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MARXISTISCHE BLÄTTER/501: Das falsche Leben im richtigen?


Marxistische Blätter Heft 5-11

Das falsche Leben im richtigen?

von Günter Pohl


In den Leitlinien und den daraus entstandenen Beschlüssen des 6. Parteitags der Kommunistischen Partei Kubas werden Genossenschaften als eine der Möglichkeiten gesehen, nichtstaatliche Arbeit zu organisieren. Grund genug sich mit Genossenschaften zu beschäftigen, die für manche die Lösung zur Bewahrung des kubanischen Sozialismus sind.

Das Genossenschaftswesen in der Welt ist über hundertfünfzig Jahre alt, und seit 1895 gibt es sogar einen internationalen Dachverband. Schaut man auf grundlegende Zielstellungen von Genossenschaften, so wird klar, dass diese zuvorderst an den Interessen ihrer Mitglieder orientiert sind: es gilt gemeinsame wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Interessen abzudecken. Zu diesem Zweck wird entweder eine Unternehmung neu aufgebaut oder umgestaltet. In vielen Fällen ist das eine Produktionsgenossenschaft in der Industrie, im Handwerk oder in der Landwirtschaft, aber es kann sich auch um Konsum-, Handels- oder Kreditgenossenschaften handeln, genauso wie um Wohnungsgenossenschaften oder Transportkooperativen. Weltweit soll es zwischen 700 und 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder geben, die idealtypischer Weise nach diesen sieben Prinzipien organisiert sind: Offenheit für neue Mitglieder, betriebliche Demokratie, wirtschaftliche Teilhabe der Mitglieder, betriebliche Autonomie und Unabhängigkeit, Priorisierung von Erziehung und Information der Mitglieder und der Öffentlichkeit, Kooperationsmechanismen zu anderen Genossenschaften, Verbindung zur sie umgebenden Kommune. Aber in den kapitalistischen Ländern, wo sie überwiegend im landwirtschaftlichen Bereich agieren, sind sie kaum daran orientiert.


Theoretischer Ansatz

Sind Genossenschaften eine Art Zwitter, mit Elementen von Kapitalismus und Sozialismus? Oder lassen sie sich mehr oder weniger eindeutig einer Seite zuordnen? Die Frage kann nur beantworten, wer eine Entscheidung fällt, ob innere Demokratie oder Besitzverhältnisse wichtiger sind. Sie eher dem sozialistischen System zuzuschlagen, läge nahe bei ausschließlicher Betrachtung der innerbetrieblichen Entscheidungsstrukturen; jedoch lässt die Besitzfrage auf eine Form kapitalistischer Produktionsweise schließen, denn die Mitglieder der Genossenschaft sind Privatbesitzer des Betriebs, nur eben mit gleichen Rechten untereinander. In einer kapitalistischen Gesellschaft könnten Kooperativen in der Tat das "richtige Leben im falschen"[1] sein, allerdings selbst dann ausschließlich für ihre Mitglieder - denn die sie umgebende Gesellschaft hat keinen Anteil an diesen genossenschaftlichen Betrieben; und oft auch keinen Nutzen. Das schmerzt im Kapitalismus nicht mehr als andere seiner Realitäten, aber im Sozialismus kann es ein Stachel im Fleisch sein. Besonders wenn sie, wie auf Kuba, auf Kosten staatlicher Betriebe eingeführt werden, dürfte man sie demnach als Rückschritt ansehen. Sie sind dort etwas wie das "falsche Leben im richtigen". Oder - korrekt angewandt - etwa doch nicht?

