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MARXISTISCHE BLÄTTER/451: "Dritte Arbeit" - Entrechtung, "Loyalty rent" und gesellschaftliche Reproduktion


Marxistische Blätter Heft 4-10

"Dritte Arbeit" - Entrechtung, "Loyalty rent" und gesellschaftliche Reproduktion

Von Wolfgang Richter & Irina Vellay


"Arbeit habe ich genug!" Mit diesen Worten freute sich Oberbürgermeister Sierau, dass die Bewerbung Dortmunds, Pilotstadt für das Programm "Bürgerarbeiter" zu werden, erfolgreich war. 350 Langzeitarbeitslose mit "multiplen Vermittlungshemmnissen" werden so die Arbeit durchführen, die der OB genug hat. Über die Bedingungen wird noch gestritten. Für den OB werden sie gut sein, sonst würde er sich nicht freuen. Für die Bürgerarbeiter/innen werden sie nicht gut sein, dazu später mehr. Das Wort "Bürgerarbeit" selbst ist ein Meisterstück neoliberal symbolischer Politikansage: Wer da dabei ist, ist ein Bürger und hat Arbeit - mehr Anerkennung findest du nicht!


1. "Dritte Arbeit" - eine Begriffsbestimmung

Mit dem Begriff "Dritte Arbeit" beziehen wir uns auf Studien des Projekts Klassenanalyse@BRD der Marx-Engels-Stiftung und da auf die Skizze: Lohnarbeit, geförderte Lohnarbeit und "Dritte Arbeit", 2007.(1)

Wir insistieren darauf, alle gegen Alimentation des puren Existenzminimums erzwungene Arbeit - wir identifizieren und bezeichnen sie als "Dritte Arbeit" - im Zusammenhang mit Arbeit, mit dem gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess zu behandeln und sie nicht in ein abseits der Klassengesellschaft existierendes Feld abzuschieben. Übrigens insistieren wir auch darauf, die offiziell als "arbeitslos" bezeichneten Erwerbslosen - als arbeiteten Erwerbslose nicht - ebenfalls im Zusammenhang mit Arbeit zu verhandeln und nicht in einen ganz unten existierenden Raum, einen sozusagen klassenlosen Kellerraum zu verschieben.

In der Not, die explodierenden Unterschiede in den Lagen der Menschen im aktuellen Kapitalismus beschreiben - und gar erklären - zu sollen, greifen bürgerliche Analysten gerne zu Modellen, in denen Schichtungen, Intelligenz- und Bildungsniveaus, Teilungen in "drinnen" und "draußen", historisierende Bilder, lokale Erzählungen o. a. m. große Rollen spielen. Zuweilen entsteht der Eindruck, ein so begründetes Modell könne die Veränderungen in den sozialen Beziehungen und daraus erwachsende gesellschaftliche Phänomene enträtseln, auch diejenigen, die im entfesselten Neoliberalismus die Menschen - unterschiedlich hart - bedrängen. Die agitatorisch im "Manifest der Kommunistischen Partei" benutzte Erkenntnis "die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen" begründet Inhalt und Methode marxistischer Analyse. Dem wurde in der Folge auch von bürgerlichen Analysten viel kluges Detail entnommen, im besten Fall entstanden auch kluge Adaptionen und Anwendungen. Der Grundwiderspruch aber, den Friedrich Engels und Karl Marx hier als konstituierend für die bürgerliche Gesellschaft nannten - die in ihr unaufhebbare Gegenüberstellung von "Bourgeoisie und Proletariat" - wurde und wird gern liegen gelassen. Der Marxismus benutzt nun gerade diesen Widerspruch als grundlegend und strukturierend bei der Entschlüsselung der sozialen Verhältnisse und gesellschaftlichen Beziehungen - und auch bei der Entwicklung von Vorschlägen, haben doch nach ihm "die Philosophen die Welt immer nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern".

In diesem Sinn strukturieren wir die bundesrepublikanische Gesellschaft als eine Klassengesellschaft und benutzen in der Benennung des Grundwiderspruchs populär denjenigen zwischen "Kapital und Arbeit". Da wir hier keine ökonomische Betrachtung im engeren Sinn anstellen, darf die Struktur der herrschenden Klasse - "des Kapitals" - offengelassen und einer kritischen Volkswirtschaftslehre, Analyse der Eigentumsverhältnisse, Konzern- und Reichenforscher/innen überlassen bleiben. Uns geht es um die Struktur der beherrschten Klasse - "der Arbeit" - die wir als eine Einheit sehen und jedenfalls systemisch nicht teilen in zugehörig und nicht zugehörig. Allerdings stellen wir gravierende Differenzen in der Stellung "der Klasse" in und zum gesellschaftlichen Arbeitsprozess fest, dessen konkrete Seite das gesellschaftliche Schaffen darstellt und den gesellschaftlichen Reichtum herstellt und dessen abstrakte Seite im Kapitalismus die Grundlage für das private Aneignen des Mehrwerts darstellt und die ökonomische Macht der herrschenden Klasse herstellt.

Deshalb schlagen wir vor, eine Gliederung der so überwältigend großen und scheinbar unübersichtlichen Klasse nach ihrer "Produktivität" im System der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion vorzunehmen.

Damit können unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, Existenzbedingungen und Handlungsmöglichkeiten in der Klasse sowohl konkret erkannt als auch in einer Weise verallgemeinert werden, dass sie unter den Beherrschten - am liebsten solidarisch - und gegenüber den Herrschenden - am liebsten streitbar - verhandelbar werden. Mit anderen Worten, die Vielfalt der Klasse als Struktur ihrer Einheit zu erkennen und wirksam im Klassenkampf zu machen, braucht eine Logik und Systematik, die das Gegenüber im Blick hat und behält. Uns auf uns verlassen müssen wir schon selber tun.

Wir definieren in diesem Kontext Formen der Lohnarbeit und erzwungener Arbeit - zunächst nicht andere Arbeitsformen, nicht gebrauchsförmiges Arbeiten in reziproken Netzen und ehrenamtliches Arbeiten. Deren Vorhandensein und Wirksamkeit stehen außer Frage, aber jenseits des unmittelbaren Ausbeutungsverhältnisses. Dazu später mehr.


