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MARXISTISCHE BLÄTTER/458: Nicaragua - Daniel Ortegas zweiter Versuch


Marxistische Blätter Heft 4-10

Nicaragua: Daniel Ortegas zweiter Versuch

Von Christian Klemm


Der Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela wird als Anfangspunkt charakterisiert, der Ende 1998 eine mögliche Wende Lateinamerikas nach links einleitete. Der Wahl des Venezolaners Chávez folgte der Regierungswechsel in Bolivien Ende 2005, wo mit Evo Morales erstmals ein Indigener zum Präsidenten eines südamerikanischen Staates gewählt wurde. Die Regierung von Rafael Correa, der seit Januar 2007 das Amt des Staatspräsidenten in Ecuador ausübt, ist ebenso in einen weitgehend fortschrittlichen Politiktendenz Lateinamerikas einzuordnen.

Inzwischen wurde auch die Vorherrschaft der rechtskonservativen Alianza Republicana Nacionalista (ARENA) in El Salvador durchbrochen. Seit Juni 2009 regiert der Journalist Mauricio Funes von der ehemaligen Guerillaorganisation Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) das Land.

Zwar ist es zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht, von einer Emanzipation der lateinamerikanischen Völker von Kolonialismus und Abhängigkeit zu sprechen. Zu lange währte die strukturelle Unterdrückung in diesem Teil der Erde. Eine progressive Politik in Lateinamerika, dem Hinterhof der Vereinigten Staaten von Amerika, ist zweifelsohne erkennbar.

Nicaragua wird oftmals nicht in einen möglichen Wandel des Subkontinents mit einbezogen. Seit Januar 2007 amtiert Daniel Ortega Saavedra, Vorsitzender der Frente Sandinista de la Liberacion Nacional (FSLN), als Präsident des größten mittelamerikanischen Landes.(1) Seine dreieinhalbjährige Regierungszeit in dem zweitärmsten Land Lateinamerikas wird in Deutschland kaum beachtet. Vielmehr scheint Ortega diskreditiert zu sein. Vorurteile, Halbwahrheiten und die übliche reaktionäre Propaganda beherrschen den Diskurs zu Nicaragua.

Das Volk Nicaraguas wählte am 5. November 2006 Ortega erneut zum Staatspräsidenten. Die FSLN erreichte 38,07 Prozent der abgegebenen Stimmen. Ihr politischer Gegner, die Liberal-Konstitutionalistische Partei (Partido Liberal Constitucionalista - PLC) und deren Abspaltung, die Nicaraguanische Liberale Allianz (Alianza Liberal Nicaragüense - ALN), erhielten 29 und 26,21 Prozent.

Der vergangene Wahlkampf Ortegas war ein Novum in der Geschichte der FSLN. Sie präsentierte sich darin als Partei, die eine ernsthafte Versöhnung mit ihren einstmaligen Gegnern anstrebt und die politische Konfrontation mit ihnen weitgehend aufgibt. Die Sandinisten sangen nicht mehr ihre Parteihymne "Himno de la unidad" (Hymne der Einheit), in der die USA als ein "Feind der Menschheit" bezeichnet werden, sondern verwendeten John Lennons "Give Peace a Chance" als friedenspolitisches Signal an die parteipolitische Konkurrenz. Die Parteifarben wechselten vom traditionell sandinistischen Rot-Schwarz zu einem optisch weniger aggressiven Rosa. Außerdem betont Ortega bei jeder Gelegenheit seinen christlichen Glauben. Während des Wahlkampfes 2006 hat seine Ehefrau und rechte Hand, Rosarillo Murillo, sogar von der Pilgerfahrt ihres Mannes gesprochen.(2) Jaime Morales Carazo, während der US-amerikanischen Militärintervention der achtziger Jahre eine leitende Figur der Contra-Guerilla, ist heute Vizepräsident Nicaraguas.

Dennoch dreht die bürgerliche Presse dem ehemaligen Guerillero Ortega aus diesem weniger aggressiven Politikstil einen Strick. Nicht mehr der "Frontmann des kubanischen Kommunismus auf der mittelamerikanischen Landbrücke" sei er, schreibt Toni Keppeler. "Nein, in den Jahren der Niederlagen ist Ortega zum gerissenen Machtpolitiker geworden", der dem Volk nur sein "lächelndes Gesicht" gezeigt habe. "Reumütig bekannte er, er habe sich geändert. Jesus sei nun seine erste Inspiration und wie dieser umarme er seine ärgsten Feinde."(3) Wir werden sehen, was wirklich hinter der Politik Ortegas steckt und ob diese Kritik gerechtfertigt ist.

