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MARXISTISCHE BLÄTTER/489: Wohin strebt Kuba?


Marxistische Blätter Heft 3-11

Wohin strebt Kuba?
Ein Kommentar zum VI. Parteitag der KP Kubas

Von Tobias Kriele


Eine Vorab-Bemerkung

Der VI. Parteitag der KP Kubas ist in der Welt mit einer Unruhe aufgenommen worden, welche selbst einige Freunde des Sozialismus erfasst hat: Steht jetzt auch in Kuba eine revisionistische oder restaurative Entwicklung bevor?

Das revolutionäre Kuba hat oft genug bewiesen, dass es den Befürchtungen, Kritiken und Ratschlägen aus aller Welt vollkommen ungerührt gegenübersteht. Denn die erste Errungenschaft der kubanischen Revolution besteht in der Selbstbestimmung des kubanischen Volkes über seine Geschicke. Der Sozialismus ist ihr nicht das erklärte Endziel, sondern die notwendige Bedingung für ein freies und souveränes Kuba. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, die dadurch naheliegende Frage "Wozu Sozialismus?" würde zu einem schlechten Pragmatismus führen. Im Gegenteil, in Kuba verteidigt man den Sozialismus, weil man weiß, wozu er gut ist.

Diese Einsicht ist, meine ich, Voraussetzung, um die mit dem VI. Parteitag der KP Kubas verbundenen Debatten und Veränderungen verstehen zu können.


Alte und neue Schlachten

Das Datum des VI. Kongresses der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) wurde mit Sinn für Symbolik gewählt. Seine eröffnende Sitzung fand am 16. April 2011 statt, genau 50 Jahre nach dem Sieg über die US-Landung in der Schweinebucht.

Damals zeigte sich, dass der Imperialismus die moralische und ideologische Macht der kubanischen Revolution unterschätzt hatte. Kuba ging als bedrohter Inselstaat in die Tage der Schweinebuchtinvasion hinein und kam als unbesiegbare sozialistische Republik aus ihnen heraus. So wurde Fidels Gedanke "Revolution heißt, Gespür für den historischen Augenblick zu haben" zum Wegweiser der Revolution, lange bevor er sich in ein historisches Zitat verwandeln sollte.

Die Parallelität des VI. Parteitags zum Jahrestag der Siegs über die Imperialisten hat symbolischen Charakter, steht doch Kuba heute vor einem wirtschaftlichen Bedrohungsszenario, welches dem Fortbestand des revolutionären Projektes genauso gefährlich werden kann wie der Überfall auf die Schweinebucht im Jahr 1961.

Fünf Tage nach der Niederlage von Girón übernahm Präsident Kennedy die Verantwortung für den Fehlschlag. Am sechsten Tag verhängte er eine Wirtschaftsblockade über Kuba, die bis zum heutigen Tag andauert. Die Sowjetunion bot umgehend ihre Hilfe an, und Kuba entwickelte sich während dreier Jahrzehnte als Teil der sozialistischen Staatengemeinschaft. Die Revolutionsregierung übernahm zahlreiche Elemente der sozialistischen Wirtschaft nach dem Vorbild der Sowjetunion, so die Produktion auf großer Skala und die Bürokratie der zentralen Planung.

Im Zuge der voluntaristischen "Revolutionären Offensive" von 1968 wurde fast das gesamte Kleingewerbe sowie die kleinen Dienstleister verstaatlicht, obwohl dies weder dem realen Grad der Vergesellschaftung der betreffenden Produktionsmittel entsprach noch deren Entwicklung begünstigte.

Die politisch gewollte Vollbeschäftigung konnte nur durch eine Überbeschäftigung in Staatsbetrieben erreicht werden.(1) Hohe Löhne im produktiven Sektor und in der Landwirtschaft sowie üppige leistungsunabhängige Zuwendungen des Staates an die Beschäftigten sorgten zumindest im "goldenen Jahrzehnt" der Achtziger für einen gesicherten Lebensstandard der kubanischen Bevölkerung. Die staatlichen Betriebe arbeiteten auch damals schon nicht effizient, was aber unter den Bedingungen des RGW(2) nicht in der heutigen Konsequenz durchschlug.