1.1 Ein Vorschlag zur Gliederung

"Erste Arbeit" ist Lohnarbeit in mindestens ausreichender Prodund Fähigkeit zur Reproduktion - dies beinhaltet:

einen Kapitalismus in einem idealisiert "reinen" Modell,
ein unmittelbares Gegenüber von Kapital und Arbeit,
eine vertraglich "regulierte" Ausbeutung der Ware Arbeitskraft,
eine Auseinandersetzung um Teilhabe zwischen den "Parteien" auf vertraglicher Basis,
eine "freie" Entwicklung der Kräfte am unmittelbaren Gegenüber,
die Garantie der "freien Verfasstheit" des Regulierens durch den Staat.

Hier - im klassischen ersten Arbeitsmarkt - arbeitet der größte Teil der Klasse bei sich verringerndem Arbeitsvolumen und in sich verschlechternden Bedingungen.

"Zweite Arbeit" ist geförderte Lohnarbeit in ungenügender Produktivität und Fähigkeit zur Reproduktion - dies beinhaltet:

einen Kapitalismus in direkter "Stütze" des Staates, wodurch alle klassischen Charakteristika der "Ersten Arbeit" - wie sie eben aufgezählt wurden - zu Lasten der Seite der Arbeit beeinträchtigt werden. Hier - im früher schmalen, inzwischen breit angelegten Arbeitsmarkt - arbeitet ein den öffentlichen Stütz-Programmen folgend schwankender, jedoch insgesamt anwachsender Teil der Klasse.

"Dritte Arbeit" ist erzwungene Arbeit in niedriger Produktivität und einer Reproduktion zum puren Überleben im Existenzminimum - dies beinhaltet:

einen "abwesenden" Kapitalismus - Arbeiten gegen Alimentierung/Existenzsicherung,
eine Patronage des Staates (oder anderer Patrone in unterschiedlicher Trägerschaft),
eine "geschützte" Ausbeutung der Restarbeitskraft,
eine "Regulierung" durch (Sozial-)Gesetzgebung,
keine Vertragsfähigkeit und keine Anwendbarkeit des Arbeitsrechts,
die Garantie der Alimentierung nach Wohlverhalten und Haushaltslage.

Hier - im sozialpolitisch definierten "Markt" - arbeitet ein den diversen "Workfare"-Programmen - von "Arbeitsgelegenheiten" bis "Bürgerarbeit" - folgend schwankender, jedoch insgesamt anwachsender Teil der Klasse.

"Arbeitslosigkeit" ist einerseits in den Arbeitsfeldern 1 bis 3 nicht nachgefragte oder angeforderte Erwerbsfähigkeit und andererseits Erwerbsunfähigkeit aus vielen, in der Regel vom brutalisierten Produktionsverhältnis zu verantwortenden Gründen.

Hier arbeitet, soweit es physisch und/oder psychisch möglich ist - ein insgesamt kontinuierlich anwachsender Teil der Klasse ohne Ausbeutungs- und ohne direkte Marktbeziehung.


1.2 Ein Vorschlag zur Untergliederung

Eine Binnen-Gliederung der "Ersten Arbeit" findet erhebliche Differenzierungen und Spreizungen vor, die große Unterschiede im Maß der "Teilhabe" widerspiegeln. Dazu gehören einerseits (horizontal) unterschiedlich produktive Branchen und andererseits (vertikal) betriebliche "Stufenleitern" - berufliche Karrieren und Abstellgleise, Kerne und Ränder, Gender-Rollen, in alledem enthalten auch Charakteristika wie sicher und unsicher, "prekär" usw. In allen Belangen verschlechtern sich die Bedingungen für die Beschäftigten(2):

Von 2009 27,4 (2002: 27,6) Mill. insgesamt sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiteten in Teilzeit: 5,2 (2002: 4,3) Mill., in Befristung: 4,5(3) (2002: 3,9) Mill, in ausschließlich geringfügiger Beschäftigung 4,9 (2002:4,2) Mill., in Leiharbeit 610.000 (2002: 326.000) Tausend. Was die Löhne anbetrifft, so waren schon 2007 Niedriglöhne in großem Umfang hergestellt: 1,2 Mill. abhängig Beschäftigte hatten weniger als 5 EUR, 2,2 Mill. weniger als 6 EUR, 3,6 Mill. weniger als 7 EUR und 5,0 Mill. weniger als 8 EUR Stundenlohn (brutto) - dies entsprach einer Quote von 16,7 % aller Beschäftigungsverhältnisse (ohne Beschäftigte in Nebentätigkeiten - bei deren Einbeziehen stiege die Quote auf 21 %)(4).

Die offiziellen Daten des Vorzeige-Marktes für "Erste Arbeit" müssen unter dem Kriterium mindestens ausreichende Produktivität und Fähigkeit zur Reproduktion massiv nach unten korrigiert werden, da sie umstandslos die Daten des geförderten Marktes für "Zweite Arbeit" mit sich führen - dazu gehören alle Programme zu Eingliederung/ Reintegration und zunehmend Ergänzungsprogramme für Niedriglöhner/innen ("Aufstocker/innen"), stützende Programme für Jüngere oder Ältere und massive Betriebsstützungsprogramme wie "Kurzarbeit" usw.

2009 wurden durch Einkommensergänzungstransfers ("Aufstockungen") 1,3 Mill. Beschäftigte (davon 335.000 in Vollzeit arbeitende) auf "Hartz-IV-Niveau" hochgefördert, durch Finanzierung der Kurzarbeit der Erhalt von 1,1 Mill. Arbeitsplätzen (2002: 207.000) subventioniert und durch "Beschäftigung begleitende Maßnahmen" 226.000 (2002: 156 Tausend) Arbeitsplätze subventioniert. 2009 waren so ca. 10 % des ersten Arbeitsmarkts "zweite Arbeit".

