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MARXISTISCHE BLÄTTER/445: Fernsehen verblödet - aber wie genau?


Marxistische Blätter Heft 3-10

Fernsehen verblödet - aber wie genau?

Von Dietmar Dath


Die neuen Bildschirme machen meinen klügsten Freund, den Medienkritiker, misstrauisch: Dass sie so flach sind, sagt er, lege in lügenhafter Weise nahe, sie wären Fenster - optische Durchreichen in eine Welt, in der tatsächliche Sachverhalte stattfinden. Der vertraute alte Kasten erinnerte dagegen wenigstens durch seine äußere Gestalt noch an das Kasperletheater, von dem das Fernsehen mediengeschichtlich in Wahrheit herkommt. Polizist, Seppl, Räuber, Gretel, Großmutter, Krokodil - mehr braucht man ja wirklich nicht, um das zusammenzubasteln, was da gesendet wird. Im Kulturfernsehen, bei Arte, diskutiert der Polizist mit dem Räuber über Strafvollzugsethik, im öffentlich-rechtlichen schießt der Polizist den Räuber tot, im Privatfernsehen der Räuber den Polizisten, im Popmusikfernsehen, bei MTV, tanzen Räuber und Polizist mit Gretel oder Gretel allein lässt sich beim Tanzen von den anderen anhimmeln, im Volksmusikfernsehen, beim MDR, tanzt wiederum die Großmutter, während das Krokodil Busreisen verkauft. Wahrscheinlich gibt es für all das inzwischen demographisch gegliederte Diagramme, die man als Sendegestalter auswendig können muss.

Dass man vom Fernsehen (liberalere Skeptiker sagen einschränkend: von ZUVIEL Fernsehen) geistig verfettet, moralisch zuckerkrank wird und schließlich an schwerer Denkverstopfung verendet, ist ein Gemeinplatz. Die Anklage gewinnt ihre Glaubhaftigkeit meistens aus dem Hinweis auf die Inhalte, nicht auf die Zeigeverfahren und Darbietungstechniken der Programme: Welchen Nährwert, welche positive Stimulanz sollen denn auch Formate wie Daily Soap (auch als "Telenovela" geführt), Ermittler-Soap, Doku-Soap, Star-Magazin, Gewinnshow, Reality-TV, Gerichtsschmierentheater oder schließlich die völlig entfesselte Sozialhetze von Ring-frei-nieder-mit-dem-Nächsten-Talkshows am Nachmittag und der faschistoide Menschenselektions-Dreck gängiger Casting-Widerlichkeiten abwerfen?

Mein Freund, der Medienkritiker, pflegt den Befund gern ein wenig zu präzisieren: Moderne Massenmedien (vom Radio bis zum Sozialen Netzwerk im World Wide Web) sind weniger Vernichter von Intelligenz als vielmehr Verstärker und Beschleuniger beliebiger Signale. Sie erhöhen die Reichweite und beschleunigen die Zirkulation vorhandener Beklopptheiten wie auch (sehr seltener) Einsichten oder richtiger Ahnungen des Publikums. Das heißt, sie verhalten sich, weil wir ja im Kapitalismus leben, ganz so wie ihre pragmatischeren Geschwister, die Kommunikationsmittel, nicht der Unterhaltung und Belehrung, sondern der Koordination, wie sie im Wirtschaftsleben, in der Produktion und im Handel vorkommen. Während in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Rohstoffkrise auf dem Energiemarkt noch Monate benötigte, um in Branchen wie etwa dem Maschinenbau durchzuschlagen, wird ein Börsenhandel heute, unter Bedingungen der digitalen Vernetztheit, in 300 Millisekunden abgeschlossen, der Rest ist Lauffeuer, Lawine, Tsunami. Dies zur Beschleunigung, und das zur Verstärkung: Fällt den Leuten in der Öffentlichkeit einmal etwas Zutreffendes auf (zum Beispiel: der abgetane Präsident der USA, George W. Bush, ist ein ebenso beschränkter wie zynischer Hampelmann), dann deshalb, weil es den Kameras und Mikrofonen zuerst aufgefallen ist; übersehen und überhören die Leute aber etwas (zum Beispiel: jener Trottel spielt eine vergleichsweise kleine, vergleichsweise austauschbare Rolle in einem sehr üblen Spiel), dann deshalb, weil es auch die Kameras und Mikrofone nicht mitgekriegt haben. Blöde Leute, will ich sagen, werden von Maschinen wie dem Fernsehen noch blöder, Kluge empfangen, sortieren und verarbeiten mit ihrer Hilfe noch mehr Informationen als ohnehin schon.

