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MARXISTISCHE BLÄTTER/492: 22. Juni 1941, Überfall auf die Sowjetunion


Marxistische Blätter Heft 4-11

22. Juni 1941, Überfall auf die Sowjetunion

Von Klaus Wagener


Wenn sich der Russe erst einmal zur Verteidigung eingerichtet hat, ist es schwer ihn wieder zu werfen."[1]


Der 22. Juni 1941 ist ein Datum mit Erklärungsbedarf. Es verweist, wie kaum ein zweites, auf das beispiellose, antihumane Potential des Imperialismus. Allenfalls vergleichbar mit dem 28. Juli 1914 (Beginn WK I) oder dem 6. August 1945 (Hiroshima). Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Faschismus einen in Umfang und Radikalität beispiellosen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug. Von vornherein war die "Entfernung" von rund 50 Mio. Bürgern der besetzten europäischen Gebiete durch Hunger, Arbeit, Vertreibung und Massenmord eingeplant. Die Sowjetbürger wurden praktisch für "vogelfrei" erklärt und einen generellen Mordbefehl gab es für alle kommunistischen Funktionäre, speziell Kommissare der Roten Armee. Als das Blitzkriegskonzept Anfang Dezember 1941 vor Moskau scheiterte kam die Entscheidung zur so genannten "Endlösung der Judenfrage" hinzu. Der systematisch-industrielle Massenmord an Menschen, die zuvor als "Juden" ausgegrenzt worden waren, begann. Ab Mitte 1942 begann in Auschwitz-Birkenau die massenhafte Ermordung der herantransportierten Menschen. Außer jenen, die zuvor noch zur Zwangsarbeit für die I.G.-Farben in Monowitz bestimmt wurden.

Trotz der radikalen Aufkündigung aller Humanität, der Konzentration großer Teile des ökonomischen Potentials fast ganz Europas sowie der schlagkräftigsten Divisionen der deutschen Wehrmacht und ihrer Vasallen schlug dieser Feldzug fehl. Als in der Nacht zum 1. Mai 1945 der Rotarmist Michail Petrowitsch Minin die rote Fahne mit Hammer und Sichel auf dem Reichstag hisste, waren 27 Mio. Sowjetbürger tot, 2,7 Mio. deutsche Soldaten gefallen. Zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert hatte der deutsche Imperialismus seine Europa- und Weltmachtpläne mit Hilfe eines großen Eroberungskriegs durchzusetzen versucht. Diesmal noch radikaler, noch rücksichtsloser, noch inhumaner... . Und verloren. Noch katastrophaler. Ein beispielloses Verbrechen, das in einer beispiellosen Niederlage endete. Das bedurfte nach der Restauration der alten Herrschaft in der BRD der Erklärung. Und es bedarf ihrer auch und gerade heute. In einem zurückeroberten Deutschland. Als dominante, ökonomische Macht in einer durch die Finanzkrise mehr und mehr in Abhängigkeit geratenen EU/Eurozone. Was am 8. Mai 1945 gescheitert war, sollte nun mit politischen und ökonomischen Hebeln in einem neoliberal entgrenzten und währungspolitisch vereinigten, besser wehrlos gemachten Zentraleuropa zumindest teilweise gelingen. Wie jedes imperialistische Projekt mit wachsenden Widersprüchen und einem steigenden Bedarf an Legitimationsideologie. Auschwitz und Stalingrad bleiben ein Stigma, eine Herausforderung und ein Rammbock zugleich für die aktuelle Herrschaftslegitimation.