Im Jahr 1991 brachen die sozialistischen Wirtschaftspartner weg, was Kuba über Nacht zwang, sich dem kapitalistischen Weltmarkt zu öffnen. Kubas Widersacher wähnten sich kurz vor ihrem Ziel und verschärften den Druck der Blockade.

Kuba antwortete mit der "Schlacht der Ideen". Im schwierigsten Moment der Sonderperiode im Jahr 1995 bestätigten in einer Volksabstimmung 85 Prozent aller Kubaner den sozialistischen Charakter der Revolution. Die gewaltige ideologische Mobilisierung sicherte der Revolution das Überleben; die Wirtschaftsplanung des Landes begrenzte sich jedoch seitdem zwangsläufig auf ständiges Krisenmanagement.

Unter den seit der Sonderperiode herrschenden Bedingungen der Anbindung an den Weltmarkt und der schweren Last der US-Blockade erwiesen sich die in den ersten Jahren der Revolution praktizierten übereilten Maßnahmen als eine schwere Bürde für die kubanische Wirtschaft. Spätestens ab 2008 war klar, dass Kuba sich auf einen wirtschaftlichen Kollaps zubewegt. Die aktuelle kapitalistische Krise trifft Kuba wie alle Dritte-Welt-Staaten besonders hart.(3) Es ist jedoch kein Geheimnis, dass diese externen Faktoren nur die Problematik einer ineffizient betriebenen Produktions- und Dienstleistungspraxis verstärken, welche sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hat.

Es hat sich erwiesen, dass die Produktivität der staatlichen Betriebe - von wenigen Nischen abgesehen - in keinem Verhältnis zum Aufwand des gezahlten Lohnes steht. Die langjährige Politik, jedem arbeitsfähigen Kubaner einen Lohn zu garantieren, ohne dafür eine Leistung einzufordern, hat eine chronische Überbesetzung von Belegschaften hervorgebracht.

Seit der Sonderperiode hängt Kuba selbst im Falle von Nahrungsmitteln, die erfolgreich auf der Insel angebaut werden könnten, von devisenzehrenden ausländischen Importen ab.(4) Der im industriellen Stil betriebene Zuckeranbau ist auch nach durchgeführten Rationalisierungsmaßnahmen weit davon entfernt, effizient zu arbeiten und meldete in 2010 die schlechteste Ernte seit dem Sieg der Revolution.


Schwierige Maßnahmen

Im November 2010 legte ein Ausschuss des Zentralkomitees der KP Kubas ein "Projekt Leitlinien" zur Umstrukturierung der kubanischen Wirtschaft vor. Dieser Entwurf wurde in Vorbereitung des VI. Parteitags auf 163.000 Versammlungen im ganzen Land diskutiert. Nach den Diskussionen in den Arbeitsgruppen des Parteitags liegen nun endgültig 313 Leitlinien vor, die im Zuge des Fünfjahresplans 2011-2015 umgesetzt werden sollen.

In der Arbeits- und Sozialpolitik geht die Partei davon aus, dass es in Kuba im Jahr 2010 statistisch über 1 Mio. staatliche Angestellte gab, die real keinerlei Arbeitsleistung erbracht haben. Diese "aufgeblasenen Belegschaften" sollen sukzessive abgebaut und die Betroffenen in andere Beschäftigungsbereiche wie z. B. die Land- oder Bauwirtschaft vermittelt werden, in denen ein akuter Arbeitskräftemangel herrscht. Viele kleine Dienstleistungen, die bislang staatlich verwaltet wurden, können in Zukunft "auf eigene Rechnung" betrieben werden. Kooperativen von Privatunternehmern werden auch außerhalb des landwirtschaftlichen Sektors zugelassen. Man hofft, durch den Ausbau dieses privatwirtschaftlichen Sektors auf kleiner Skala neue Einkommensmöglichkeiten zu schaffen.(5)

In der Landwirtschaft wird die im Juli 2008 begonnene Praxis fortgesetzt, Einzelbauern brachliegende Agrarflächen auf Pachtbasis anzubieten. Den Bauern werden dabei durch staatliche Kredite Anreize gesetzt, insbesondere jene Nutzpflanzen zu kultivieren, deren Produkte Importe ersetzen können, ganz nach dem Motto: "Einsparungen sind unsere größte Einnahmequelle" (Raúl Castro).