Das war nicht von vornherein offensichtlich. So modisch und witzlos unter Linken heute die verbreitete Beschwerde über die nutzlosen bis schädlichen "etablierten Medien" (eine Formulierung, die offen lässt, ob sie technische, ökonomische, politische oder soziale Voraussetzungen der Etabliertheit für das Unheil verantwortlich macht), so selbstverständlich war andererseits zu einem früheren Zeitpunkt denjenigen, die sich die radikale Umwälzung der ungerechten gesellschaftlichen Wirklichkeit zum Ziel gesetzt hatten, dass neue Techniken Instrumente des Fortschritts waren, während die soziale Rückständigkeit sich notwendig mit der technischen verbünden müsse. Man glaubte auf der Linken, dass Dorfpfarrer, national bornierte Zeitungsschmierer oder zarentreue Provinzschullehrer nichts mehr zu fürchten hätten als Nachrichten aus der großen weiten Welt, die geeignet schienen, alle Spinnweben reaktionärer Genügsamkeit hinwegzupusten. Die bürgerliche Aufklärung entwickelte ihr Ideal der MEINUNGsfreiheit aus der techno-politischen Forderung der PRESSEfreiheit - letzteres Wort kommt von "Druckerpresse" und verlangt nichts Komplizierteres als die Abschaffung der Vorzensur, das heißt: Niemand, der etwas drucken lassen will, muss vorher irgendwen um Erlaubnis fragen. NICHT gemeint war damit freilich, dass bei hinreichender ökonomischer Macht der Inhaber dieser Druckerpressen diese ohne jede gesellschaftliche Sanktion jeden Dreck in die Welt lügen dürfen. Dem Recht auf die eigene Meinung stand in der aufgeklärten Medienauffassung der emanzipierten Bürger die unbedingte (auch juristische) Verantwortlichkeit für das, was man da loslässt, zur Seite. Daran lässt sich leicht ermessen, was die bürgerlichen Aufklärer von Springers Zeitungen, Burdas Zeitschriften oder der Glotze des Konzerns ProSiebenSat.1 Media AG gehalten hätten (wer das nicht glaubt und denkt, "bürgerlich" heiße in Medienfragen grundsätzlich schrankenloser Optimismus, beliebiger Pluralismus und asoziales Recht des Stärkeren, lese einmal nach, was mit Meinungsfreiheit bei den bedeutendsten Denkern und Praktikern der bürgerlichen Emanzipation, also Menschen wie Thomas Paine, Claude Hélvetius oder Maximilien Robespierre gemeint war). Noch Lenin, der die bürgerliche Selbstbefreiung in Russland über sich selbst hinaustrieb und in die sozialistische Revolution überführte, fügte dem für die Arbeit am Radiowesen bereits bewilligten sowjetischen Budget in der ökonomisch so schwierigen ersten revolutionären Konsolidierungszeit 1922 ganze 100.000 Goldrubel aus einem Sonderfonds des jungen sozialistischen Staates hinzu, weil er davon überzeugt war, dass nur ein gründlich modernisiertes Medienverbundssystem (wir würden heute sagen: ein hyperkonnektives Netzwerk) das Geschichts- und Gesellschaftsbewusstsein der "des Lesens und Schreibens unkundigen Massen der Bevölkerung" gegen die "absolute Untauglichkeit, ja sogar Schädlichkeit der meisten von uns zugelassenen bürgerlichen Professoren für Gesellschaftswissenschaften" schärfen und aufklären konnte. Er kannte den ZDF-Geschichtslehrer Guido Knopp noch nicht.


Stalin und die Propaganda

Dass Knopp ein Hanswurst ist, der mehr Un- und Flachsinn verbreitet als Heerscharen von Abendschuleinpeitschern und dämlichen Studienräten je vermöchten, ist nur die eine Seite der Sache, die sich seit Lenin geändert hat. Die andere ist, dass das Medium, mittels dessen Knopp sein krauses Zeug verbreitet, einige besonders infame, zur Übermittlung irgendeiner richtigen Einsicht ganz besonders "untaugliche, ja sogar schädliche" Instrumente bereitstellt. Das Fernsehen nämlich kann seiner Beschaffenheit nach kaum je Argumente und Schlussfolgerungsketten, Beweisgänge und stimmige Widerlegungen falscher Aussageverknüpfungen anbieten. Es verbreitet Offensichtlichkeiten, unmittelbar Erfahrbares, sprich: Suggestion (man kann zwar nicht nur Falsches, sondern auch Richtiges suggerieren, aber ein Argument kommt in beiden Fällen nicht vor).