Lebensraum im Osten

Die Ostexpansion ist, entgegen dem üblichen Erzähl-Muster, natürlich keine Erfindung von Adolf Hitler. "Es folgt also, dass Russisch-Polen im Osten, und zwar über die Weichsel hinaus bis an die Pinsker Sümpfe, Elsass und das gesamte Lothringen östlich von Argonnen zu Deutschland zu ziehen sein wird"[2], forderte Paul de Lagarde schon im November 1853 in einem Vortrag "Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik". Zu diesem Zeitpunkt verfügte der Partikularismus des Deutschen Bundes dazu weder über die Macht noch die Mittel. 1885, nach der Reichseinigung durch den preußischen Militärstiefel und dem durch französische Kriegskontribution finanzierten Gründerboom, sah die Sache schon anders aus: "Wenn Russland und Frankreich uns zwingen, im Harnisch in der Sonne zu stehen, während wir in der wollenen Jacke hinter dem Pfluge schreiten oder in der Werkstatt arbeiten wollen, wenn Russland uns weigert, für Geld und gute Worte unsere und Österreichs Grenzen in der Richtung auf Kleinasien vorzuschieben, so werden wir darauf denken uns selbst zu helfen, aber dann so gründlich, dass es auf lange vorhält."[3] Lagardes rassistisch-antisemitischer sowie pangermanistisch unterlegter Ost-Expansionismus gewann (vor dem Hintergrund der britisch-französischen Dominanz bei der "Aufteilung der Welt") zunehmend an Akzeptanz. Mit dem 1890/91 gegründeten Alldeutschen Verband (Alfred Hugenberg, Emil Kirdorf) verfügte "Der alte Drang nach Osten" bald auch über eine der einflussreichsten und mächtigsten Pressure-Groups des Reiches.

Die ökonomisch-militärischen Erfolge steigern die Ansprüche. August Thyssen beispielsweise fordert im Hochgefühl der Anfangssiege September 1914 in einer Kriegsdenkschrift in Bezug auf den Osten (die Forderungen in Bezug auf Belgien/Frankreich und auf die Kolonien Kongo, Marokko waren nicht weniger anmaßend): "Russland muss uns die Ostseeprovinzen, vielleicht Teile von Polen und Donezgebiet mit Odessa, der Krim, sowie asowisches Gebiet und den Kaukasus abtreten, um auf dem Landwege Kleinasien und Persien zu erreichen (...) Dennoch werden wir nur dann eine Weltmachtstellung erreichen können, wenn wir jetzt nach dem Kaukasus und Kleinasien kommen, um England in Ägypten und Indien, wenn erforderlich, erreichen zu können."[4]

Entscheidend für Thyssen: "Deutschlands schärfster Gegner wird nach wie vor England bleiben, das mit seinen hervorragend aufnahmefähigen Kolonien das größte und mächtigste Wirtschaftsgebilde der Welt ist."[5] Daraus folgt für ihn: "Für das neue größere Deutschland wird sich daher die Notwendigkeit ergeben, für neue aufnahmefähige Absatzgebiete Sorge zu tragen (...) Diese gewaltige Aufgabe kann meines Erachtens aber mit Aussicht auf Erfolg nur durch die Bildung eines großen mitteleuropäischen Zollvereins gelöst werden, der Deutschland mit seinen neuen Gebieten sowie Holland, Frankreich, Dänemark, die Schweiz, Österreich, Ungarn und die Balkanstaaten umfasst."[6] Klar ist für Thyssen auch, dass sich dieses Ziel "nicht ohne die Anwendung von Zwang erreichen lassen"[7] wird. Klar auch, "dass der neue Zollverein eine starke, der englischen zumindest ebenbürtige, wenn nicht sogar überlegene Flotte unter keinen Umständen entbehren kann."[8]

In der Thyssen-Denkschrift ist der deutsche Expansionismus auf seinen rationalen Kern gebracht. Jenseits des romantisch-germanophilen Blut-und-Boden-Gesülzes und des kruden wie militanten Rassismus der Alldeutschen. Für ihn geht es um Erz, Kohle, Eisenbahn, Handelswege, Absatzgebiete, Armeen, Flotten, Machtpositionen, Einflussgebiete. Das nüchtern ökonomisch-machtpolitische Kalkül des Großindustriellen. Geopolitik, lange bevor Karl Haushofer den Begriff in den 192Oer Jahren popularisierte.


