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MARXISTISCHE BLÄTTER/484: Zur historischen Periodisierung des Kapitalismus


Marxistische Blätter Heft 2-11

Zur historischen Periodisierung des Kapitalismus

Von Georg Fülberth


Wer Einschnitte in der Geschichte des Kapitalismus sucht, trifft auf die Schwierigkeit, dass diese für die jeweiligen Ebenen (z.B. Ökonomie, Politik, Bewusstseinsentwicklung) nicht dieselben sein können. Eine öfter gebrauchte Gliederung sieht so aus: Handels- und Agrarkapitalismus ca. 1500 - ca. 1780; Industrielle Revolution ca. 1780 - 1870; Organisierter Kapitalismus und Imperialismus 1870 - 1914; Zeitalter der Katastrophen 1914 - 1945; Kapitalistisches Wohlfahrtsregime 1945 - 1973; Finanzmarktgetriebener Kapitalismus seit 1973.

Das sind gleichsam "gefühlte" Perioden. Problematisch daran ist, dass manchmal mit ökonomischen, ein andermal mit politischen Kriterien gearbeitet wird. Das muss nicht völlig falsch sein, denn beide Dimensionen - Politik und Ökonomie - sind wichtige Realitäten.

Dennoch soll im Folgenden versucht werden, eine Gliederung nach ökonomischen Kriterien vorzunehmen. Als Einschnitte dienen dabei die großen systemischen Krisen, die nach dem Übergang des Handels- und Agrarkapitalismus in den Industriekapitalismus in größeren Abständen auftreten.

Von den ca. alle zehn Jahre stattfindenden zyklischen Krisen unterscheiden sich die ökonomischen Systemkrisen dadurch, dass in ihnen nicht nur Überakkumulation abgebaut, sondern der Kapitalismus selbst transformiert wird. Für sie alle gilt, dass nach ihnen die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr dieselbe ist wie vorher. Jede Systemkrise beendet eine bestimmte Kapitalismus-Variante und leitet eine neue ein.

Die erste Systemkrise dieser Art war der in Deutschland als "Gründerkrach" bezeichnete schwere Einbruch von 1873. Charakterisieren wir zunächst die Periode, die diesem voranging:


1780 bis 1873: Kapitalismus der ungehemmten Konkurrenz

Die erste Phase des Industriekapitalismus begann mit der klassischen Industriellen Revolution ca. 1780 und endete mit der "Großen Depression" der Jahre 1873 - 1895/96.

Dies war der Kapitalismus der freien Konkurrenz, der "Manchesterkapitalismus". Die führenden Branchen waren zunächst die Textil-, dann die Montanindustrie, die entscheidenden Technologien wurden in den mit Wasser-, dann mit Dampfkraft betriebenen Spinn- und Webmaschinen, schließlich in den Eisenbahnen eingesetzt. Der typische Kapitalist war der Einzelunternehmer, oft ein "Gründer". Die Eisenbahnen entstanden auf Aktienbasis. Sie waren somit auch Objekt der Spekulation, überdies der Überakkumulation. Beide brachen 1873 zusammen.


1873 - 1929: Organisierter Kapitalismus und Imperialismus

Aus der "Großen Depression", die von 1873 bis 1895/96 dauerte, ging der Organisierte Kapitalismus hervor. An die Stelle der von Einzelnen geleiteten Unternehmen traten Aktiengesellschaften, Kartelle, Trusts und Monopole, die aber immer noch von dominanten individuellen Kapitalisten (Rathenau, Siemens, Rockefeller) beherrscht wurden. In der Zweiten Industriellen Revolution (um 1900) traten die Chemie- und die Elektroindustrie neben die Montanindustrie, beide wirkten durch die Raffinierung von Erdöl und den Einsatz der Zündkerze (Bosch) auch in einem Zukunftszweig des 20. Jahrhunderts zusammen: der Automobilbranche.

Im Aufschwung seit 1896 entstand wieder Überakkumulation. Abhilfe schien Kapitalexport zu schaffen, insbesondere in die Kolonien, wo das dort angelegte Kapital politisch und militärisch gesichert wurde. So bildete sich der Imperialismus heraus, in dem die großen Industrienationen ihre Einflusssphären vergrößerten, in Konkurrenz zueinander traten und ihren Konflikt schließlich im Ersten Weltkrieg austrugen. Er war für die Menschen eine Katastrophe, für das Kapital eine Wohltat: Massenhaft konnten Militärgüter erzeugt und gleich anschließend zerstört und ersetzt werden: Überakkumulation gab es da nicht. Die entstand allerdings in den zwanziger Jahren in den USA, die als die stärkste Wirtschaftsnation aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren. Die von dort ausgehende Weltwirtschaftskrise von 1929 führte zu einem neuen Formwechsel des Kapitalismus.