Lenin jedenfalls sah Genossenschaften als Ort der demokratischen Praxis, wo sozialistische Werte produziert würden, und führte, bezogen auf die Durchsetzung des Sozialismus auf dem Lande, aus: "Die Verfügungsgewalt des Staates über alle großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, das Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen Klein- und Zwergbauern, die Sicherung der Führerstellung dieses Proletariats gegenüber der Bauernschaft (...) ist das nicht alles, was notwendig ist, um die vollendete sozialistische Gesellschaft zu errichten? Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist." Das zur Zeit nach dem Sieg der Revolution. Gleichzeitig warnte er vor der "Träumerei, dass man durch bloßen genossenschaftlichen Zusammenschluss der Bevölkerung die Klassenfeinde in Klassenfreunde und den Klassenkrieg in den Klassenfrieden verwandeln könne", hier bezieht er sich auf die Zeit davor.[2]


Genossenschaften in der Geschichte

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Genossenschaften im Kapitalismus eine Antwort auf die ungelösten Probleme der Versorgung, jedoch auch der mangelnden Mitsprache in Betrieb und Gesellschaft. Genossenschaften sollten wirtschaftliche Demokratie als Hebel für gesellschaftliche Partizipation nutzen können, für manche aber auch einen Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft bereiten helfen. In dem Maße, wie sie jedoch als soziales Gewissen der Ausbeutungsgesellschaften zuerst hingenommen, dann gebraucht und schließlich nötig wurden[3], nahmen in ihnen konsequenterweise die Kräfte überhand, die sich eine sozialistische Gesellschaft nicht real, sondern allenfalls als - Utopie bleibendes - Druckmittel für einen besseren Kapitalismus vorstellen konnten. Aber der bekam kein menschliches Antlitz, weil es in seiner Wirtschaftsweise nicht vorgesehen ist.

Auch die Durchsetzung des Sozialismus zuerst in Russland, dann in Osteuropa und weiten Teilen Asiens verhalf dem Genossenschaftswesen in den verbliebenen kapitalistischen Gesellschaften nicht zu einem Aufschwung nennenswerter Größe - in der als Schaufenster zum Osten genutzten BRD waren vielmehr die Gewerkschaften mit hohen Abschlüssen und Mitsprachezugewinnen Nutznießerinnen ihrer offenkundigen Systemtreue. Dem Sozialismus einen "genossenschaftlich-weichgespülten" Kapitalismus vorzuhalten, war demnach nicht auf der Tagesordnung, schon deshalb, weil damit ein Kalter Krieg nicht zu gewinnen war. So blieben Genossenschaften in der BRD vorwiegend auf überbetriebliche Zusammenschlüsse von Kleinunternehmern wie im Handwerk, im Wohnungsbau und in geringem Umfang auf die Landwirtschaft begrenzt; schaut man auf tatsächliche Produktionsgenossenschaften, überwiegt allerdings die Landwirtschaft. Rein aus Personen eines Betriebs und nicht aus Kleinunternehmern bestehende Genossenschaften waren und sind also wesentlich seltener als z. B. Handels- oder Einkaufsgenossenschaften, die eher ständischen Organisationen wie Innungen oder anderen Berufsverbänden ähneln.

War/ist also im Kapitalismus "das alternative Wirtschaften kein Angebot einer Systemvorstellung einer anderen Ökonomie, sondern zeichnet sich gerade durch die theoretische Analyse des fragmentarischen Charakters des Anderen im Allgemeinen aus"[4], bleibt es also eine Randerscheinung mit vager Perspektive, so war/ist seine Stellung im Sozialismus nicht zuletzt strategischen Überlegungen der Schwierigkeiten bei der revolutionären Umgestaltung geschuldet. Im Gegensatz zu den Genossenschaften in der BRD - wie gesagt sehr häufig allein Vereinigungen von Selbstständigen - waren die Genossenschaften in der DDR Hebel zur Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, das bis dato in den sozialistischen Gesellschaften des RGW in mehr oder weniger großem Maße vorhanden war.