Der Angriff auf die Ölfelder

Der "Generalplan Ost" wie auch der "Generalsiedlungsplan" nahm die alten Zielsetzungen in ihrer Blut-und-Boden-Form wieder auf, begleitet von den "Hyänen des Schlachtfeldes", I.G. Farben, Siemens, Krupp etc., und er schob sie auf die "Barbarossa"-Line Archangelsk-Astrachan, möglicherweise auf den Ural, vor. Vom "Reichskommissariat Kaukasien" hätte sich, bei einem Erfolg des Afrika-Feldzuges (1. September 1941 - 22. Februar 1943), eine Art Zangenangriff über Land auf die Ölgebiete des Mittleren Ostens vortragen lassen. Das Gebiet, das schon von Thyssen 1914 (wie von Brzezinski 1997) als Schlüssel zur Weltmacht verstanden wurde. "Wir kämpfen für Öl und Eisen, für wogende Weizenfelder, das regt unsere Soldaten an, und dafür fallen sie. Glaube doch keiner, dass wir Deutsche plötzlich von einer neuen Moral erfasst sind. Nein, wir wollen uns erst mal gesundstoßen."[9]. Die eigentlichen Prioritäten, die Einnahme der Ölfelder des Kaukasus, machte 1942 der "Fall Blau", die Offensive in der Südrichtung klar. Durch ihr Scheitern in Stalingrad 1942/43 wurde der "Generalplan Ost zweitrangig", durch die Niederlage am Kursker Bogen 1943 schließlich obsolet.

Die "Vernichtung des Bolschewismus" war gescheitert. Und damit die für diesen Dienst am Weltkapital signalisierte "freie Hand im Osten". Nach Moskau und Pearl Harbour Dezember 1941 erscheint die Bedrohung der anglo-amerikanischen Interessen 1942 hinreichend groß und das Konzept der Zerschlagung der SU hinreichend unwahrscheinlich, dass ein allmählicher Schwenk in der bisherigen Zuhälterpolitik gegenüber Deutschland und der Blockadepolitik gegenüber der SU geboten erschien. Die Anti-Hitler-Koalition wurde geboren, in der, nach Valentin Falin, die USA die Rolle des Kapitäns, GB die des Lotsen und die russische Bevölkerung die der Galeerensklaven einnehmen sollte.[10]

Die Unvermeidlichkeit eines großen Krieges war für die junge SU im Grunde schon klar, als am 7. April 1919 die letzten Invasionstruppen in Odessa an Bord gingen. Der Imperialismus würde sich mit der Existenz einer Systemalternative nicht abfinden. Sollte sich die SU stabilisieren können, würde, nach dem großen Aufräumen nach dem I. WK, der sozialistische Staat erneut ins Fadenkreuz rücken. Das Massaker in Shanghai 1927, der spanische Bürgerkrieg und die japanische Invasion in die Mandschurei/China hatten einen Vorgeschmack gegeben. In einem militant antisowjetischen Umfeld kam es darauf an, den Angriff bis zur Erreichung von Industrialisierung und Verteidigungsfähigkeit hinauszuzögern.


Deutungshoheit

Am Ende des Zweiten Weltkrieges vollzog der von den USA geführte Block der Westalliierten erwartungsgemäß die strategische Volte rückwärts. Aus "Uncle Joe" wurde der GuLag-Diktator. Mit dem Bombenabwurf auf Hiroshima kündigte sich die Wende an. Die Hegemonialposition der USA war unangreifbar. Die Achsenmächte, ebenso wie England und Frankreich, waren bereit ihre Vasallenstellung anzuerkennen. Im Interesse einer raschen (Rück-)Integration dieser Staaten in den nun US-geführten antisowjetischen Block, der dort weiterzumachen gedachte, wo er 1919 aufgehört hatte, musste die Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen, ihrer Hintergründe und Motive nach einer gewissen Schamfrist schnellstmöglich abgeräumt werden. Damit kam für die Führungseliten des deutschen Faschismus die Einladung zum Comeback. Der Artikel 131 GG, der NS-Verfolgten die Wiedereinstellung ermöglichen sollte, wurde zur Freitreppe, der nun massenhaft mittels Persilschein umgetauften "Mitläufer" in den BRD-Apparat. Die Persilscheine stellten auch führende Nazis wie der Leiter des RSHA-Amtes I, Heydrichs Org.- und Ideologie-Chef, SS-Obergruppenführer Werner Best, gleich selber zu Hunderten aus. Best war nach dem Krieg in der Essener Kanzlei des ehemaligen Pariser Botschaftsattachés Ernst Achenbach, verantwortlich für Judendeportationen, untergekommen.