"Kein Analphabetismus, keine Arbeitslosigkeit, kein Hunger", versprach Ortega im Wahlkampf 2006.(4) Sie sind die innenpolitischen Schwerpunkte der FSLN.


"Hambre cero" - Null Hunger

Zu Beginn seiner Präsidentschaft initiierte die FSLN das an eine Kampagne des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva angelehnte "Nahrungsmittel-Produktionsprogramm" (besser bekannt unter dem Namen "hambre cero" [Null Hunger]). In den fünf Jahren der ersten Legislativperiode will die Regierung bis zu 150 Millionen US-Dollar investieren, um 75.000 Familien aus der Armut herauszuholen. Im Rahmen des Programms bietet die FSLN zum einen Babynahrung und Schulspeisungen. Zum anderen wird armen Familien geholfen, eine unabhängige Existenz zu gründen: Kühe, Schweine, Viehfutter, Kleinvieh, Saatgut, Zaundraht, Werkzeuge und andere Mittel zur Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion wird an sie verteilt.(5) "Mehr Essen für die Familien und zusätzliche Einkommensquellen, das ist die Idee."(6)

Für den Beginn der Umsetzung wählte die Regierung die rückständigsten ländlichen Gebiete Nicaraguas. Die Durchführung leisten verschiedene Nichtregierungsorganisationen. Finanziert wird das Programm unter anderem durch Haushaltsmittel und einem Kredit der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Das Welternährungsprogramm und die Europäische Union haben ihre Zuschüsse für 2009 gestrichen.(7)

"Hambre cero" wird von dem Soziologen Orlando Núñez Soto geleitet. Das Programm wurde von ihm vor rund zehn Jahren entwickelt. Vorgeschlagen habe Núñez das Programm schon Ortegas Vorgängern, Arnoldo Alemán und Enrique Bolãos. "Und die wollten es nicht. Ihr Problem!"(8) Wer die Finanzhilfe bekommt, entscheiden die "Komitees der Bürgermacht" (Comités del Poder Ciudadano - CPC).

Dass sich "hambre cero" ausdrücklich an die Frauen der nicaraguanischen Gesellschaft richtet, kommentiert Núñez so: Man müsse Vertrauen in die Frauen haben. "Frauen verkaufen nicht die Milch, die für ihre Kinder bestimmt ist."(10)

Im Rahmen des Programms "Null Wucher" (usura cero) vergibt der Staat Kredite zu einem Zinssatz von fünf Prozent an Selbstständige statt der üblichen 25 Prozent.(11)


CPC - Demokratie auf nicaraguanisch

Die "Komitees der Bürgermacht" werden seit Sommer 2007 von von der FSLN eingesetzt. Im Parlament fand sich keine Mehrheit für die CPCs. Ortega ignorierte das Votum der Abgeordneten und führte sie daraufhin per Dekret ein. Das Verfassungsgericht bestätigte dieses Vorgehen.

Rosario Murillo koordiniert die Komitees auf nationaler Ebene. Bezahlt werden sie vom Staat. Für die FSLN sind sie Elemente einer direkten Volksdemokratie. Historisches Vorbild sind die sogenannten Komitees zur Verteidigung des Sandinismus (Comités de Defensa Sandinista - CDS), die in Nicaragua in den achtziger Jahren entstanden sind. Die CPCs erinnern an die "Kiezräte" in Venezuela, die Dario Azzelini beschreibt.(12)

Die Komitees sind mit einem eigenen Haushalt ausgestattet. Ihre Aufgabe ist es, sich um kommunale Angelegenheiten zu kümmern. Sie dienen als Anlaufstelle für die Bürger, um Anliegen jeglicher Art vorzubringen. Auch verwalten sie die Durchführung der staatlichen Sozialprogramme.

Nach Auffassung Ortegas stehen sie allen Nicaraguanern, mit oder ohne FSLN-Parteibuch, offen: "Niemand fragt, welcher Partei oder Religion du angehörst. Man fragt dich nur, ob du dein Christentum leben möchtest und deinen Nachbarn lieben willst wie dich selbst", sagte der Staatschef.(13) Mehrheitlich befinden sich die Komitees in Händen der FSLN.