In den sozialistischen Staaten selbst wurden Genossenschaften nach 1945 folglich in umfangreicherem Maße gegründet als in den kapitalistischen. Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften z. B. in der DDR und den anderen sozialistischen Ländern Osteuropas waren einerseits zentraler Pfeiler der sozialistischen Umgestaltung (die Bodenreform durch die Enteignung der Großgrundbesitzer war neben der Übernahme der Industriebetriebe durch den Staat gleichzeitig politisches Projekt und nach außen sinnfälligstes Zeichen der neuen Zeit), andererseits angesichts der kleinen Betriebsgrößen der neu entstandenen Höfe eine Notwendigkeit um wirtschaftlich effektiv produzieren zu können. Auch Modernisierung der Produktion durch Einsatz von Großmaschinen machte eine gemeinschaftliche Nutzung von maschinellen Ressourcen zwingend, weshalb private Bauern in der Regel von einer LPG-Mitgliedschaft überzeugt werden konnten. Im Gegensatz zu den Sowchosen in der Sowjetunion blieb der Boden in den LPG der DDR übrigens rechtlich Besitz des Bauern, der ihn in die Genossenschaft einbrachte; also in etwa eine Entsprechung des Kolchosenmodells der UdSSR.


Kooperativen auf Kuba

Auf Kuba gab es vor der Revolution kaum Genossenschaften, denn - so der am "Studienzentrum kubanischer Wirtschaft" (CEEC) der Universität Havanna lehrende Forscher Armando Nova in einem Beitrag für das neue Buch der ebenfalls an dieser Universität lehrenden Wirtschaftsprofessorin Camila Piñeiro Harnecker über "Kooperativen und Sozialismus"[5] - die 1940er Verfassung sah zwar Unterstützung des Staates für Genossenschaften vor, aber es wurde kein Gesetz formuliert[6], während das Kooperativenwesen in Lateinamerika allgemein, speziell in Argentinien, aber auch in Venezuela, Peru oder Kolumbien zur Mitte des 20. Jahrhunderts bereits mehr oder weniger entwickelt war. Die ersten Jahre der Revolution brachten mit der Bodenreform (in den befreiten Gebieten bereits ab Oktober 1958) radikale Umgestaltungen, im Zuge derer hunderttausend Bauern Land zugesprochen bekamen; 1959 hatten noch 9,3 Prozent der Grundbesitzer 73,3 Prozent des Landes besessen. 1963 wurde der private Besitz an landwirtschaftlicher Fläche auf 67 Hektar begrenzt; der staatliche Anteil am Boden stieg auf über 70 Prozent. Genossenschaften auf Kuba wurden ab 1960 mit den CCS (Kooperativen für Kredit und Dienstleistungen) und 1976 den CPA (Kooperativen landwirtschaftlicher Produktion) gegründet. 1993, angesichts der Sonderperiode, kamen die UBPC (Basiseinheiten genossenschaftlicher Produktion) hinzu. Vorab hier zur Klarstellung: das Kooperativenwesen ist trotz der privaten Besitzverhältnisse nicht zu verwechseln mit dem alten und neuen kubanischen Privatunternehmertum der "Cuentapropistas" (Arbeit auf eigene Rechnung)[7], die in diesem Beitrag nicht, ansonsten aber in vielerlei Medienberichten Thema sind - mit unterschiedlichem, aber meist eher dürftigem Gehalt.