Wer das, worum es mir hier geht, einmal direkt auf sich wirken lassen will, soll sich Knopps "Stalin"-Reihe anschauen, die vor einiger Zeit in Zusammenarbeit von Universum Film und ZDF produziert, danach von "GEO Epoche" als DVD verbreitet wurde. Was immer man insgesamt und im Einzelnen von Stalin halten mag: Historische Wertungen sollten sich aus der Kenntnis des Gewesenen statt aus Stimmungen herleiten. Nichts, aber wirklich gar nichts erfährt man jedoch in Verlauf der 135 Minuten jener Knopp-Produktion über die politischen Streitfragen der Zeit, von der sie zu handeln vorgibt, nichts über die inhaltlichen Wesensmerkmale der Rivalität zwischen Stalin und Trotzki, nichts darüber, wer eigentlich jene Kulaken waren, die Stalin ermorden ließ, nichts darüber, in welchem Zusammenhang die westeuropäische Entwicklung, das Schicksal etwa der unterlegenen deutschen Revolution oder die Entwicklung des Weltkommunismus seit Gründung der III. Internationale mit der Entstehung der spezifischen Katastrophengestalt dessen, was Knopp und seinesgleichen "Stalinismus" nennen, gestanden hat. Was stattdessen gezeigt wird, ist: Hitler hat sich mit kleinen Kindern fotografieren lassen. Stalin hat sich mit kleinen Kindern fotografieren lassen. Hitler und Stalin, soll das behaupten (wie gesagt: niemals begründen, nur zeigen, suggerieren) sind dasselbe gewesen. Was man damit anfangen soll (außer etwa darüber nachdenken, wieso. sich auch Angelina Jolie, der Papst und Barack Obama gelegentlich mit Kindern fotografieren lassen), weiß niemand. Man soll auch gar nichts damit anfangen. Ständig wird vielmehr bei Knopp irgendetwas gezeigt, was man gar nicht verstehen KANN, ohne bereits sehr viel über das zu wissen, was einem Knopp angeblich erschließen will. Da werden, zum Beispiel, Angehörige von Anhängern Trotzkis interviewt, die Grässliches über die Verfolgung ihrer Verwandten zu berichten wissen, aber nur, wer die Namen kennt, weiß, dass jene Leute Anhänger Trotzkis waren, wer Trotzki war, was das sollte. Durch diese Art des schnell vorüberflimmernden Bestehens auf der Wahrheit des Nichterklärten, also dadurch, dass Knopps weinende Großmütter in Großaufnahme keinen Deut beweiskräftiger sind als die lachenden Kleinen in den Propagandafilmchen der Stalinschen Sowjetunion, wird die Neugier auf Gründe, Implikationen, Folgerungen abgestellt, nämlich mit Bilderbrei und Soundchips zugepappt.

Ich habe den Fall behandelt, um darauf hinzuweisen, dass nicht nur die offensichtlichen Dumpfsendungen aus dem Musikantenstadl oder der Klatschzone der Prominentenbeobachtung, sondern auch und gerade die erzieherisch angelegten, im Gestus der Aufklärung präsentierten Fernsehsendungen nicht selten den Wunsch wecken, man könnte sich der ganzen Apparatur entziehen.

Ich wiederhole: Das eigentlich Teuflische daran ist der Umstand, dass ein Publikum, welches bereits die wichtigsten und orientierungsstiftenden Informationen über Stalin (oder die sozialen Verhältnisse in Haiti, das Urheberrecht, die Sexualität der Wühlmaus, sprich: was immer da gerade auf dem Bildschirm zu sehen ist) besäße, auch von einem bescheuerten Guido-Knopp-Film noch einiges lernen könnte (ich wusste beispielsweise, bevor ich den Knoppschen Quatsch zu Gesicht bekam, nichts Genaueres über den Redestil Stalins, über seine Vortragsweise, darüber, wie er aufzutreten pflegte und welche Rolle das im Personenkult gespielt hat; für das Anschauungsmaterial, das der Dreiteiler in dieser Hinsicht liefert, bin ich aufrichtig dankbar).

Die These meines klügsten Freundes findet sich also bestätigt: Die Glotze ist kein automatischer Verdummer, sondern ein Verstärker vorhandener Dummheiten und Klarheiten. Was das jedoch bedeutet, wenn die Blödheit, die Trägheit, die Angst und die Vereinzelung ohnehin und aus ganz außermedialen Gründen soziale Norm sind und das bewegliche Bewusstsein, die Wachheit, der Mut und die Solidarität lauter Ausnahmen, kann man nach den unerbittlichen Gesetzen der Prozentrechnung leider leicht ausknobeln.


Dietmar Dath, geboren 1970, Schriftsteller und Übersetzer. Er war Chefredakteur der Spex (1998-2000) und Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2001-2007). Veröffentlichungen: "Deutschland macht dicht", "Die Abschaffung der Arten", "Maschinenwinter" "Skye Boat Song", "Am blinden Ufer", "Schwester Mitternacht", "Cordula killt Dich! Oder: Wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenheini" "im erwachten Garten"


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-10, 48. Jahrgang, S. 95-98
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2010