Einem Teil der Linken passt der Versuch, Nicaragua zu demokratisieren offenbar ganz und gar nicht. Mit immer gleichen Argumenten wird versucht, die Einführung der CPCs zu diskreditieren. Die Komitees bevorzugen bei der Umsetzung von "hambre cero" Mitglieder der Frente Sandinista, so ein gängiger Vorwurf. Klaus Heß vom Wuppertaler Informationsbüro Nicaragua sieht die CPCs sogar als "Kern einer neuen Klientelwirtschaft". Die existierenden Strukturen auf kommunaler Ebene würden "ausgehungert" und die sandinistischen Bürgermeister darauf verpflichtet, sich den Entscheidungen der Komitees zu beugen, so seine Kritik.(14)

Der basisdemokratische Schein trüge, weiß Karl Burgmaier, ein ehemaliger Entwicklungshelfer des Deutschen Entwicklungsdienstes in Nicaragua, zu berichten.(15) Und Gaby Gottwald malt in ihrem Artikel "Postsandinistische Bananenrepublik" das Gespenst eines totalitären Staates an die Wand: "So ist zu befürchten, dass sich die Strukturen der 'direkten Demokratie' bald als Strukturen der direkten Kontrolle durch Partei und Staat entpuppen werden."(16) Oha! Man könnte meinen, Ortega baut einen autokratischen Einparteienstaat nach Orwellschem Vorbild auf. Ein absurder Vorwurf.


Die FSLN alphabetisiert Nicaragua - zum zweiten Mal

Die Frente Sandinista knüpft in der Bildungspolitik aktuell an ihre Arbeit der achtziger Jahre an. Eine der ersten Unternehmungen der sandinistischen Führung zur Verbesserung der Lebensumstände in Nicaragua damals war der "Kreuzzug gegen die Analphabetisierung" (cruzada contra la analfabetización). Etwa 100.000 Alphabetisatoren lehrten während der Kampagne (März 1980 bis August 1980) etwa 500.000 Menschen Lesen und Schreiben und reduzierten die Analphabetismusquote Nicaraguas auf rund 13 Prozent.(17) Der Analphabetismus Nicaraguas zur Zeit Somozas (vor Juli 1979) betrug mehr als 50 Prozent. Auf dem Land war diese Quote höher; dort herrschte ein Analphabetismus von über 70 Prozent.(18)

Zur Amtsübernahme Ortegas im Januar 2007 konnten etwa 24 Prozent der 5,9 Millionen Einwohner weder schreiben noch lesen. Mit kubanischer und venezolanischer Hilfe wurde das Alphabetisierungsprogramm "Yo Si - Puedo" (Ja, ich kann es) umgesetzt. Die Kampagne begann 2005 und hat bis etwa Mitte 2007 mehr als 125.000 Menschen alphabetisiert. Sie richtet sich ausschließlich an Menschen, die das fünfzehnte Lebensjahr bereits abgeschlossen haben. Das Ziel einer umfassenden Grundschulbildung verfolgt die FSLN dadurch, dass sie allen Kindern einen unentgeltlichen Schulbesuch ermöglicht.(19) Das Tragen einer Schuluniform ist nicht mehr zwingend vorgeschrieben, sodass arme Familien diese nicht mehr anschaffen müssen. Auch wird an den öffentlichen Schulen Nicaraguas eine Mahlzeit unentgeltlich an die Schüler ausgegeben.

Im August des vergangenen Jahres feierten die Sandinisten den Sieg über den Analphabetismus. Wie Ortega erklärte, sei der Anteil der erwachsenen Bevölkerung, der weder lesen noch schreiben kann, von 21 auf 3,56 Prozent gesunken. Das habe auch die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) bestätigt. Nach deren Kriterien gilt ein Staat als frei von Analphabetismus, wenn die Quote unter vier Prozent der Bevölkerung sinkt. Damit ist Nicaragua nach Venezuela, Kuba und Bolivien das vierte Land der ALBA (Alternativa Bolivariana para las Américas - Bolivarianische Alternative für Amerika), das diesen Erfolg feiern kann.(20)

Kurz nach dem Amtsantritt Ortegas wurde in Nicaragua die Gesundheitsversorgung wieder kostenlos. In der Bevölkerung aber genießt das öffentliche Gesundheitssystem ein niedriges Ansehen. Die Krankenhäuser sind überfüllt, stundenlanges Warten vor einer Konsultation muss in der Regel einkalkuliert werden. Es fehlt an allen Ecken und Enden: Die Medikamente sind knapp, technisches Gerät ist oft veraltet oder fehlt ganz. Auf Operationen muss mitunter monatelang gewartet werden. Bevorzugt werden von den Nicaraguanern - insofern sie es sich leisten können - Privatkliniken, die auch weiterhin existieren.