Während diese öffentlichen Stützprogramme noch auf die Zahlen der privat ausgebeuteten Ware Arbeitskraft umgerechnet werden können, verschwindet solche Transparenz bei der allgegenwärtigen öffentlichen Stützung des privaten Kapitals über Steuer- und Abgabenminderungen, Gründungs-, Anwerbe- und Haltezuschüsse, Innovations- und Abwrackprämien, Bürgschaften und Regenschirme - "echter" Kapitalismus ist weithin Fiktion geworden.

Zusammengefasst: Quer zu dem guten alten Gefühl, als Klasse "dazu zu gehören", verfügen die Ausbeutungs- und Sicherungsstrategien des Kapitals überall im ersten Arbeitsmarkt über die Keile, mit denen Spaltungen unter den Beschäftigten herzustellen sind. Sie haben dabei alle Stufen und Bereiche im Blick - vom verführerischen Angebot zum Komanagement oben in den Kapitalfraktionen, in den Branchen wie in den Betrieben über gelegentliches Auf- und massenhaftes Abstufen in der Mitte - die übrigens häufig als Teil einer so genannten "Mittelschicht" (ohne erklärte Klassenzugehörigkeit) verkannt wird - bis zum offenen Dumping unten, wo die "Zweite Arbeit" eine dürftige Auffangposition bereithält oder wo gleich in ALG I und II durchgereicht wird. Bereits hier - in der "Ersten Arbeit", im Vorzeigemarkt des Kapitalismus - hat die Klasse alle Mühe, ihre "Einheit" herzustellen und zu wahren. Sie kann dies nur im Bewusstsein ihrer Lage als einer gemeinsamen.

Eine Binnen-Gliederung der "Zweiten Arbeit" findet den oben skizzierten diffus öffentliche Gelder zuschießenden Mix aus Förderprogrammen in unterschiedlichen Volumen für unterschiedliche Zielgruppen in gefährdeten Bereichen des ersten Arbeitsmarkts. Dabei geht es vor allem darum, den ersten Markt zu stabilisieren - das Abwenden angekündigter Abstürze und angedrohter Entlassungen spielt nur vordergründig eine symbolhaltige Rolle. Im Kern geht es um das Durchsetzen eines Niedriglohnsektors mit Sogwirkung auf das gesamte Tarifgefüge - da ist dem Kapital öffentliche Hilfe nicht nur materiell, sondern auch legitimatorisch von großem Nutzen.

Die Auswirkungen des Einsatzes "Zweiter Arbeit" im ersten Markt auf die hier arbeitenden Teile der Klasse sind deutlich - hat sie in der systemisch herausgehobenen "Ersten Arbeit" schon Mühe, sich als Einheit zu erkennen, so ist die aufzuwendende Mühe an deren Rand ungleich größer und es wird ungleich schwieriger, Einheit im Handeln herzustellen bzw. zu erhalten. Das zu bewerkstelligen darf aber keine Randfrage bleiben, sondern wird eine Kernfrage für die aktuellen und zukünftigen Klassenkämpfe werden.

Dies gilt auch und besonders für die beiden folgenden Abteilungen kapitalistisch organisierter Arbeits- und Nichtarbeitsbeziehungen, in denen sich die geschundensten Teile der Klasse wiederfinden und für die der Zugang zur Einheit des Handelns der Klasse versperrt erscheint, es aber nicht bleiben darf.

Eine Binnen-Gliederung der "Dritten Arbeit" findet zunächst, seit 2005, eine Phase experimentell eingesetzter Programme wie vor allem die "Arbeitsgelegenheiten" in unterschiedlicher Ausformung, die sogenannten "Ein-Euro-Jobs". Was zunächst mit Freiwilligkeit lockte, wurde später erzwungene Arbeit, gegen Sicherung eines Existenzminimums, das im Fall von Widerstand rigoros abgeschmolzen werden kann. Weitere Programme hießen Jobperspektive, Kommunalkombi, Einstieg für Jugendliche, Zusatzjobs für Ältere - der Phantasie für Sonderprogramme, so schien es, waren und sind keine Grenzen gesetzt -, "Pflegeassistenz" u. a. m. Aktuell erhält die Planung und das Einführen von "Dritter Arbeit" als Workfare-Prinzip neuen Schwung mit dem Propagieren allgemeiner "Bürgerarbeit" für Langzeitarbeitslose.

Das bisher "allgemeine" Programm für Workfare war das der Arbeitsgelegenheiten in zwei Varianten - Mehraufwand (der eine Euro) und Entgelt. Die Zahlen dafür sind seit 2005 in etwa gleichgeblieben - 2009: 322.000 (was einer Teilnahmequote an den arbeitslos Gemeldeten von 6,4 % entspricht), davon 279.000 in der billigen Mehraufwands-Variante und 43.000 in der teureren Entgelt-Variante. Das neu aufgelegte Workfare-Programm "Bürgerarbeit" für Langzeitarbeitslose mit "multiplen Hemmnissen" soll mit lediglich 34 Tausend Plätzen starten und scheint die Experimentierphase von 2005 in 2010 erneuern zu wollen. Sozial- und arbeitsmarktpolitische Fünf-Jahres-Pläne - sie haben allerdings andere Ziele, nämlich das Verstetigen und Erweitern erzwungener Arbeit.

Eine Binnen-Gliederung der "Arbeitslosigkeit" findet auf der einen Seite den Anteil der erwerbsfähigen und nicht in den Arbeits "markten" 1 bis 3 nachgefragten oder angeforderten Arbeitskraft und auf der anderen Seite den Anteil der erwerbsunfähigen Hilfebedürftigen und stellt Beziehungen und Wirkungen insbesondere zu "Dritter Arbeit" her. Zweierlei steht bevor: Nach Ablauf aller experimentellen Programme und ihrer "Evaluation" wird die Perspektive erwerbsfähiger Arbeitsloser die erzwungene Zuweisung zu "Dritter Arbeit" werden. Und die Kriterien für Erwerbsunfähigkeit werden eine noch rigidere Fassung als jetzt schon erhalten.