Die Aufgabe hieß somit: Entnazifizierung durch die Nazis. Überwindung des Faschismus durch Demontage des Überflüssigen - der Hakenkreuze und des offenen Antisemitismus und des ohnehin toten Adolf Hitler. Wer wäre für diese Propagandaaktion geeigneter als die Propagandisten der Nazis selbst. Neben vielen anderen[11] gelang dem Chefpropagandisten Ribbentrops, Paul Karl Schmidt (alias Paul Karell oder Carell), der Einstieg in die Spalten und Redaktionen der deutschen "Qualitätspresse" wie Zeit, Spiegel, Kristall, WamS. Als Paul Carell sollte er beim Spiegel mit Ressortleiter "Ausland", SS-Hauptsturmführer Horst Mahnke, Chef des "Vorkommandos Moskau" der SS-Einsatzgruppe B, alias Klostermann, die Darstellung des II. WK nachhaltig prägen. Mahnke steuerte als Assistent von SS-Brigadeführer Franz Six, Leiter des RSHA-Amtes II, Gegnerforschung, die entsprechende ideologische Festigkeit bei. (Six, natürlich ebenfalls Nachkriegskarriere: FDP, Geschäftsführer des C.W. Leske Verlages, Verleger von Augstein, Buchautor, Werbechef von Porsche Diesel, Dozent an der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft etc.) "Carell hat dieses erschütternde Kapitel jüngster Kriegsgeschichte mit dem ihm eigenen Stil, mit der heißen Feder des exzellenten Schreibers und dem kühlen Verstand des Historikers geschrieben. Sein Werk kann sich getrost der härtesten Kritik stellen", befand die Westdeutsche Rundschau zu seinem Buch "Verbrannte Erde". Und nicht nur sie, Bücher wie "Die Wüstenfüchse", "Stalingrad", "Unternehmen Barbarossa", "Die Gefangenen. Leben und Überleben deutscher Soldaten hinter Stacheldraht", etc. erreichten Millionenauflagen. Für Carell gab es den sauberen, anständigen Krieg der Wehrmacht. Es gab Kameradschaftlichkeit und Heldentum, das arme Frontschwein, natürlich Verrat und bisweilen Fehler des Führers. "Ach, Führer, wenn du wüsstest!"[12] Fanatismus und Grausamkeit hatte der "Iwan" gepachtet. Was es nicht gab, waren die Leiden der Sowjetbürger und die Interessen des deutschen Finanzkapitals.


Der Präventivkrieg

Wie schon für Goebbels stellt sich auch für Carell die Aufgabe aus der Eroberung Europas einen Verteidigungskrieg werden zu lassen. Dazu muss Stalin mit der entsprechenden demagogischen Potenz ausgestattet werden, die es ihm ermöglicht, von den Westmächten und Polen nicht durchschaut, die kapitalistischen Staaten gegeneinander zu manövrieren. Eine These, die aktuell auch vom Bundeswehrhochschuldozenten Christian Hartmann in der Süddeutschen Zeitung vorgetragen wurde. "SZ: Die Politik der Sowjetunion war allerdings expansiv. Hartmann: Sicher: Stalin spekulierte wohl darauf, dass Deutschland und die Westmächte in einen Abnutzungskrieg geraten, wie im Ersten Weltkrieg - und der Kreml dann langsam den militärisch-politischen Druck erhöhen könnte."[13]

Der Historiker und Pädagoge Wigbert Benz hat die wesentlichen Thesen Carells zusammengefasst[14]:

• Der Krieg der Wehrmacht wäre präventiv und personifiziert: Hitler wollte Stalin zuvorkommen.
• Es handelt sich um einen europäischen Abwehrkampf gegen die bolschewistische Bedrohung.
• Fehler Hitlers, Spionage und Stalins unerkannt gebliebene materielle Überlegenheit hätten zur Niederlage geführt.

