hinnehmen, dass Milliardenkredite für das Bankensystem eingeräumt werden und zeitgleich der Bildungssektor weiter kaputtgespart wird. Um diese Missstände aufzuzeigen, bediente man sich der "Aktion Banküberfall". Banken wurden besetzt und deren Mitarbeiter darauf hingewiesen, dass auch sie von der Umverteilung der Bundesregierung betroffen sein werden.

Am 17. November erreichte die Streikbewegung eine neue Stufe. Handelte es sich im Juni noch um eine erste Aktionswoche, wurden nun flächendeckend Hörsäle besetzt. Los ging es dieses Mal in Österreich. Dort startete die "Uni-brennt-Bewegung" die Besetzungen. Mehr als 85000 Studierende übernachteten, zum Teil bis über die Weihnachtsferien, in Hörsälen. Oftmals ließ die Unileitung die Besetzungen räumen. In Frankfurt ging die Polizei brutal gegen Studierende und Lehrbeauftragte vor, die alternative Vorlesungen zum wissenschaftlichen Mainstream anboten.


Was wurde erreicht?

Manche werden sagen, es wurde bisher kaum etwas erreicht. Weder hat die Regierung zugesichert den Universitäten ausreichende Finanzen zur Verfügung zu stellen, noch wurden die katastrophalen Lehr- und Lernbedingungen zum Wohl der meisten Studierenden verbessert. Also muss man zunächst nüchtern konstatieren, dass es noch weiterer Kraftanstrengungen bedürfen wird, bis sich das Blatt wendet.

Jedoch ist es den Schülern und Studierenden gelungen, sich Gehör zu verschaffen. Vor allem aber ist der Protest keine Eintagsfliege. Die langen und breit angelegten Proteste haben gezeigt, dass die Protestierenden auf Ressourcen zurückgreifen können, die es ihnen ermöglichen bundesweit koordinierte, lang andauernde Proteste aufrechtzuerhalten.

Konkrete Reformen konnten aber kaum erstritten werden. Nur an wenigen Universitäten wurden Anwesenheitslisten abgeschafft und auch wenn die Bildungsministerin ankündigte, das BAföG erhöhen zu wollen und die Bildungsministerkonferenz sich dafür aussprach, die Bologna-Reformen überarbeiten zu wollen, haben sich die Zustände kaum gebessert. Dass die Bildungszustände in Deutschland aber unerträglich und auch nicht länger hinnehmbar sind, das wurde in der Öffentlichkeit mit Verständnis wahrgenommen.

Dass die Proteste erfolgreich verliefen ist umso bemerkenswerter, da die hochschulpolitische Linke unter den heutigen Studienbedingungen geschwächt ist. Arbeitsdruck und Anwesenheitspflicht erlauben es vielen nicht, im Studium zu fehlen. Aus diesem Grund schien es vernünftig vereinzelte Aktionstage auszurufen und damit viele Studierende anzusprechen, anstatt ganze Semester in Kleingruppen auszusitzen.


Bildungsstreikagenda 2010

Bildungsministerin Schavan hat die Studierenden gebeten, sich mit an "Expertengesprächen" zu beteiligen. Für den 17. Mai hat sie Studierendenvertreter eingeladen, am "Bolognagipfel" teilzunehmen. Hier sollen die Bolognareformen "überprüft" und "weiterentwickelt" werden.

Darin liegt eine Gefahr. Am Verhandlungstisch werden die Studierenden nicht mitgestalten können. Das Bildungsstreikbündnis hat keine Sprecher, oder andere gewählte Vertreter. Studierendenorganisationen, wie die linke.SDS, Jusos oder Grüne, dürfen ein oder zwei Vertreter vorbeischicken. Kurzum, die Studierenden sind in der absoluten Minderheit und sollten sich hüten, die Vorschläge Schavans kritisch zu begleiten.

Das Bildungsstreikbündnis hat dafür einen geschickten Weg gewählt. Man wolle nur teilnehmen, wenn der Bologna-Gipfel öffentlich tagt. Im Fernsehen, bei Phoenix, soll die Konferenz übertragen werden. Dadurch würden die Forderungen der Studierenden weiter verbreitet. An den Universitäten könnte man wieder einen Protesttag ausrufen, die Konferenz im Audimax live übertragen und so erfolgreich ins Streiksemester starten.

Wie will man aber der Regierung nennenswerte Reformen abringen? Das Streikjahr 2009 hat Kraft gekostet, dabei aber, wie geschildert, kaum Veränderungen bewirkt. Im Grunde genommen gibt es zwei Möglichkeiten, die mit der Einschätzung der hochschulpolitischen Kräfte zu tun haben.

Man könnte entweder weiter machen wie im letzten Jahr. Dezentrale Aktionstage, einige wenige zentrale Demonstrationen, alternative Vorlesungen, kreativer Protest, aber das alles komprimiert in einem kurzen Zeitkorridor. Die Masse der Studierenden kann weiterhin zur Uni gehen und Kreditpunkte sammeln, sich aber trotzdem am Protest beteiligen, der zu Hauptlasten von der hochschulpolitischen Linken getragen wird. Oder es ist möglich die Proteste zu einem bundesweiten Besetzungsstreik auszuweiten. Wenn das gelingt, wird der Protest von der Masse der Studierenden getragen, die dann in der Lage sind mit Frau Schavan auf Augenhöhe zu verhandeln.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-10, 48. Jahrgang, S. 22-25
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2010