Seit Neuerem scheint der Politik die bisher offensiv herunter gerechnete Arbeitslosigkeit in der Form nicht mehr legitimierbar zu sein - sie hat einen neuen Begriff konstruiert - "Unterbeschäftigung" - und unverblümt auch gleich gesagt, wohin die Reise gehen muss - "Ungenutztes Arbeitskräftepotential". Erwerbsfähigkeit setzt sie dabei vorausschauend neu auf das Alter zwischen 15 und 74 (!) Jahre und erkennt so für 2009 eine Unterbeschäftigungsquote von 20,1 % auf der Basis von 8,6 Mill. Unterbeschäftigten aus 3,2 Mill. gemeldeten Erwerbslosen, 4,2 Mill. Erwerbstätigen, die mehr Arbeit suchen (als sie in Teil- oder Vollzeit haben), und 1,2 Mill. Stiller Reserve (Erwerbsfähige, die formal keine Arbeit suchen).(5)

Die skizzierten quantitativen und qualitativen Verschiebungen zwischen und in den "Arbeitsmärkten" signalisieren eine Dynamik, die auch die gesellschaftliche Gesamtarbeit in den Blick nimmt. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, alle gesellschaftlich wirksamen Arbeitsformen in die Klassenkämpfe einzubeziehen und einen entsprechend erweiterten Arbeitsbegriff zu gewinnen. Erst mit dieser Erweiterung lassen sich die gegenwärtigen Verschiebungen von Arbeit in nicht entlohnte Arbeitsformen und die breite Mobilisierung unbezahlter Arbeit für das "Gemeinwohl" verstehen. Es wird immer mehr "gearbeitet" und gleichzeitig sinkt der relative Anteil der Lohnarbeit an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Offenkundig konturiert sich das Feld der Klassenkämpfe um die Frage der gesellschaftlichen Kooperation neu. Die neoliberale Neugestaltung des hierarchisierten Arrangements der Arbeitsformen von Lohnarbeit und Ehrenamt, gebrauchsförmiger Arbeit in reziproken Netzwerken und dienstverpflichteter Arbeit als Workfare scheint aktuell im Zentrum einer Reorganisation der gesellschaftlichen Reproduktion zu stehen.

Wir konzentrieren uns daher im Folgenden auf die Wirkungen und die Ausgestaltung des Feldes "Dritter Arbeit" als dienstverpflichtete Arbeit (Workfare), um von hier aus die Veränderungen in der gesellschaftlichen Reproduktion zu deuten.


2. Entrechtung

Den Kern der (neuen) sozialen Frage des 21. Jahrhunderts stellt nach Robert Castel die Entkoppelung aus dem Kapitalverwertungszusammenhang dar.(6) Die hier "Überzähligen" fallen jedoch nicht nur heraus, sondern werden neu über die Integration von Armut als normalem Reproduktionsmodus in die Gesellschaft eingebunden. Die Unterschichtung der Gesellschaft mit einer Armutszone bedarf der staatlichen Regulation, soll daraus nicht eine prinzipielle Gefährdung des Gemeinwesens kapitalistischer Prägung erwachsen.

Die amerikanischen Hypergettos einer radikalen Abkoppelung bieten derzeit keinen geeigneten Ansatz, um das Problem der für die Warenproduktion Überzähligen in Europa zu bearbeiten. Die Armen leben zumeist außerhalb der so markierten Problemstadtteile(7) und die sozialstaatliche Verfasstheit der europäischen Kernländer lässt solche drastischen Ausschlüsse für Bürger/innen bislang nicht zu. Dennoch sind Entwicklungen struktureller Subordinierung und institutionalisierter direkter Abhängigkeit der Armutsbevölkerung auch hier zu beobachten.(8)

In der Perspektive der Mittelschichten müssen offenkundig die enger gewordenen gesellschaftlichen Verteilungsspielräume gegen vielfältige soziale Gefährdungen verteidigt werden. Die aktuell diagnostizierte "Statuspanik" der Mittelschichten einerseits und die immer unverblümtere Stigmatisierung der Hartz-IV-Bevölkerung andererseits stehen für das politisch forcierte Auseinanderdriften der Gesellschaft als Klassenspaltung (Agenda 2010, jüngstes Sparpaket vom Juni 2010). Die Entrechtung der aus dem Kapitalverwertungszusammenhang Herausgefallenen liefert hier das Instrumentarium zur regulierenden Unterscheidung von integrierten Lohnarbeiter/innen und ausgeschlossenen Armen. Es geht dabei nicht so sehr um etwas mehr oder weniger Rechte, als vielmehr um einen grundsätzlich anderen Status. Die Angewiesenheit auf Transferleistungen aus dem Hartz-IV-Regime markiert den Übergang in ein neues Arrangement direkter Abhängigkeit zur Kontrolle von Arbeit. Denn die Arbeit der Armen ist systemisch keineswegs überflüssig, sondern wird unter direktem Zwang zu Bedingungen deutlich unterhalb der Mindestreproduktionserfordernisse der Lohnarbeiter/ innen abgepresst. Dies rechtfertigt die Einschränkung der bürgerlichen Rechte. Sie reichen von der Residenzpflicht (innerhalb einer Kommune) über Verhaltensanforderungen und umfängliche Rechenschaftspflichten gegen über dem Grundsicherungsträger bis zum Verlust der Vertragsfreiheit, des Rechts auf freie Berufswahl und zum Arbeitszwang als dienstverpflichteter Arbeit.