Ihre besondere Durchschlagskraft bezog diese Darstellung aus der reißerisch-"Landser"-haften Sprache und der teilnehmenden Perspektive des deutschen Täters. Carell versuchte den Leser emotional in den deutschen Schützengraben und hinter das MG 42 zu zerren. Bei nicht wenigen der Millionen alten Kameraden dürfte das auch gelungen sein.

Vor allem die schon von Hitler ausgegebene und von Carell aufgewärmte Präventivkriegsthese vor der "asiatischen Bedrohung" passte zu den Hoch- und Totrüstungsplänen ("Doppelbeschluss") der Nato. Sie wurde folglich Mitte der 1980er Jahre von Historikern wie Joachim Hoffmann, Ernst Nolte, dem Überläufer Viktor Suworow und FAZ-Redakteur Günther Gillessen neu belebt. Und gehört seither (Werner Maser, Heinz-Horst Margenheimer), unbeschadet ihrer Stichhaltigkeit, zum Standardrepertoire.


Glaubenskrieger

Faktisch lässt sich dafür wenig finden. Die Rote Armee war, wie sich zeigte, technisch als auch operativ zu einem hinlänglich erfolgversprechenden Angriff auf die seinerzeit größte Militärmaschine der Welt nicht in der Lage. Noch lassen sich die Planungen des deutschen Generalstabs seit Mitte der 1920er Jahre, konkret ab Juni 1940, vom Tisch wischen. Daher verlegen sich die Autoren mehr auf Glauben und Ideologie. Der "Weltanschauungskrieg"[15] macht beide per se zu Tätern.

Für die anspruchsvollere Debatte zäumten die Totalitarismustheoretiker der 1960/70er Jahre (Hannah Arendt, Carl Joachim Friedrich, Zbigniew Brzezinski) ein altes Pferd einfach andersherum auf. Die Totalitarismustheorie war in Italien Anfang der 1920er Jahre mit liberal-antifaschistischer Stoßrichtung unter dem Eindruck der Machtübertragung an die Faschisten entstanden. Und naturgemäß schwach geblieben. Nach dem Krieg bot die Totalitarismustheorie nun die Möglichkeit, die immer interessanter erscheinende sozialistische Perspektive mit der Barbarei der eigenen Vergangenheit zu kontaminieren. Damit wurde so etwas wie eine gesellschaftstheoretische Fundierung des "Ideologie- oder Glaubenskrieges" für jene angeboten, denen der Hunnensturm aus dem Osten als etwas gewagte These erschien. 2011 ist so viel Aufwand eher störend. Der Krieg wird eine Sache unter feindlichen Brüdern, "verblendet von Utopien, die ohne den Massenmord an Millionen nicht denkbar waren".[16] Personifiziert in den Diktatoren Hitler und Stalin: "Das blutige Finale im Verhältnis zweier Jahrhundertverbrecher (...) Brüder im Geiste. Der eine mordete für die Rasse, der andere für die Klasse."[17] Ein Morden, mit dem die Kommunisten zwar sehr viel, man selber aber nichts zu tun hatte. Konsequenterweise zahlt die Bundesregierung auch für die zu Zwangsarbeit gezwungenen, verhungerten oder ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen keine Entschädigung[18] und baut ihnen keine Stelenfelder. Das gehört, anders als der Judenmord, nicht zur Abteilung Demontage disfunktionaler Altlasten.


"Abgehört"