Die staatlichen Betriebe werden in Zukunft eine größere Autonomie in ihren Entscheidungen erhalten und gleichzeitig wird die Einhaltung der Produktionsziele schärfer kontrolliert werden. In allen Produktionsbereichen wird eine Erhöhung der Effizienz angestrebt. Betriebe, die ihre Planvorgaben kontinuierlich verletzen - ausgenommen einige geschützte Bereiche wie das Gesundheitssystem - werden in Zukunft nicht mehr durch staatliche Subventionen gestützt.

In der Verwaltung des Landes wird die Dezentralisierung fortgesetzt. Die Aufteilung der Provinz Havanna (Umland) in die Verwaltungseinheiten Artemisa und Mayabeque gilt nur als ein erster Schritt. Der bürokratische Apparat soll abgebaut und gleichzeitig Korruption und Unterschlagung bekämpft werden.

In Zukunft soll das sozialistische Prinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" die Grundlage der Sozialpolitik des Landes werden. Die Löhne sollen ergebnisabhängig ausfallen. Die bislang umfangreichen einkommensunabhängigen allgemeinen Sozialleistungen wie die monatlichen Lebensmittelzuteilungen werden schrittweise abgebaut. Für wirklich Bedürftige wird ein Netz von Sozialleistungen geschaffen.

Das Fernziel des gesamten Prozesses besteht darin, das Durchschnittseinkommen der kubanischen Arbeiterinnen und Arbeiter signifikant anzuheben und die missliche Situation der doppelten Währung zu beenden.


Der Bericht an den VI. Parteitag

Raúl Castro stellte in seinem Bericht an den Parteitag kategorisch fest, dass das Ziel der gebündelten Maßnahmen die Verteidigung und Stärkung des Sozialismus sei.(5) Keine der Errungenschaften der Kubanischen Revolution würde aufgegeben, im Gegenteil, Ziel sei es, sie in der Qualität zu steigern und zu sichern. Es seien Hemmschuhe für die Entwicklung der Produktivkräfte zu beseitigen, wie sie der Zentralismus der Verwaltungsvorgänge und die Unflexibilität in der Betriebsführung darstellten. Diese Prozesse müssten von einer Perfektionierung und einer höheren Verbindlichkeit der staatlichen Planungseinrichtungen begleitet werden. Die Planwirtschaft bleibe das Hauptmerkmal der sozialistischen Betriebsführung, müsse sich aber hüten, in Widerspruch zu den sich verändernden Bedingungen des Marktes zu geraten.

Raúl hatte schon bei der Vorstellung der Leitlinien erklärt, niemand solle der Illusion aufsitzen, die Leitlinien seien Anzeichen für eine Rückkehr zum kapitalistischen und neokolonialen Kuba vor der Revolution. Die Konzentration von Eigentum an Produktionsmitteln in privater Hand wird in Kuba auch in Zukunft nicht denkbar sein.

Der größte unter den vielen Fehlern, die gemacht wurden, sei es zu glauben, es gäbe ein fertiges Rezept, nach dem der Sozialismus zuzubereiten sei. Der Aufbau der neuen Gesellschaft habe im Einklang mit den historischen Bedingungen zu stehen, hatte Raúl bereits im Dezember 2010 festgestellt. Von Zeit zu Zeit habe er sich an die veränderten objektiven Bedingungen anzupassen, denn das einzige, was Revolution und Sozialismus in Kuba zum Scheitern bringen könnte, könne die Unfähigkeit sein, die im letzten halben Jahrhundert gemachten Fehler zu korrigieren.(6)