Den Kern der Entrechtung stellt die Preisgabe der Vertragsfreiheit und damit des Gleichheitsversprechens dar. Es geht längst nicht mehr nur um den Abbau des (fordistischen) Sozialstaats, sondern um die dauerhafte Konfiguration und Institutionalisierung einer Armutszone. Die Drohung des sozialen Abstiegs in die Armutszone und in bevormundende öffentliche "Fürsorge" diszipliniert die

Lohnarbeiter/innen genauso wie ihre relative Privilegierung gegenüber den armen Transferleistungsempfänger/innen. Die Möglichkeit, auf andere herabzusehen, ist hierin ein wichtiges Instrument, sich der Loyalität der Lohnarbeiter/innen zu versichern. Das Hartz-IV-Regime ermöglichte aber auch die Absenkung des durchschnittlichen Reproduktionsniveaus großer Teile der erwerbslosen Reservearmee auf die Überlebenssicherung der Sozialhilfe. Diese drastische Reduzierung war die Voraussetzung für breite Lohnsenkungen bei den Lohnarbeiter/innen und eröffnete deutlich mehr Raum für den Niedriglohnsektor.


3. Loyalty rent

Das Absinken größerer Teile der beschäftigten Arbeiter/innenklasse unter das durchschnittliche Reproduktionsniveau der Klasse selbst und zunehmender ökonomischer Druck auf die Mittelschichten erfordern eine Neukonzeptualisierung der "Loyalty rent" zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse.

Die erste Unterscheidung unter diesen allgemein verschlechterten Bedingungen zielt auf die Einführung einer Arbeitspflicht für Transferleistungsempfänger/innen im Hartz-IV-Regime. Der Arbeitsvertrag bleibt den nunmehr hierdurch privilegierten Lohnarbeiter/innen vorbehalten. Diese Verschlechterungen lassen sich allerdings nur dann dauerhaft durchsetzen, wenn es den Transferleistungsempfänger/innen noch schlechter geht als den unter Überausbeutung leidenden Lohnarbeiter/innen. Das physische Existenzminimum kann kaum für längere Zeit unterschritten werden, aber soziale Stigmatisierungen helfen den Anerkennungsabstand sicherzustellen - selbst dann, wenn kein "Lohnabstand" gegeben ist.

In dem Zusammenhang werden immer wieder "Refeudalisierungstendenzen" diskutiert.(9) Das Wiedererstarken persönlicher Abhängigkeiten und eine entstehende "Dienstbot/innenschicht" speisen diesen Diskurs. Es geht dabei allerdings weniger um ein direktes Anknüpfen an eine feudale Vorgeschichte als um die Neugestaltung der "Loyalty rent" der Mittelschichten. Die enger werdenden Verteilungsspielräume erlauben nicht mehr ohne weiteres ein Ausweiten der Konsumchancen durch Lohnzuwächse oder Steuersenkungen - der klassische Weg sozialer Befriedung zu Zeiten des Fordismus. Die Lösung liegt nun offenbar darin, die Mittelschichten direkter an der Ausbeutung armer Menschen zu beteiligen. Das "Dienstmädchenprivileg" als Ausweis der Zugehörigkeit zur "guten, bürgerlichen Gesellschaft" kann bei Lehrer/innen, Rechtsanwält/innen, aber auch gut verdienenden Facharbeiter/innen, kleinen Geschäftsleuten und Handwerksmeister/innen dazu beitragen, sowohl die Krise der Reproduktionsarbeit(10) anzugehen als auch die neuen sozialen "Standesunterschiede" sichtbar zu dokumentieren. Für den breiter werdenden Rand der geringer Entlohnten kommen vor allem billigste Dienstleistungen in Frage, die im Rahmen von Workfareprogrammen angeboten werden (z. B. Kinderbetreuung, vorpflegerische Hilfen u. ä. m.). Mittelschichten und Arme, insbesondere als Transferleistungsempfänger/innen, können so unmittelbar und persönlich in einem Patronageverhältnis in Beziehung gesetzt werden.

Die Disziplinierung nach unten ist immer schon eine Aufgabe der Mittelschichten in modernen kapitalistisch verfassten Gesellschaften. Zu Zeiten des Fordismus wurde ein ganzer Apparat an Sozialer Arbeit im öffentlichen Dienst oder auch in der freien Wohlfahrtspflege aufgebaut, um Desintegrationstendenzen bei ärmeren Menschen entgegen zu wirken und sie im Arbeitsmarkt zu halten. Statt Integration durch sozialen Aufstieg zu Lohnarbeiter/innen mit einem existenzsichernden Einkommen geht es heute jedoch um sozialen Einschluss durch Integration von Armut als normaler Lebenslage.


4. Gesellschaftliche Reproduktion

Die Konturen eines zukünftig weitgehend europäisch eingebundenen Sozialmodells unterscheiden sich deutlich von dem, was in Deutschland bislang als "politisch korrekt" galt. Statt solche Ziele wie den Abbau von sozialer Ungleichheit und Benachteiligung programmatisch zu beanspruchen, wird soziale Ungleichheit leistungsideologisch verbrämt zur Gestaltungsanleitung und Legitimation gesellschaftlicher Verhältnisse. Es liegt in der Natur der Sache: jede/r verdient das, was sie oder er verdient.

Im Zuge der vielfältigen Umstrukturierungsprozesse der Sozialsysteme in Europa verschwindet zunächst aus dem Blick, dass immense Umverteilungen "von unten nach oben" und damit Verschlechterungen der Lebenslage der arbeitenden Klasse insgesamt im Gange sind. Schon 1998 forderte die EU-Kommission eine Senkung der Löhne für ungelernte Arbeit von 20 - 30 %.(11) Über solche Lohnsenkungen hinaus wird der gesellschaftliche Konsumtionsfonds zur sozialen Reproduktion der Lohnarbeiter/innen durch Überwälzen sozialer Kosten wie Verlängern der Lebensarbeitszeit, zunehmende Privatisierung der großen Lebensrisiken und der Bildungskosten etc. erheblich gekürzt. Die globale Finanz- und Weltwirtschaftskrise dramatisiert diese Verschiebungen.