Während des II. WK hatten Briten und US-Amerikaner in ihren Verhörzentren etwa 13.000 deutsche Kriegsgefangene systematisch verdeckt abgehört. Nun freigegeben, konnte der Historiker Sönke Neitzel mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer die verschrifteten Protokolle auswerten und die Ergebnisse in dem Buch "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben"[19] publizieren. Die Ergebnisse geben, bei allen notwendigen Relativierungen, einen ernüchternden Einblick in die psychologisch-weltanschaulichen Antriebsmuster der Soldaten, wie auch über die Mentalitätsstruktur der Nachkriegsgesellschaft. Sie zeigen wie Adenauer und der Kalte Krieg möglich wurden. Sie zeigen auch, dass das Wissen um die Vernichtungsaktionen der Einsatzgruppen allgemein verbreitet war.[20] Und, dass dieses Wissen, ebenso wie das Wissen um die Grausamkeiten des Krieges allgemein, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt so etwas wie Bedauern oder gar Reue auslöste.[21] Es sei denn als Angst vor Rache, die sowohl wichtiger Teil der Durchhaltemotivation (neben dem Standgericht) wie auch der Nachkriegstopoi war. In der Spiegelung des eigenen Handelns bekam das Feindbild des primitiv-gewalttätigen, frauenvergewaltigenden Russen seine hohe Plausibilität und ermöglichte seine Stabilisierung über das Kriegsende hinaus. Vor dem Hintergrund der "Wehrmachts-Ausstellung" hätte die Figur der sauberen Wehrmacht eigentlich kaum noch Chancen.

Trotzdem hat sich auch dieser Topos erhalten. Auch wenn nicht jeder Artikel zum 22. Juni im Carellschen "Landser"-Stil daherkommt. Eingeräumt werden muss mittlerweile, wie in der Rheinischen Post, ein "Vernichtungskrieg ist Hitlers Ostfeldzug vom ersten Tag an".[22] Aber es war eben Hitlers Ostfeldzug. "Selbst Divisionskommandeur Erlencamp verliert jetzt (1941, vor Moskau. KW) die Nerven und schimpft vor versammelter Mannschaft auf Hitler: 'Der Mann hat uns verraten, keiner von uns wird mehr lebendig aus dem Sauland herauskommen!'"[23] Also "der Mann" war's. (Was den Generalmajor und seine Kollegen nicht daran hindert, diesem "Verräter" in Treue das Leben "seiner" Soldaten zu opfern. Von dem der ermordeten Sowjetbürger nicht zu reden. Weitere dreieinhalb Jahre.) Dass der Krieg nicht zu gewinnen gewesen sei, sei "auch 1941 kein Geheimnis"[24] gewesen. Neun Jahre zuvor habe "der Chef der deutschen Heeresleitung, Kurt von Hammerstein-Equord, festgestellt, die Sowjets könnten sich bis zum Ural zurückfallen lassen (...) Sie brauchen sich nur zurückzuziehen; dann kann kein Gegner sie besiegen."[25] Das war allerdings 1932. Vor der Wiederaufrüstung. 1941, nachdem beinahe ganz West- und Mitteleuropa im faschistischen Machtbereich lag, war die Stimmung im OKW radikal anders. Und Hammerstein längst isoliert.


Hitler und Stalin

Interessanterweise sind es die beiden großen Nachrichtenmagazine (Fakten, Fakten Fakten) die den Krieg der "Zwillingsdämonen des 20. Jahrhunderts" und der "todbringenden Ideologien"[26] am lautstärksten feiern. "Kein anderer Feldzug Hitlers war ideologisch so aufgeladen. Der Führer wollte Lebensraum im Osten erobern, er wollte Judentum und Bolschewismus ausrotten (...) Viele Millionen Menschenleben wurden geopfert, die Brutalität der Wehrmacht rächte die Rote Armee."[27] Stalin "hätte es lieber gesehen, Deutschland verzettle sich zunächst in Kriegen mit den westlichen Staaten", zitiert Focus den britischen Militärhistoriker Richard Overy, der offenbar Chamberlain und Daladier retten und die nächste Erzählung präsentieren möchte: "... zudem habe er einen Nichtangriffspakt mit Deutschland eher befürwortet, als gemeinsame Sache mit Großbritannien und Frankreich zu machen."[28] Die Haltung der Appeasement-Politiker war allerdings in Abessinien 1935, Spanien 1936/39, in München 1938, Österreich 1938, bei der Zerschlagung der "Rest-Tschechei" 15./16.3. 1939 und in den Garantien für Polen 31.3.1939 klar zutage getreten. Nicht anders war ihre Haltung zu dem von der SU im März 1938 vorgeschlagenen Beistandspakt. Die Blockade hielt bis Ende 1941.