Kuba hat heute fünf Varianten der landwirtschaftlichen Produktion: die staatliche, die private und die drei genannten, unterschiedlich gearteten genossenschaftlichen (CCS, CPA und UBPC). Als sozialistisches Land baute die Revolution Genossenschaften in ähnlicher Motivation auf wie es in der DDR oder anderen Ländern des RGW geschah, und zwar allein im landwirtschaftlichen Sektor. Aus den ersten Bauernassoziationen wurden zunächst die CCS, in denen die Mehrzahl der organisierten Bauern Privatbesitz in die Genossenschaft einbrachte, als eine historische Notwendigkeit im Rahmen der Bündnispolitik für den sozialistischen Aufbau. In Gesetz 95 über Produktions- und Kredit- und Dienstleistungskooperativen aus dem Jahr 2002 definiert sich das Konzept der CCS so: "Eine CCS ist eine freiwillige Assoziation kleiner Landwirte, die Eigentum oder Nießbrauch an Ländereien oder Produktionsmitteln haben, wie auch über ihre Produktion. Es ist eine landwirtschaftliche Kooperationsform, mit der den Kleinbauern die technische, finanzielle und materielle Hilfe des Staats zur Erhöhung der Produktion sowie zur Kommerzialisierung ausgehandelt und ermöglicht wird. Sie ist eine eigenständige juristische Person und verantwortet ihre Handlungen mit ihrem Vermögen." Aus einer CCS kann sich der Bauer zurückziehen und dabei seine eingebrachten Ländereien und Produktionsmittel wieder mitnehmen. Dann kamen 1976 die CPA, mit der Verabschiedung der revolutionären Verfassung im gleichen Jahr, als höhere Stufe der landwirtschaftlichen Produktion. Im Gegensatz zu den CCS verkauften hier die Bauern ihre Produktionsmittel an die Kooperative und werden zu gemeinsamen Besitzern und Arbeitern. Im erwähnten Gesetz heißt es: "Die Kooperative landwirtschaftlicher Produktion ist eine wirtschaftliche Einheit, die eine erweiterte und effiziente Form der sozialistischen Produktion mit eigenem Vermögen und eine juristische Person ist, gebildet aus dem Land und anderen Gütern, die von den Kleinlandwirten beigetragen wurde, und der sich andere Personen anschließen k önnen, mit dem Ziel einer nachhaltigen landwirtschaftlichen Produktion." Heute geht der Anteil an CPA zurück, da die (mehrheitlich in den CCS organisierten) Privatbauern effektiver produzieren.[8] Grundsätzlich ließ sich um 1990 feststellen, dass CPA und CCS zusammen genommen jedoch deutlich rentabler arbeiteten als die staatlichen Großbetriebe.[9] Schließlich wurden mit der Sonderperiode neuerlich aus politischen Erwägungen, aber damit zusammenhängend im Kontext der Versorgungslage, im September 1993 die UBPC gegründet. Mittels Gesetz Nr. 142 und Resolution 629 des Wirtschaftsministeriums konvertierte der Staatsrat die Mehrzahl der staatlichen Zuckerrohrfelder in "Basiseinheiten genossenschaftlicher Produktion", womit sie heute auf Flächen bezogen die vorherrschende Form der landwirtschaftlichen Organisierung sind, auch wenn "ein beträchtlicher Anteil der UBPC auf Grund fehlender Autonomie bei Entscheidungen und Vermarktung nicht rentabel ist"[10]. Ihre Konzeption ist "die gemeinsame Produktion, bei ebenfalls gemeinsamem Besitz der Produktionsmittel. Sie nutzen staatliches Land im Nießbrauch und konstituieren sich nach den gesetzlichen Regeln, die im Register der Basiseinheiten genossenschaftlicher Produktion (REUCO) festgelegt sind." Im Beschluss der KP Kubas vom 10. September 1993 sind als Prinzipien "a) die Bindung der Menschen an ihr Land als Stimulans, b) die Selbstversorgung der Mitglieder und ihre bessere Wohnversorgung in kollektiver Anstrengung, c) der rigorose Zusammenhang von Produktion und Einkommen und d) weitgehende Autonomie bei Verwaltung von Ressourcen und Produktion" festgelegt.[11] Ihre Mitglieder waren vordem bei den staatlichen Zuckerunternehmungen angestellt; heute sind aber auch die "Organopónicos" als UBPC organisiert. UBPC können Zeitarbeiter anstellen oder auch Löhne selbst festlegen.[12]

Zwischen 1989 und 1999 stieg der genossenschaftliche Anteil an Nutzung und Besitz der 10,9 Millionen Hektar Landfläche von knapp 16 % (7,8 % CCS, 7,9 % CPA, bei einem staatlichen Anteil von 82 % und 2 % "individuellen", also rein privaten Produzenten) auf 43 % (28 % UBPC, 9 % CCS und 6% CPA; dagegen nur noch 54 % staatlich und 3 Prozent in individuellem Besitz). Bezogen auf die 3,7 Millionen Hektar kultivierten Landes auf Kuba waren es 1999 sogar 70 % (47% UBPC, 13 % CCS, 10 % CPA, bei 24 % staatlichen und 6 % individuellen Produzenten), bei den 6,7 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche waren es 62 % (41 / 12 / 9 gegenüber 33 % Staats- und 5 % Privatanteil.[13] Dabei bewirtschaften die größeren UBPC mehr Land, sind zahlenmäßig aber geringer vertreten: inzwischen gibt es etwa 6 400 Kooperativen (Stand 2009), von denen 3037 CCS, 1078 CPA und 2283 UBPC sind. Nach dem verfügbaren Material der Statsitikbehörden kommt Armando Nova zu der Erkenntnis, dass die CCS mit ihren im Vergleich zu den kollektiven CPA und UBPC stärker privaten Anteilen zusammen mit den verbliebenen Privatbauern heute auf 24 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche 57 Prozent der Lebensmittel produzieren.[14]