Es nehmen daher Tendenzen zu, wachsende Teile der Arbeiter/innenklasse unter das notwendige Reproduktionsniveau der (nationalen) Klasse selbst zu drücken. Die Verarmungsdynamik treibt an deren unterem Rand bei den arbeitenden Armen und den Erwerbslosen vermehrt Pauperisierungstendenzen hervor. Gleichzeitig werden durch eine forcierte Intensivierung der Ausbeutung die Reproduktionserfordernisse der Lohnabhängigen stetig ausgeweitet. Diese Raubzüge des oberen gesellschaftlichen Drittels müssen gegen die Widerstände von unten durchgesetzt werden. Die hier angelegten Widerstandspotenziale werden von den herrschenden "Eliten" durchaus gesehen und mit dem altbewährten "Teile und herrsche" kleingearbeitet.

Permanente Umverteilungen "nach oben" und das "Überzähligenproblem" vergrößern ständig die Armutszone in der Gesellschaft. Hieraus erwachsen scharfe soziale Konflikte und erhebliche staatliche Regulierungsprobleme. Die angedeuteten sozialen Verwerfungen erfordern eine neue gesellschaftliche Rahmung von Armut als normaler Lebenslage. Eine solche dauerhafte Etablierung eines Armutssektors im Umfang von konjunkturabhängig etwa 20 - 30 % der Bevölkerung geht daher über bloße Reformen der sozialen Sicherungssysteme weit hinaus(12):

Die neue Armutspolitik orientiert sich nicht länger an der Integration möglichst vieler Menschen zu durchschnittlichen Reproduktionsbedingungen der Arbeiter/innenklasse in den Kapitalverwertungsprozess.

Stattdessen wird anerkannt, dass nicht mehr alle "gebraucht" werden. Diese Einsicht hat weitreichende Folgen. Die "Überzähligen" müssen hierzulande alimentiert werden. Da nur geringe Aussichten bestehen, ihre Arbeitskraft weiter zu vernutzen, weil ihr Heer wegen der ständig steigenden Produktivitätsschwelle immer größer wird, sind "Investitionen" des neoliberalen, sich als "investiv" verstehenden Sozialstaats mit dem Ziel, hochproduktive Arbeitskräfte zu gewinnen, nur wenig sinnvoll. Es geht daher nurmehr darum, die volkswirtschaftlichen Kosten bei denen, die das Zugangskriterium hinreichender Produktivität verfehlen, gering zu halten.

Die ausgemusterten Menschen sind heute anders als zu früheren Zeiten zu weit größeren Teilen arbeitsfähig. Sie können oder wollen jedoch nicht mehr mit den ständig steigenden Leistungsanforderungen mithalten. Dies öffnet Raum für weiterreichende Überlegungen, die vorhandene Restproduktivität der Menschen mit dienstverpflichteter Arbeit (Workfare) abzuschöpfen, um den Unterhalt aus Lohnarbeit ausgeschlossener Menschen sicherzustellen. Damit trägt man der Erfahrung Rechnung, dass sich das physische Existenzminimum auch mit dem bei dienstverpflichteter Arbeit üblichen Niveau von einem Drittel der in der Lohnarbeit verlangten Produktivität erwirtschaften lässt.(13)

Zur Normalisierung von Armut als häufiger Lebenslage gehört die Stilisierung der "würdigen Armen". Es sind damit nun nicht länger die Arbeitsunfähigen gemeint, sondern die "arbeitenden Armen". Mit der Neukonzeptualisierung als "produktive Arme" gelingt strategisch die Erosion des Lohnniveaus im Niedriglohnsektor zunehmend auch unter die Armutsschwelle (2008: Singlehaushalt 925 Euro, Paarhaushalt mit zwei Kindern 1943 Euro)(14). Die Distanz zum durchschnittlichen Reproduktionsniveau der Arbeiter/innenklasse wird immer größer. Andererseits bedeutet die Anerkennung als "produktiv" zugleich den Entzug gesellschaftlicher Sozialtransfers, weil "man auch mit weniger oder ohne zurecht kommt" - d. h. überleben kann. Die Anerkennung als "würdige Arme" und damit in akzeptabler, "respektierter" sozialer Position dynamisiert die gesellschaftlichen Entkoppelungstendenzen.

Die Etablierung einer Armutszone erfordert eine geeignete Reproduktionsbasis, um Armut in der Gegenwart "lebbar" zu gestalten.(15)

Seit den 80er Jahren entstehen zunehmend Ansätze, Menschen mit entwerteten Resten bis hin zu Aussortiertem und Abfällen für das Lebensnotwendige zu versorgen. Die mittlerweile gesetzlich eingeforderte Verpflichtung zum Recycling sorgte in den 90er Jahren für ein immer größeres Angebot an entwerteten, meist gebrauchten Gegenständen und Material. Gleichzeitig entstand durch fortschreitende Verarmung ein immer größerer Abnehmer/innenkreis.

Die Ausweitung der Verfügbarkeit unbezahlter Arbeit mit dem Hartz-IV-Regime sorgte seit 2005 für einen rasanten Ausbau von "sozialgewerblichen Betrieben", die mit "entwerteten Menschen" und "entwerteten Rohstoffen" die Sekundärökonomie der Armut organisieren. Als Indikator kann hier die Tafel gelten, die nach eigenen Angaben rund eine Million Menschen in Deutschland mit Lebensmitteln versorgt. Mittlerweile gibt es kaum noch eine Stadt, die nicht über ein Netz aus Sozialkaufhäusern, Suppenküchen, Tafeln, Möbel- und Gebrauchtwarenlägern u. ä. m. verfügt.

Ein solcher "Recyclingsektor" erfüllt wichtige gesamtgesellschaftliche Funktionen. Die kapitalistische Warenproduktion wird so erheblich von Entsorgungskosten nicht mehr verwertbarer Reste und Abfälle entlastet und die gesellschaftliche Umweltbilanz wird durch den verlängerten Produkt- bzw. Lebenszyklus verbessert. Andererseits bietet sich hier eine gesellschaftliche Lösung für das "Überzähligenproblem". Die noch arbeitsfähigen "Minderleister" können in einer Sonderwirtschaftszone als Drittem bzw. Sozialem Arbeitsmarkt zu dem für sie leistbaren Produktivitätsniveau und den hieran angepassten niedrigen Reproduktionsbedingungen effizient, d. h. zu den geringst möglichen gesellschaftlichen Kosten eingesetzt werden.