Die FSLN-Regierung erhöhte am 1. Juni 2007 den gesetzlichen Mindestlohn von 77 auf 90 US-Dollar, was einem Anstieg des nicaraguanischen Mindestlohns um 18 Prozent entspricht.

Noch vor dem Amtsantritt Ortegas - im Oktober 2006 - beschloss das Parlament in Managua ein Abtreibungsverbot, das ebenfalls einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen unter Strafe stellt. 28 Abgeordnete der FSLN stimmten für das Verbot. Die Katholische Kirche begrüßte die Gesetzesänderung; Feministinnen laufen dagegen Sturm und fordern die Rücknahme.


Nicaragua zwischen Freihandel und lateinamerikanischer Integration

Die aktuelle Außenpolitik Nicaraguas ist durch die Politik der lateinamerikanischen Integration gekennzeichnet. Diese geht auf eine Initiative der bolivarianische Regierung Venezuelas zurück. Kuba und Venezuela riefen Ende 2004 das Projekt ALBA ins Leben. Dieses setzt sich einen gleichberechtigten Handel der lateinamerikanischen Staaten untereinander als Ziel. Das Bündnis ist ein Gegenstück zu der amerikanischen Freihandelszone ALCA, die von den USA für den Doppelkontinent angestrebt wird.

Mit der Amtseinführung Daniel Ortegas am 10. Januar 2007 wurde auch der Eintritt Nicaraguas in die ALBA vertraglich beschlossen. Entsprechend sind neben den USA Kuba, Venezuela, Bolivien, und Ecuador, die ebenfalls dem Bündnis angehören, wichtige Handelspartner. Havanna stellt Nicaragua medizinisches Personal als auch Lehrmaterial und -kräfte zur Verfügung. Kuba hat großen Anteil daran, dass in Nicaragua der Analphabetismus besiegt wurde. Venezuela, fünftgrößter Erdölproduzent weltweit, lässt Nicaragua 150.000 Barrel Öl täglich zu Vorzugspreisen zukommen(21), um das chronische Energieproblem des Landes zu beheben.

Daniel Ortega lässt - ähnlich wie sein venezolanischer Amtskollege Hugo Chávez - kaum eine Möglichkeit aus, die USA verbal zu attackieren. Doch Managua pflegt gute Wirtschaftsbeziehungen mit Washington: Noch immer ist Nicaragua Mitglied in der zentralamerikanischen Freihandelszone CAFTA (Central America Free Trade Association), dem neben den USA auch die mittelamerikanischen Länder Honduras, El Salvador, Costa Rica, Guatemala und die Dominikanische Republik angehören. Somit werden noch immer nicaraguanische Märkte mit subventionierten Produkten aus der US-amerikanischen Landwirtschaft überschwemmt. Da einheimische Kleinbauern gegen diese mit industriellen Maschinen arbeitenden Landwirtschaftsbetriebe preislich nicht konkurrieren können, verlieren sie ihre Existenz und landen als industrielle Reservearmee vor den Toren der Fabriken.

Mit dieser Freihandelspolitik muss die FSLN-Regierung Schluss machen. Ein Austritt aus dem CAFTA-Vertrag ist ein notwendiger Schritt, die eigenen Bauern vor der übermächtigen Konkurrenz zu schützen. Und zudem eine günstige Gelegenheit, großen Sprüchen auch große Taten folgen zu lassen.

Außerhalb Lateinamerikas sorgte Ortega vor allem mit zwei Maßnahmen für Aufregung: Er verurteilte erstens die georgische Aggression im Konflikt um Abchasien und Südossetien (Herbst 2008). Als erstes Land nach Russland hat Nicaragua die Unabhängigkeit dieser Republiken anerkannt. Und zweitens hat seine Regierung Anfang Juni dieses Jahres die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen. Die israelische Marine hatte kurz zuvor einen Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für den abgeriegelten Gaza-Streifen angegriffen. Mehrere Friedensaktivisten kamen dabei ums Leben. Ein Verbrechen, das weltweit Empörung auslöste.