Seit 2007 sind die Veränderungen noch weiter gegangen, insbesondere durch die Vergabe von Brachland an Privatbauern und Kooperativen, um so sehr bewusst über den Anreiz in Eigenverantwortung möglicherweise mehr und besser zu produzieren als staatliche Betriebe und damit die Versorgungslage zu verbessern.[15] Die Diskussionen über Kooperativen als Ausweg aus der einen oder anderen Klemme, die derzeit auf Kuba geführt werden, gehen in der Regel genau in diese Richtung. Camila Piñeiro stellt in ihrem Buch die Frage, ob Kooperativen auch in einer Gesellschaft, die sich dem Sozialismus verpflichtet fühlt, ein adäquates Modell sind, und warnt bei der Beurteilung vor vereinfachenden oder absoluten Antworten. In diesem Sinne führt Humberto Miranda, Philosoph an der CITMA in Havanna, in einem Artikel aus, dass "die absolute Verstaatlichung und Bürokratisierung aller wirtschaftlichen Prozesse und des Lebens im Allgemeinen genauso unheilvoll war wie jetzt in mehr Kapitalismus, d. h. im "Cuentapropismo", die Lösung zu sehen, und ebenso wie zu denken, dass Genossenschaften und Selbstverwaltung das einzige mögliche Rezept wären, aus der wirtschaftlichen Patsche zu kommen und die Revolution retten zu können".[16]


Erfahrungen Venezuelas und ihre Anwendbarkeit auf Kuba

Auch wenn die Startbedingungen unterschiedlich sind (Kuba kommt aus dem existierenden Sozialismus, Venezuela befindet sich de facto im real existierenden Kapitalismus), ist für Kuba der Blick auf bereits gemachte Erfahrungen mit "alternativem" bzw "solidarischem Wirtschaften" in Venezuela möglicherweise hilfreich.

Erstens deshalb, weil es sich um ein Land handelt, das nach Aussage seiner Regierung den Sozialismus anstrebt, aber allem Anschein nach dafür einen "weichen Weg" für möglich hält. Radikale Umgestaltungen werden nicht eingeleitet; wenn enteignet wird, dann gegen großzügige Entschädigungen. Andererseits sind bereits viele Elemente des kapitalistischen Systems diskreditiert und Bedingungen für eine Umkehrung der Eigentümerschaft an den Produktionsmitteln wären gegeben - aber es überwiegt nach wie vor die kapitalistische Wirtschaftsweise, und das übrigens nicht wenig erfolgreich: lag der Anteil des öffentlichen Sektors bei der Güter- und Dienstleistungsproduktion in Venezuela Ende 1998 noch bei 34,8 Prozent, so sank er bis Ende 2008 auf 29,1 Prozent - trotz der Verstaatlichung einiger zentraler Unternehmen. Also wurde der kapitalistische Sektor zwar kleiner, aber er wuchs schneller.[17]

Und zweitens, weil manche auf Kuba glauben (machen wollen), dass die Primärorientierung auf staatliches Wirtschaften der "Aktualisierung des Sozialismus" entgegenstünde. Im regionalen Kontext müsse man auf die Wirtschaftspolitik der (allesamt kapitalistisch, aber im öffentlichen Diskurs gern auf "solidarische Ökonomie" orientierten) ALBA-Staaten zugehen; es sei zunehmend schwierig Sozialismus ohne Marktmechanismen zu machen, und der Sozialismus sei eben gerade nur durch diese Mechanismen zu retten.[18] Das sah die übergroße Mehrheit der Delegierten des Parteitags anders, denn mit einer Verbesserung des Sozialismus hat "weg vom Staat" meist nicht zu tun, aber von seiner Abschaffung würde eben niemand laut reden wollen - daher die Umschweife.