1929 - 1975 Staatsmonopolistischer Kapitalismus und
Keynesianismus

Die neue Formation trat ab 1933 deutlicher hervor: Big Business, Big Labour und Big Government kooperierten. Diese Art ihrer Zusammenarbeit wurde von einem Teil der marxistischen Theorie als Staatsmonopolistischer Kapitalismus bezeichnet. (Andere sprechen vom "Korporatismus".) Die typischen Repräsentanten der Kapitalistenklasse waren jetzt nicht mehr die Einzelunternehmer, sondern die Manager: Leitende Angestellte der Aktiengesellschaften. Mittel der Wirtschaftspolitik, von John Maynard Keynes empfohlen, waren: staatliche Investitionen, Deficit spending, Steigerung der Massenkaufkraft. Der größte Effekt kam durch die Rüstung. Weil Hitler-Deutschland damit anfing, überwand Deutschland die Rezession zuerst. In den USA war sie letztlich erst am Vorabend ihres Eintritts in den Zweiten Weltkrieg vorbei, der sich - wie schon der Erste - zwar als eine humanitäre Katastrophe, aber erneut als ein Segen für das Kapital erwies.

Die Periode 1929 (bzw. 1933) bis 1975 lässt sich in zwei Phasen unterteilen:
1. den staatsmonopolistischen Kriegskapitalismus bis 1945,
2. den staatsmonopolistischen Wohlfahrtskapitalismus 1945 - 1975.

Insgesamt dominierten In den Jahrzehnten 1933 - 1975 (neben der Rüstung) Produktion und Absatz langlebiger Konsumgüter, deren Basis in der Zweiten Industriellen Revolution gelegt worden war (Automobile, Elektrogeräte).

Bis 1945 eskalierten die Konflikte des von Lenin analysierten Imperialismus. Man kann deshalb die Jahrzehnte 1914 - 1945 als die zweite Phase des klassischen Imperialismus bezeichnen. Für Zeit bis 1975 war er durch die Systemauseinandersetzung eingedämmt und nahm im Verhältnis der kapitalistischen Länder zueinander kooperative Züge an. Nennen wir ihn deshalb: Kooperativen Imperialismus.


1975 - 2007: Erste Phase des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus

Seit Anfang der fünfziger Jahre bereitete sich die Dritte Industrielle Revolution mit dem Einsatz numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen vor. Sie setzte sich Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre dann mit der breiten Verwendung von Mikroelektronik in der Produktion durch. Nicht sofort, aber auf längere Sicht bedeutete das Entwertung bereits vorhandener Anlagen und gab den Unternehmern die Möglichkeit, Arbeitskräfte einzusparen.(1) Dies wurde angesichts der gewachsenen Kampfstärke der Gewerkschaften zunehmend zu einer Option zwecks Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Lasten der Arbeit und zugunsten des Kapitals.

1973 endete das 1944 errichtete Währungssystem von Bretton Woods mit seinen festen Wechselkursen. Damit wurde das Geld zu einer Ware für ständige Spekulation an den Börsen. Kapital ist der produktiven Arbeit und der Auseinandersetzung mit den starken Gewerkschaften entzogen und zu seiner spekulativen Vermehrung an den Finanzmärkten eingesetzt worden. Damit fragte es weniger Arbeitskraft nach, wodurch eine steigende Arbeitslosigkeit einsetzte.

Die Weltwirtschaftskrise 1975 brachte die Transformation vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus in den Finanzmarktgesteuerten Kapitalismus.(2) Als seine zentralen ökonomischen Akteure sind die bisherigen Industriemanager durch die Investoren und Geldsammler der Finanzdienstleistungsbranche abgelöst worden. Letztere wuchs schneller als alle anderen Wirtschaftszweige.

Die dominanten Akteure des Finanzmarktkapitalismus in Ökonomie und Politik verfolgten drei Strategien: Spekulation, Druck auf die Unternehmen und Belegschaften, Ausschlachtung des Staates und der Kommunen durch Privatisierung.

Mit der 1975 einsetzenden Massenarbeitslosigkeit wurden die Gewerkschaften geschwächt und die Löhne gedrückt. In den achtziger Jahren sind durch Börsenspekulation hohe Gewinne erzielt worden. Danach kehrten große Kapitalmassen wieder aus der Zirkulation in die Produktion zurück: die Dritte Industrielle Revolution hatte inzwischen den Konsumgütermarkt erreicht, wo das Angebot an Mobiltelefonen, Heimcomputern, Laptops auf eine starke Nachfrage stieß. 2001 endete dieser Boom mit einem Einbruch. Anlage suchendes Kapital fand jetzt ein neues Aktionsfeld in der zunächst von den USA ausgehenden Spekulation mit Immobilienkrediten.

Das Jahr 1973 war eine politische Epochengrenze durch die Aufkündigung des Systems von Bretton Woods. Der ökonomische Einschnitt kam erst mit der Krise von 1975.