Die FSLN und die deutsche Linke

Die Politik Ortegas wird von einem Großteil der Linken in Deutschland kritisiert. Ihnen missfällt die Parteiführung der FSLN. Sie charakterisieren Ortegas Regierungsstil als autokratisch und unterstellen ihm, demokratische Freiheiten zu unterdrücken.(22) Der nicaraguanische Präsident ist für sie inzwischen ein caudillo, ein autoritärer und willkürlicher Herrscher.(23) Fortschrittliche Impulse seien von ihm nicht zu erwarten, meinte Matthias Schindler kurz nach dem Amtsantritt von Ortega. Diese könnten sich nur dann entwickeln, wenn sich die FSLN von ihm und "dessen Machtzirkel persönlich und politisch" befreie.(24)

Stets wird Kritik an einem politischen Abkommen Ortegas mit dem Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán von der Liberal-Konstitutionalistischen Partei (PLC - Partido Liberal Constitucionalista) geübt. Alemán hatte Millionen-Gelder veruntreut und wurde im Dezember 2003 zu zwanzig Jahren Arrest verurteilt. Transparency International führte ihn 2004 als eine der zehn korruptesten Staatspräsidenten der vergangenen Jahre.

Durch den Pakt mit Alemán erlangte die FSLN die Kontrolle über den Justizapparat. Rechnungshof, Bankenaufsicht, Wahlrat und weitere Institutionen wurden mit Vertrauten der beiden Politiker besetzt. Außerdem änderte man das Wahlrecht: Nun reichte bei Parlamentswahlen im ersten Gang eine relative Mehrheit von 35 Prozent zum Sieg, wenn die zweitstärkste Partei fünf Prozentpunkte zurückliegt. Möglich wurde das alles durch eine Mehrheit von FSLN und PLC im Parlament. Im Januar 2009 wurde die Haftstrafe des korrupten Ex-Präsidenten aus Mangel an Beweisen aufgehoben.

Durch den Pakt hat Ortega das liberale Lager in Anhänger Arnoldo Alemáns und dessen Gegner gespalten - und somit erst seinen Wahlsieg möglich gemacht. Denn gegen vereinte Liberale hatte er bei den Präsidentschaftswahlen mehrfach den Kürzeren gezogen. Ohne die Klüngelei mit Alemán wäre Ortega 2006 vermutlich wieder an der Wahlurne gescheitert. Weder die Sozialprogramme noch die Alphabetisierungskampagne wären dann zustande gekommen. Auch hätte ein liberaler Präsident Nicaragua niemals in das ALBA-Bündnis geführt. Das Land wäre unter liberaler Flagge weiterhin ein Brückenkopf des US-Kapitals in der Region. Die Zusammenarbeit mit Alemán ist also kein Pakt mit dem Teufel, sondern ein notwendiges Übel, um in Nicaragua gegenwärtig eine andere Politik durchzusetzen.

Außerdem: Wer glaubt, der Sandinismus steht der liberalen Ideologie unversöhnlich gegenüber, der irrt. Augusto C. Sandino zum Beispiel kämpfte in der Armee der Liberalen gegen die Günstlinge der USA. Günter Pohl hat recht, dass es von Beginn an Bündnispolitik der FSLN war, Diktator Somoza zu stürzen und gegen alle US-Interventionen die nationale Unabhängigkeit zu erreichen.(25) Letztendlich war es eine Allianz mit liberalen Kräften, die die Revolution der achtziger Jahre ermöglichte. Ortegas Zusammenarbeit mit den Liberalen heute ist so abwegig also nicht.


Fazit

Wie fällt also die Bilanz nach dreieinhalb Jahren sandinistischer Regierung aus? Besser als erwartet, aber dennoch durchwachsen, würde ich sagen.

Nach der Wahlniederlage der FSLN haben die folgenden Regierungen alles daran gesetzt, die Errungenschaften der Revolution rückgängig zu machen. Buchstäblich wie eine Heuschrecke fiel das Kapital in Nicaragua ein und privatisierte Schulen, Universitäten, Krankenhäuser sowie die Strom- und Wasserversorgung. Weltbank und Internationaler Währungsfonds hatten ihre helle Freude an der Privatisierungsorgie, die 1990 begann. Dass die Frente Sandinista diesen Trend - zumindest in der Gesundheits- und Bildungspolitik - umgekehrt hat, ist ihr hoch anzurechnen. Medizinische Versorgung ist genauso wie Bildung ein Menschenrecht. Und dafür bezahlt man nicht. Das weiß auch Daniel Ortega.