März 1939 waren dem Anti-Komiintern-Pakt (Deutschland, Japan, Italien) auch Mandschukuo, Spanien und Ungarn beigetreten. 1941 folgten Rumänien, Finnland, Kroatien, Slowakei, Bulgarien, das besetzte Dänemark, Nanking-China und die Philippinen. Die Schlacht am Chalchin Gol im Sommer 1939 zeigte die drastische Gefahr eines Zwei- oder Mehrfrontenkrieges. Gleichzeitig wuchs mit dem Wilson-Angebot 18.7.1939 die Gefahr eines deutsch-britischen Bündnisses. Hier lassen sich unschwer die Gründe für den "deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt" vom 24. August 1939 und des "deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages" vom 28. September 1939 ausmachen.

Das Foto zeigt einen düster blickenden Josef Stalin, breit, sitzend, im Militärmantel, harte Kontraste, die Uniformmütze verschattet die Augen. Der Titel in großen Lettern quer auf seiner Brust: "Bestie und Unmensch".[29] In alter Tradition lässt sich der Spiegel die Spitzenposition bei journalistischen Kommandoaktionen nicht nehmen. Auch formal hat das Blatt die klassische Ikonographie reanimiert: "Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau - CDU" (1953). Die Ausgabe 10/2007 hob die Grafik, mit dem Gesicht Wladimir Putins versehen, auf den Titel. Weitere mehr. Für Spiegel-Redakteur Klaus Wiegrefe ist der Krieg, wie zu besten Carell-Zeiten, "das Duell zweier Despoten, die sich seit 1923 (!) belauert haben: Hitler und Stalin."[30] Und natürlich: "Zwischendurch kollaborierten diese monströsen Massenmörder gegen die Westmächte. Als Komplizen fielen sie 1939 über Osteuropa her und teilten sich ihre Beute. "[31] Weiter unten bestätigt Wiegrefe ungewollt ein Kalkül der sowjetischen Führung (das Diktat von Brest-Litowsk einmal unbeachtet): Hitler habe somit die Strecke nach Moskau, die seine Wehrmacht zurücklegen muss, um 200 Kilometer verlängert. "Das rettete wohl die sowjetische Hauptstadt."[32]

"Adolf Hitler und Josef Stalin, das war: Österreicher gegen Georgier, Postkartenmaler gegen Bankräuber, Hasardeur gegen Realpolitiker, Rassist gegen Kommunist. Paranoiker waren beide. Der eine fürchtete die jüdische Weltverschwörung, der andere den allmächtigen Klassenfeind."[33] Wiegrefe wendet fast vier Spiegel-Seiten Biographie auf, um die Fokussierung des Blicks "auf das Verhältnis der beiden Diktatoren"[34] plausibel zu machen.

In dieser Sicht "liegt im Sommer 1939 das Schicksal Europas in der Hand des Georgiers."[35] Jetzt nur noch in seiner. Die deutsche Entscheidung über Krieg und Frieden habe davon abgehangen, zitiert Wiegrefe Ernst von Weizsäcker, ob Stalin dem Kreis der Westmächte beitrete. Umgedreht wäre einiges dran. Ein ernsthaftes, antifaschistisches Bündnis dieser drei Mächte hätte sicher für Ernüchterung in Berlin gesorgt. Nur war daran, aus naheliegenden Gründen, zwar Moskau, aber, in Verkennung der eigenen Gefährdung, weder London noch Paris interessiert. Bei Wiegrefe wird daraus: Die Westmächte hätten Stalin nicht viel bieten können. Die Junta in Warschau habe der Roten Armee das Betreten des Landes verboten. "Hitler dagegen offerierte Stalin die Hälfte Europas." So werden die zum Abschuss Freigegebenen zu den eigentlichen Tätern. Die Fixierung auf die "Zwillingsdämonen" erlaubt die objektiven Interessenslagen, langfristigen Strategien und Taktiken auszublenden und jeder Maßnahme beliebige eigensüchtige Motive zu unterschieben. So habe Stalin Getreide und Rohstoffe geliefert, und damit die Seeblockade entwertet, "eine der schärfsten britischen Waffen".[36] Das US-amerikanische "Trading with the enemy"[37] spielt natürlich keine Rolle. Und es darf auch ein bisschen Landser-Romantik nicht fehlen: "Es fehlt an Benzin und Munition, so dass Landser schon mal sowjetische T-34-Panzer stoppen, indem sie aufspringen, Dreck auf die Sehschlitze schmieren und mit dem Beil auf den Motor einhacken. Anders geht es nicht."[38] Wiegrefe hat seinen Carell gut gelernt. Beim Spiegel geht es wohl nicht anders.