Personalfragen

Die kubanische Revolution steht vor der komplizierten Situation, vermutlich noch inmitten einer grundlegenden sozioökonomischen Umstrukturierung die Übertragung der Verantwortung in der Führung des Landes an nachkommende Generationen vollziehen zu müssen. Raúl Castro stellte dazu auf dem Parteitag selbstkritisch fest, dass in der Ausbildung von Kadern in den vergangenen Jahren viele Fehler gemacht wurden. Auf dem Parteitag zeichnete sich ab, dass die neue Strategie sein wird, die politische Verantwortung in Zukunft eher Kollektiven denn Persönlichkeiten zu übertragen. So ist wohl der Beschluss zu interpretieren, Kader auf allen Ebenen maximal für fünf Jahre in ihrer Position zu belassen. Ein regelmäßiger Präsidentenwechsel in Kuba? Kaum vorstellbar, aber doch steht dies bevor. Ganz allgemein wird auch eine Demokratisierung von Partei, Staat und Gesellschaft angestrebt. Schlüssel dafür sind jedoch nicht Verfahrensregeln wie Quotierungen oder dergleichen, sondern eine politisch bestimmte Ausbildung und Förderung von Nachwuchskräften.

Die auf dem VI. Parteitag getroffenen Personalentscheidungen spiegeln diesen neuen Kurs nur zum Teil wieder. Es wurde aber ausführlich erklärt, warum dem so ist. Raúl Castro erklärte, seiner eigenen, der "Moncada-Generation", also den Kämpfern der ersten Stunde der Revolution, komme in diesem Prozess eine besondere Bedeutung zu. Sie stünden vor der letzten Möglichkeit, falsch getroffene Entscheidungen zu revidieren, und habe ihre ganze historische Autorität in die Waagschale zu werfen, um die teilweise unpopulären Maßnahmen zu erklären, bevor die Verantwortung auf der nachkommenden Generation zu lasten kommt. In diesem Sinne sollte es weder überraschen noch beunruhigen, dass sich das Vorhaben Generationswechsel zumindest im Politbüro noch nicht ablesen lässt. Unter den nun 15 statt 24 Mitgliedern sind weiterhin sechs Generäle der Revolutionären Streitkräfte zu finden. Nur eine Frau hat es bis in das höchste ständige Entscheidungsgremium der KP geschafft. Es wurde aber angedeutet, dass schon innerhalb weniger Monate personelle Erneuerungen wahrscheinlich sind. Dass Raúl Castro Erster Sekretär der PCC wurde, ist keine Überraschung, bemerkenswert aber seine Aussage, dass er sein letztes Amt antrete.

Per Blockwahl wurde das neue ZK gewählt, und hier bilden sich schon eher die angestrebten Tendenzen ab. Unter den 115 Mitglieder sind jetzt 47 Frauen, was eine Verdreifachung des Anteils bedeutet. Immerhin beinahe ein Drittel der ZK-Mitglieder sind afro-kubanischer Herkunft. Der Anteil der Jugend soll weiter wachsen, hieß es, vermutlich schon im Zuge der für den 28. Januar 2012 vorgesehenen Parteikonferenz.

Als Fidel Castro auf seine Wiederwahl ins Zentralkomitee verzichtete, war auch dem Letzten klar, dass eine Übergabe des Staffelstabes der Führung der Revolution ansteht. Mit diesem klugen Zug bereitete der Comandante en Jefe einem ehrenhaften Abgang einer größeren Zahl der betagteren ZK-Mitglieder im nächsten Jahr den Weg.


Zurück zu Lenin

Auch die Rolle der Kommunistischen Partei war Gegenstand der Debatten des VI. Parteitages, wenn es auch der bereits erwähnten Konferenz im nächsten Jahr vorbehalten bleiben wird, hier eine tiefere Analyse zu treffen. Die sich vor allem im Bericht von Raúl Castro abzeichnende Tendenz ist, die Parteikader von den administrativen Wirtschafts- und Staatsfunktionen zu entlasten. Die Macht der Partei beruht auf ihrer moralischen Autorität, im Gegensatz zur materiellen Autorität des Staates, so der Vorsitzende in seiner Ansprache. Die ureigene Aufgabe der Partei sei es, der Entwicklung der Nation voranzuschreiten und die Interessen der Bevölkerung frühzeitig zu erkennen und ihre Umsetzung anzuleiten. Staat und Partei müssten "endgültig" deutlich voneinander getrennt werden, nicht um die Partei zu schwächen, sondern im Gegenteil, um ihre Avantgarderolle zu stärken, so der Parteichef. Es existierten von Lenin eindeutig abgegrenzte Konzepte hierzu, auf welche in stärkerem Maße als bisher zurückzukommen sei - stets in Anpassung an die spezifischen Erfahrungen der kubanischen Revolution. Es gebe verkrustete Erscheinungen im Innenleben der PCC, so Castro, die einer Organisation mit Avantgardefunktion nicht anstünden. In diesem Zusammenhang nannte er die Oberflächlichkeit und den Formalismus in der politisch-ideologischen Arbeit. Die Partei müsse selbstkritisch ihre alten Gewohnheiten überprüfen, die oftmals eine politische Apathie der Genossinnen und Genossen an der Basis hervorriefen. Wieder einmal wurde die Fidelsche Weisheit zum Wahlspruch: "Revolution heißt ändern, was zu ändern ist". Das betrifft auch die in die Jahre gekommenen Konzepte von Agitation und Propaganda, die durch kreativere, kritischere und ansprechendere Formen aufgefrischt werden sollen.