Die Reformansätze der nicaraguanischen Demokratie - Stichwort CPC - gehen in die richtige Richtung. Wie weit diese Komitees von den Menschen akzeptiert werden, lässt sich bisher nur vermuten. Noch zu frisch ist dieses Experiment. Der Vorwurf, die CPCs bevorzugen bei der Umsetzung der Sozialprogramme Mitglieder der FSLN, sind wohl auf Meinungsäußerungen Einzelner zurückzuführen. Repräsentativ für das Volk Nicaraguas sind sie nicht.

Dagegen wirkt die Zusammenarbeit Ortegas mit der Katholischen Kirche aufgesetzt. Es ist eine Zweckgemeinschaft: Die Katholiken versprechen sich, dass nicht noch mehr Gläubige zu den evangelikalen Sekten wie etwa den Zeugen Jehovas überlaufen. Die FSLN beabsichtigt, durch das Bündnis Wählerschichten anzusprechen, die der Partei traditionell fremd sind. Das strikte Abtreibungsverbot, das die Katholische Kirche und Teile der FSLN befürworten, ist für Linke nicht akzeptabel.

Die Frente Sandinista hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren eine klare Linie vermissen lassen. Außenpolitisch fährt Daniel Ortega einen Zickzack-Kurs zwischen CAFTA und ALBA. Innenpolitisch könnte Ortega konsequenter handeln. Vergesellschaftung privatwirtschaftlicher Unternehmen hat es meines Wissens in den vergangenen dreieinhalb Jahren nicht gegeben. Es ist also noch offen, wohin Ortegas politische Reise - vorausgesetzt er wird im kommenden Jahr wiedergewählt - gehen soll. Eins aber ist nicht zu leugnen: Seine bisherige Politik ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber der Amtszeit von Enrique Bolãno, der Nicaragua von 2002 bis 2007 regierte. Wenigstens das sollte man anerkennen.


Christian Klemm, Berlin, Journalist


Anmerkungen:

(1) Während der sandinistischen Revolution (1979 bis 1990) war Daniel Ortega zuerst Mitglied einer fünfköpfigen Junta, die Nicaragua regierte. 1985 wurde er erstmals zum Staatspräsidenten gewählt.

(2) Vgl. Karl Burgmaier in Sozialismus 2/2009, S. 41

(3) Die Zeit, 24/2006

(4) Vgl. Gerold Schmidt in ND, 10.1.2007

(5) Vgl. Torge Löding in LN (Lateinamerika Nachrichten), Januar 2008 und Karl Burgmaier in Sozialismus 2/2009, S. 40

(6) Sebastian Erb in die tageszeitung (taz), 17.4.2009

(7) Ebd.

(8) Orlando Núñez Soto zitiert nach ebd.

(9) Karl Burgmaier in Sozialismus 2/2009, S. 40

(10) Orlando Núñez Soto zitiert nach taz, 17.4.2009

(11) Vgl. Hernando Calvo Ospina in Le Monde diplomatique, 10.7.2009

(12) Vgl. ND, 27.2.2009

(13) zitiert nach Torge Löding in LN, Januar 2008

(14) Klaus Heß in LN, September/Oktober 2009, Vom Gestern, Heute und Morgen einer Revolution, Sonderbeilage Nicaragua, S.32

(15) Sozialismus 2/2009, S. 40

(16) ila, Mai 2009, S. 34

(17) Angabe nach Boris, Dieter: Nicaragua, in: ders./Rausch, Renate (Hrsg.): Zentralamerika. Guatemala, Nicaragua, Honduras, Costa Rica, El Salvador, Köln 1984, S. 318

(18) Angaben nach Informationsbüro Nicaragua (Hrsg.): Nicaragua - ein Volk im Familienbesitz, Wuppertal 1984, S. 156).

(19) Vgl. José Adán Silva in junge Welt, 9.8.2007

(20) André Scheer in junge Welt, 26.8.2009

(21) Interview mit Nicaraguas Parlamentspräsident René Núñez Téllez in Die Presse, 17.08.2007

(22) Vgl. z. B. Klaus Heß in ila, September 2008

(23) Vgl. z. B. Ralf Leonhard, http://oe1.orf.at/artikel/208993, 12.07.2004

(24) Sozialistische Zeitung (Soz), Januar 2007

(25) Vgl. UZ, 17.11.2006


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-10, 48. Jahrgang, S. 105-110
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2010