5. Ein vorläufiges Fazit

Die kapitalistische Produktionsweise und ihre Reproduktion kommen immer weniger ohne Subventionierung aus. Lohnarbeit wird rapide entwertet und ist immer häufiger nicht existenzsichernd, die Unterbeschäftigung nimmt zu und Transferleistungen sollen nur noch gegen erzwungene Arbeit "gewährt" werden. Die (doppelte) Krise von Lohn- und Reproduktionsarbeit mündet in die Prekarisierung aller Lebensverhältnisse der Arbeiter/ innenklasse.

Umschichtungen zwischen den Arbeitsformen (Lohnarbeit/Ehrenamt/gebrauchsförmige Arbeit im sozialen Netzwerk/Workfare) verschärfen die soziale Stratifizierung. Mit wachsendem Abstand zur Kernsphäre der Lohnarbeit nimmt auch die Entrechtung zu.

Die Ausgrenzung aus existenzsichernder Lohnarbeit hat weitreichende Folgen: sie bedeutet zuallererst den Verlust des Soziallohns bzw. schränkt den Zugang zum System der sozialen Sicherung drastisch ein.

Das Abschnüren der Kooperation der "freien" Lohnarbeiter/innen im Lohnarbeitssystem "von oben" und der Ersatz eigener Interessenvertretung durch paternalistische Soziale Arbeit im Workfaresystem beschneidet die systemimmanente Handlungsfähigkeit der Arbeitenden in sozialen Kämpfen.

Der Kernbereich der Lohnarbeiter/innen in regulierten existenzsichernden Arbeitsverhältnissen wird zunehmend in die Enteignungsfeldzüge gegen schwächere Gruppen einbezogen.

Auf diese Weise werden sie Teil der "Beutegemeinschaft"(16). (Hier erweist sich die Rede von den "abstürzenden Mittelschichten" als diskursive Heuchelei. Auch die Mittelschichten erhalten relativ weniger aus den gesellschaftlichen Umverteilungsprozessen, aber sie halten sich dafür nicht nur an den Ärmeren schadlos, sondern positionieren sich gleichzeitig als Ordnungs- und Erziehungsfaktor gegenüber den "gefährlichen Klassen".)

Diese Marginalisierungs- und Ausschlusstendenzen eines immer größeren Teils prekär Beschäftigter mit der Folge sinkenden Reproduktionsniveaus für diese Gruppen werden in der wissenschaftlichen Debatte gern einem "gesellschaftlichen Außen" - den von Lohnarbeit Ausgeschlossenen - gegenübergestellt.(17)

Eine solche theoretische Konstruktion verdoppelt jedoch den Ausschluss aus gesellschaftlichen Kernbereichen wie Lohnarbeit und Konsumchancen. Der Blick verengt sich auf die Lohnarbeit und die von "oben" strategisch eingesetzte Lohndrückerei im Rahmen des aktuellen Arrangements der Arbeitsformen. Dabei wird übersehen, dass Formen unbezahlter Arbeit, eingelassen in eine "Mitmachkultur", zunehmend gesellschaftlich organisiert werden und den Alltag der Menschen verändern. Die neoliberale Anrufung, sich "arbeitend" in die Gesellschaft als Gemeinwesen einzubringen, erweist sich als ein Appell für neue zumeist unentgeltliche Formen gesellschaftlicher Kooperation über Lohnarbeit hinaus.

Die Ökonomisierungstendenzen in allen Lebensbereichen vervielfältigen andererseits (unmittelbare) Klassenauseinandersetzungen. Zudem schaffen Verschiebungen im Arrangement der Arbeitsformen neue Arenen und Konfigurationen der Auseinandersetzung. Solche Restrukturierungen sind nie nur einfache Verschlechterungen, sondern es entstehen immer auch Handlungsräume, die mit eigenen Strukturen und Solidarität "von unten" besetzt werden können. Diese Überschüsse sind selbst umkämpft und es gilt, die angetragene Instrumentalisierung (z. B. für eine Almosen- und Armenindustrie) zurückzuweisen.

Die skizzierte Ausgangslage einer vielfach in verschiedene gesellschaftliche Arbeitsformen und naturalisierte Zuschreibungen gespaltenen arbeitenden Klasse legt es nahe, eine Neufassung des Gleichheitsverständnisses auf der Grundlage eines alle gesellschaftlichen Arbeitsformen einschließenden Arbeitsbegriffs einzufordern.

Ein solcher Anspruch trifft auf einen vermachteten Raum. Auch die herrschenden Kapitalfraktionen und Eliten suchen Wege für eine stabilisierende Transformation der Herrschaftsverhältnisse. Das neoliberale "Aktivierungsparadigma" erlaubt die Kontrolle von Arbeit für alle gesellschaftlich wirksamen Arbeitsformen neu zu gestalten und die Ausbeutung von Arbeit zu optimieren. Die neue Anordnung zeitigt insbesondere zwei Folgen: Es lässt sich erstens eine zunehmende Erschöpfung des Subjekts(18) beobachten. Die Ausbeutung wird ausgeweitet und enorm intensiviert - es wird nicht alles zur Ware, aber alles zu "Arbeit". Diese Tendenzen begrenzen den Raum für politischen Überschuss "von unten" und steigern individuelle Erschöpfungserfahrungen. Die zu beobachtenden Entgrenzungen holen zweitens alte feministische Forderungen zur Neufassung des Arbeitsbegriffs, aber auch die sozialer Bewegungen nach Selbstorganisation empirisch ein, ohne jedoch deren emanzipatorischen Gehalt einzulösen.