Der Parteitag erteilte der Nationalen Konferenz die Autorität, weitreichende Entscheidungen über die Arbeit der PCC zu treffen und sogar Eingriffe ins Statut vorzunehmen. Wie im Falle des Parteitags soll auch dieser Konferenz ein intensiver Diskussionsprozess an der Basis vorausgehen. Es wird erwartet, dass es zu diesem Datum bereits zu personellen Korrekturen kommen wird. Aussagekräftig war das Eingeständnis des Parteivorsitzenden, es sei eine "Schande" wie wenig Frauen und Afro-Kubaner nach fünfzig Jahren Revolution in den höchsten Parteigremien vertreten seien.


Abkehr vom Sozialismus?

Die in Kuba diskutierten Maßnahmen haben für allerhand Aufregung bei den Freunden des sozialistischen Kuba im Ausland geführt. Dies dürfte wohl daher rühren, dass sie auf die Privatisierung vormals verstaatlichter Bereiche der Wirtschaft und auf die "Entlassung" staatlich Beschäftigter reduziert werden. Man sollte aber nicht übersehen, dass diese Umstrukturierungen Teil einer Gesamtstrategie sind, die eine Erhöhung der Effizienz der Produktion anstrebt. Und Raúl Castro hat natürlich völlig recht, wenn er darauf hinweist, dass im Sozialismus nur die Güter verteilt werden können, die vorher auch produziert wurden.

Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt. Die diskutierten Anpassungen sind weitgehend, stellen aber keine vollkommen neue Praxis dar. Die kubanische Revolution hat seit ihrem Beginn Korrekturen an der Form ihrer gesellschaftlichen Produktion vornehmen müssen und es ist nicht bekannt, dass der Sozialismus bislang an ihnen zugrunde gegangen wäre.(7) Es sei daran erinnert, dass für Marx, Engels und Lenin die fortschrittlichste Eigentumsform jene war, die zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Bedingungen die weitestgehende Entwicklung der Produktivkräfte und des gesellschaftlichen Wirkungsgrades der Produktion bedeutete. Auf dem VI. Parteitag wurde wiederholt erklärt, die relevanten Produktionsmittel des Landes würden niemals in private Hand übergehen und ebensowenig würde die Konzentration von Kapital bei Kleinunternehmern zugelassen. Es scheint wenig plausibel, warum Kuba unter diesen Umständen morgen weniger sozialistisch sein soll, weil ab heute der Friseur um die Ecke mit privater Schere seinem Handwerk nachgehen darf.


Schluss

Die kubanische sozialistische Revolution ist ein Akt, dessen erster Zweck die Existenz von Kuba selbst ist - nämlich als souveräne und freie Nation. Wenn der VI. Parteitag genau am Jahrestag der Schweinebuchtinvasion abgehalten wurde, dann auch um zu verdeutlichen, dass Kuba die Schlacht um sein höchstes Gut, die nationale Handlungsfähigkeit, alleine wird zu schlagen haben. Wenn sich die Führung der KP Kubas im vergangenen halben Jahrhundert durch eines ausgezeichnet hat, dann ist es ein genaues Gespür für die Gefahren und Möglichkeiten, die der historische Augenblick birgt. Warum sollte man ihnen ausgerechnet in diesem schwierigen Moment das Vertrauen entziehen?