2007 - 2009

Die Finanz-, Banken- und Wirtschaftskrise 2007 - 2009 beendete den ihr vorangehenden Hypotheken- und Kredit-Boom. Sie ist die Nachfolgekrise der Krise von 1975: diese war auf lange Sicht ihre Voraussetzung und ist insofern wichtiger als der Crash von 2007 ff. Der Arbeitsmarkt war bereits ab 1975 durch ein hohes Maß an Erwerbslosigkeit charakterisiert. Anders als 1929 - 1933 und 1975 kam es mit Einsetzen der Krise 2007/2008 zunächst nicht zu einem Einbruch der Beschäftigung - den hatte es lange vorher schon gegeben.


Systemische Krise?

Von einer systemischen Krise 2007 - 2009 könnte man sprechen, wenn der Kapitalismus nach ihr eine neue Gestalt annehmen würde. Dabei sind immerhin zwei Möglichkeiten denkbar:

1. eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte, die die Spekulation nicht beseitigt, aber im Interesse der Vermögenden kanalisiert.

2. Langfristig könnte ein neuer Typ des Kapitalismus auch durch eine Veränderung bestimmt werden, für die seit Obama - rasch aufgegriffen u. a. von der grünen Partei in Deutschland - der Begriff "Green New Deal" aufgekommen ist. Im Kern handelt es sich um Schutz des konstanten Kapitals. Dies kann so erklärt werden:

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war unverkennbar geworden, dass der Kapitalismus der freien Konkurrenz drauf und dran war, seine spezifische Grundlage zu ruinieren: die Arbeitskraft, in die Kapital in Form von Lohn investiert wurde. Marx bezeichnete diese Kapitalsorte als "variables Kapital". Auf seinen Schutz liefen objektiv die Bemühungen der Arbeiterbewegung, des Sozialkatholizismus und des Sozialkonservativismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus.

Erhöhten sich auf diese Weise die Lohnkosten, so sollten die Ausgaben für Rohstoffe, Halbzeug, Energie und Maschinen (Marx bezeichnet alle diese Produktionsvoraussetzungen als "konstantes Kapital") gesenkt werden, um das, was auf der einen Seite verloren ging, auf der anderen zu kompensieren. Mittel dafür waren und sind u. a. der Bezug wohlfeiler Rohstoffe aus in Abhängigkeit gehaltenen Gebieten (früher: Kolonien, heute: politisch postkoloniale, ökonomisch aber noch den Zentren ausgelieferte Länder) sowie die Externalisierung von Kosten: Belastung von Boden, Wasser und Luft mit Abgasen und Abstoffen. Raubbau und die Überforderung von Senken kann auf Dauer jedoch die Reproduktion des konstanten Kapitals erschweren - wenn z. B. durch Erwärmung der Atmosphäre, Überfischung oder sonstige Plünderung der Meere, Kontaminierung des Bodens die materialen Voraussetzungen der Produktion nur nach umfangreichen und kostspieligen Reparatur- und Renaturierungsmaßnahmen erhalten werden können. Umweltschutz ist dann eine Politik zur Förderung des konstanten Kapitals.


Konfrontativer oder kooperativer Imperialismus?

Aggressiver Waren- und Kapitalexport, die Sicherung des Zugriffs auf Rohstoffquellen und Zugang zu diesen in Konkurrenz der kapitalistischen Länder untereinander: diese Merkmale des klassischen (bis 1945) Imperialismus sind seit dem Ende des realen Sozialismus wieder relevant geworden. Setzen sie sich durch, wird die Regulierung der Finanzmärkte und des stofflichen Haushalts, die nur international zu bewerkstelligen sind, unmöglich. Beide Varianten - Rückkehr zum klassischen Imperialismus oder ein neues internationales Regime - wären ein Bruch mit der Politik der vergangenen Jahrzehnte (sowohl 1945 - 1973 als auch 1973 - 2007), und insofern wäre die Krise der Jahre 2007 - 2009 in jedem Fall eine systemische gewesen.

Ihre Langzeit-Bedeutung wird durch einen Langzeittrend, den Aufstieg der so genannten BRIC/S-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, vielleicht auch Südafrika) relativiert.


Georg Fülberth, Prof. Dr., Marburg, Politikwissenschaftler


Anmerkungen:

(1) Katzenstein, Robert: Die Investitionen und ihre Bewegung im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Zu einigen Fragen der Reproduktion des fixen Kapitals, der zyklischen Bewegung der Gesamtproduktion und des technischen Fortschritts in Westdeutschland nach dem Kriege. Berlin 1967; Katzenstein, Robert: Technischer Fortschritt - Kapitalbewegung - Kapitalfixierung. Einige Probleme der Ökonomie des fixen Kapitals unter den gegenwärtigen Bedingungen der Vergesellschaftung der Produktion im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Berlin 1974.

(2) Hierzu und zum Folgenden siehe Huffschmid, Jörg: Hinter der Bühne. Kapitalmarktgetriebener Kapitalismus und Krise. In: Pfeiffer, Hermannus (Hg.): Land in Sicht? Die Krise, die Aussichten und die Linke. Köln 2009. S. 18 - 30.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-11, 49. Jahrgang, S. 63-67
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2011