Die in der Folge überall aufbrechenden Widersprüche vervielfältigen die sozialen Kämpfe und verweisen auf die Gesellschaft insgesamt verändernde Transformationsprozesse. Alle scheinen irgendwie Teil sozialer Kämpfe zu sein, die jedoch kein Zentrum mehr erkennen lassen. Die Unübersichtlichkeit erfordert es umso mehr, sich aufeinander und andere den eigenen Interessen Nahestehende zu beziehen, um sich gegenseitig zu stützen. Diese Anerkennung der eigenen gesellschaftlichen Existenz in einer Perspektive "von unten" stellt eine wichtige Gegenbewegung zur kapitalistisch angetriebenen Ffyperindividualisierung dar. Andererseits zersplittert die Vervielfältigung von "Arbeit" auf der Erscheinungsebene den Grundwiderspruch kapitalistischer Gesellschaften. Die klassische Lesart scheint nicht mehr hinreichend. Ausgehend von diesen Überlegungen müsste eine alle Arbeitsformen einschließende Perspektive zunächst die Restrukturierungen im gesellschaftlichen Arrangement der Arbeitsformen und die verschiedenen Reproduktionsmodi insgesamt betrachten. Im Rahmen einer zeitgemäßen Klassenanalyse wären die Wirkungen für die (lohn-)arbeitende Klasse und das Öffnen wie Begrenzen ihrer Handlungsräume zu untersuchen, um, ohne vorschnelle Vereinheitlichungen einzelner Gruppen und Bewegungen, die fortbestehende Konfrontation von Kapital und Arbeit neu herauszuarbeiten.


Wolfgang Richter, Prof., Dortmund, Marx-Engels-Stiftung Wuppertal

Irina Vellay, Dipl.Ing., Dortmund, Stadtforscherin


Anmerkungen:

(1) Vgl. Richter, Wolfgang (2007) in: Projekt Klassenanalyse@BRD: Mehr Profite - mehr Armut. Prekarisierung & Klassenwiderspruch, Beiträge zur Klassenanalyse Band 4. Essen

(2) Alle Daten, sofern nicht anders angegeben, aus BA (Hrsg.): Arbeitsmarkt 2009 (und frühere Jahrgänge). Nürnberg

(3) 2008, Eurostat und eigene Schätzung, Daten für 2009 nicht verfügbar

(4) Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.): WISO Diskurs Dezember 2009, Mindestlöhne in Deutschland

(5) Statistisches Bundesamt (Hrsg.): DESTATIS, STAT magazin 29.06.2010, Arbeitsmarkt

(6) Vgl. Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der Sozialen Frage - Eine Chronik der Lohnarbeit. 2. Auflage, Konstanz 2008

(7) Vgl. Kessl, Fabian, Christian Reutlinger (2007): Sozialraum - Eine Einführung. Wiesbaden

(8) Vgl. hierzu Lok Wacquant (2002): From Slavery to Mass Incarceration - Rethinking the 'race question' in the US. In: New Left Review, No. 13

(9) So spricht Klaus Ronneberger bereits Ende der 90er Jahre von einem neofeudalen Stadtmodell als Typus "ständischer Bürgerstadt", vgl. Klaus Ronneberger (1998): Auf dem Weg zur neofeudalen Stadt (Vortrag rru)
http:// www.rote-ruhr-uni.org/texte/ronneberger_neofeudale_stadt.plain.html
das Thema wird auch in der feministischen Debatte aufgegriffen, vgl. Gabriele Michalitsch (2007): Re-Privatisierte Unterwerfung - Workfare als Geschlechterpolitik. In: Reihe Workfare Dienstpflicht Hausarbeit, Heft 2, Dortmund, im Anschluss an Brigitte Young (1999/2000): Die Herrin und die Magd. Globalisierung und die Re-Konstruktion von 'class, gender and race'. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik 38, S. 47 - 60.

(10) Vgl. Bock Stephanie, Susanne Heeg, Marianne Rodenstein (1997): Reproduktionsarbeitskrise und Stadtstruktur. Zur Entwicklung von Agglomerationsräumen aus feministischer Sicht. In: Bauhardt, Christine, Ruth Becker (Hrsg) Durch die Wand! Feministische Konzepte zur Raumentwicklung. Pfaffenweiler; Winkler, Gabriele (2009): Fragile Familienkonstruktionen in der gesellschaftlichen Mitte. Zum Wandel der Reproduktionsarbeit und den politischen Konsequenzen. In: Widersprüche, Heft 111, März 2009, S. 49-62

(11) Vgl. Anne Gray (2010): Die Lissabon-Strategie und Workfare - Perspektiven einer kohärenten Europäischen Sozialpolitik. In: Reihe Workfare Dienstpflicht Hausarbeit, Heft 3, Dortmund

(12) Aktuelle Armutsgefährdungsquote deutscher Großstädte für das Jahr 2008: z. B. Dortmund 21,3 % der Einwohner/innen, Duisburg 19,2 %,Düsseldorf 13,8 %,Essen 16,3 %, Hannover 22,2 % und Leipzig 27 %,
vgl. http:// www.amtliche-sozialberichterstattung.de/Tabellen/tabelle_armut_stadt_bund.html

(13) Vgl. Vellay, Irina (2007): Der Workfare State - Hausarbeit im öffentlichen Raum. Reihe Workfare Dienstpflicht Hausarbeit. Heft 1, Dortmund

(14) Vgl. DIW (2010): Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 24

(15) Vgl. Vellay, Irina (2010): Die Parallelgesellschaft der Armut. Dortmund

(16) Frank Bajohr hat den Begriff "Beutegemeinschaft" als strategischen Ansatz "von oben" beschrieben, um breite Bevölkerungsgruppen in räuberische Eroberungspolitiken einzubinden, vgl. "Parvenüs und Profiteure", Frankfurt am Main 2001

(17) Vgl. Dörre, Klaus (2010): Landnahme und soziale Klassen - Zur Relevanz sekundärer Ausbeutung. In: Hans Günther Thien (Hrsg.): Klassen im Postfordismus. Münster

(18) Vgl. hierzu die kritische Diskussion zur permanenten Mobilisierung des gesamten Arbeitsvermögens der postfordistischen Arbeitssubjekte bei Klaus Ronneberger: "Die Kunst sich an nichts zu gewöhnen", In: Springerin, Heft 3,2006


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-10, 48. Jahrgang, S. 54-64
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2010