Die Gegner und leider auch einige Freunde Kubas sehen in ihrer Aufgeregtheit über die vermeintliche Auflösung des kubanischen Sozialismus nicht, dass es sich bei den aktuellen Debatten in ihrer Essenz um einen Prozess von Selbstkritik und Korrektur handelt. Sie sind insofern ein Ausdruck von Souveränität und unterscheiden sich von der finalen Selbstabwicklung der sozialistischen Staaten Osteuropas.

Die kubanischen Genossinnen und Genossen wissen aus fünfzig Jahren revolutionärer Praxis, dass kommunistische Theorie und Praxis eine andere Bedeutung bekommen, wenn jeder Fehler mit dem Verlust alles Erkämpften bestraft werden kann. Andererseits haben sie auch erfahren, dass ein historisch bestimmtes Handeln eine drohende Niederlage in einen scheinbar nicht absehbaren Triumph verwandeln kann. Man denke nur an der Versuch der Zerschlagung der Revolution in der Schweinebucht, der mit ihrer Verwandlung in einen sozialistischen Prozess endete.


Tobias Kriele, Havanna Student



Anmerkungen:

(1) Evelio Vilareño weist darauf hin, dass zwischen 1986 und 1990 400.000 zusätzliche Beschäftigte eingestellt wurden, ohne dass dies eine Erhöhung der Produktion zur Folge gehabt hätte. Vilareño (1997). Cuba. Reforma y Modernización Socialistas. La Habana: Ciencias Sociales, Seiten 32-33

(2) Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, Wirtschaftsunion der mit der Sowjetunion verbundenen realsozialistischen Staaten.

(3)Quelle: Projekt Leitlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Vorfeld des VI. Parteitags der PCC vom 1.11.2010. Auch andere externe Einflüsse belasten die kubanische Wirtschaft. Naturphänomene wie Hurrikans und Dürreperioden verursachten zwischen 1998 und 2008 Verluste in Höhe von 22 Mrd. Dollar, immerhin ein Fünftel des Staatshaushaltes. Preisschwankungen auf dem Weltmarkt zwischen 1997 und 2009 schwächten die Kaufkraft der von Kuba exportierten Güter um 15 %.Quelle: Granma vom 15.11.2010

(4) So importiert, um nur ein Beispiel zu nennen, das Kaffeeland Kuba jährlich für umgerechnet 47 Mio. US-Dollar Arabico, um diesen dann subventioniert über die Lebensmittelhefte an die Bevölkerung zu verteilen.Quelle: Granma vom 20.10.2010

(5) Bis Ende 2010 hatten sich bereits 200.000 Minibetriebe in die Steuerlisten eingetragen.Quelle: Granma vom 17.04.2011

(6) Der Bericht an den VI. Parteitag wurde u. a. in der Zeitung Granma vom 17.04.2011 veröffentlicht.

(7) So wurde auf dem I. Parteitag nachträglich die wirtschaftliche Rechnungsführung als Element der Planwirtschaft eingeführt. Ab der 2. Hälfte der siebziger Jahre wurden Kooperativen von Kleinbauern in der Landwirtschaft zugelassen. Auf dem III. Parteitag 1986 wurde ein Programm "zur Korrektur voluntaristischen und ineffektiven Wirtschaftens" beschlossen, auf dem IV. Parteitag 1992 die Zulassung von ausländischen Investitionen in Form von Joint Ventures besiegelt. In der Landwirtschaft bestanden seit den Anfangsjahren der Revolution privatwirtschaftliche Nischen, seit den siebziger Jahren existiert die Mischform der Kooperativen. Mitte der achtziger Jahre gab es geschätzte 100.000 Kleinunternehmer in Kuba. Im Jahr 2000 waren es doppelt so viele. Seit 1995 wird Agrarland an Einzelpersonen ausgegeben, im Jahr 2002 wurde die Zuckerindustrie rationalisiert und fast die Hälfte der Produktionsstätten geschlossen. All diese hier nur beispielhaft genannten widersprüchlichen Maßnahmen wurden zur Stabilisierung der Revolution getroffen.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-11, 49. Jahrgang, S. 21-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2011