Der imperialistischen Bewusstseinsindustrie ist es natürlich ein tiefes Bedürfnis, verlorene Kriege, zumindest auf dem Papier oder dem Zelluloid, doch noch zu gewinnen. Das war nach dem I. WK so, dem II. WK, nach Vietnam, und das wird auch nach Irak und Afghanistan so sein. Gleichzeitig geht es um die Gegenwart und Zukunft. Mit dem Monster Stalin steht das Gespenst des Kommunismus ebenso am Pranger wie mit seinem kleinen Wiedergänger Putin der noch geschwächte und schwach zu haltende imperialistische Konkurrent Russland. Rapallo ist tot. Es stehen aber auch alle jene Husseins, Gaddafis, Assads am Pranger, die aktuell den Hitler geben dürfen. Hier muss der neue deutsche Landser schon mal aufspringen und mit dem Beil auf den Motor hacken. Die deutschen (Wirtschafts-)Interessen sind zu verteidigen, am Hindukusch und auch anderswo. Anders geht es nicht.

Klaus Wagener, Dortmund, MB-Redaktion



ANMERKUNGEN

[1] Carell, Paul, Verbrannte Erde. Der Kampf zwischen Wolga und Weichsel. Frankfurt/M, Berlin, Wien. S. 152

[2] Lagarde, Paul de: Gesamtausgabe. Deutsche Schriften. Göttingen 1892. S. 31.

[3] Ebd.: S. 391.

[4] Thyssen, August: Denkschrift. Zit. nach Opitz, Reinhard (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals. Bonn 1994. S. 222. [5] Ebd.: S. 225.

[6] Ebd.: S. 224.

[7] Ebd.: S. 224.

[8] Ebd.: S. 225.

[9] Goebbels, Joseph: Rede in Gotenhafen. 21. Oktober 1942.

[10] Falin, Valentin: Zweite Front. Die Interessenskonflikte der Anti-Hitler-Koalition. München 1995. S. 182.

[11] Vgl. Köhler Otto: Unheimliche Publizisten - Die verdrängte Vergangenheit der Medienmacher. München 1995.

[12] Carell, Paul: Verbrannte Erde. Der Kampf zwischen Wolga und Weichsel. Frankfurt/M, Berlin, Wien. S. 18.

[13] Süddeutsche.de 22.6.2011. Int.: Oliver Das Gupta.

[14] Vgl. Benz, Wigbert: Paul Carell Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt vor und nach 1945. Berlin 2005.

[15] FAZ 21.6.2011.

[16] Wiegrefe, Klaus. Spiegel 24/2011. S. 62.

[17] Ebd.: S. 62.

[18] Vgl. "Die Linke", Kleine Anfrage. BT-Drucksache 17/6156.

[19] Neitzel/Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt a.M.. 2011.

[20] Ebd.: S. 157.

[21] Ebd.: S. 167ff.

[22] Vollmer, Frank. RP-Online. 22.6.2011.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Ebd.

[26] Zeilmann, Kathrin. Focus-online. 22.6.2010.

[27] Ebd.

[28] Ebd.

[29] Wiegrefe, Klaus. Spiegel 24/2011. S. 60.

[30] Ebd.: S. 60.

[31] Ebd.: S. 62.

[32] Ebd.: S. 69.

[33] Ebd.: S. 62.

[34] Ebd.: S. 63.

[35] Ebd.: S. 67.

[36] Ebd.: S. 69.

[37] Vgl. Higham, Charles: Trading with the enemy. An Exposé of the Nazi-American Money Plot 1933-1944. N.Y. 1983.

[38] Wiegrefe, Klaus. Spiegel 24/2011. S. 70.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-11, 49. Jahrgang, S. 79-85
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2011