In Venezuela waren Kooperativen vor der Umgestaltung ab 1999 deutlich geringer vertreten als heute; es gab 20 000 Mitglieder in gut 800 Betrieben, zumeist im Finanz- und Transportbereich. Ab 2004 boomte dann das Genossenschaftswesen, nachdem es bereits zuvor zu einem Aufschwung gekommen war: die Nationale Genossenschaftsaufsicht Venezuelas, SUNACOOP, spricht für 2009 von 274 000 zunächst registrierten Genossenschaften, von denen letztlich gut ein Viertel operativ war und auch offiziell eingetragen wurde; davon die Hälfte im Dienstleistungsbereich. Etwa 13 Prozent der arbeitenden Bevölkerung arbeitet damit in Genossenschaften, so der Politikwissenschaftler Dario Azzellini.[19] Genossenschaften wurden unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez und durch entsprechende Artikel in der neuen Verfassung Teil des bolivarianischen Prozesses: "Die Strategie des Aufbaus einer Wirtschaft, die jenseits der kapitalistischen Logik und hin zu einer Demokratisierung der Wirtschaftsläufe wirkt, ist auf die Expansion und Konsolidierung einer Ökonomie gerichtet, die auf selbstverwalteten und vom Staat unterstützten produktiven Einheiten basiert. Sie ist auf ein radikales, endogenes Entwicklungsmodell orientiert: eine nachhaltige Entwicklung mit eigenen Ressourcen und lokalen Möglichkeiten, kollektive Administration der Produktionsmittel und eine aktivere Rolle des Staates in der Wirtschaft. Man will Produktivketten errichten, indem kleine selbstverwaltete Betriebe - wie Genossenschaften - mit mittelständischen, von den Arbeitern und den staatlichen oder kommunalen Institutionen mitbestimmten Unternehmungen verbunden werden, und beide wiederum verkettet werden mit großen, ebenfalls demokratisch von Arbeiterschaft und Staat mitverwalteten Staatsbetrieben, die Produktion und strategische Dienstleistungen tragen."[20] Dabei ist eine entscheidende Frage, dass "Staatsbetrieb" nicht unbedingt Staat meinen muss, sondern auch Gemeinde bedeuten kann, da dann Entscheidungen - beispielsweise in Fragen wie Umwelt- oder Immissionsschutzmaßnahmen - mit den direkt Betroffenen besprochen werden können und müssen. Im Grunde eine Betonung auf gesellschaftlichem Eigentum statt des staatlichen Eigentums. Ein Vorteil der Kooperativen im Übergangsprozess zum Sozialismus dürften in diesem Sinne auch u. a. die Erfahrungen in der betriebswirtschaftlichen Verantwortung sein, die sie zuvor machen konnten. Aber wenn auch darüber hinaus die Genossenschaften in Venezuela, intern-betrieblich betrachtet, eine demokratisierende Wirkung gehabt haben, ist das derzeitige Zwischenergebnis allerdings ernüchternder - viele Kooperativen existierten nur auf dem Papier um an staatliche Gelder zu kommen, es gab Doppelmitgliedschaften und Veruntreuung; andere Widersprüche sind die Vernebelung des im kapitalistischen Venezuela selbstredend weiterhin existierenden Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit oder schlicht die Aushebelung gewerkschaftlich erkämpfter Rechte, indem Genossenschaften von Unternehmen als Subunternehmer genutzt und dabei in der Folge die Arbeitsbedingungen "flexibilisiert" werden. Auch eine erhoffte Wechselwirkung von Genossenschaften mit den Gemeinden in der Nachbarschaft erwies sich als trügerisch, da "die meisten Kooperativen der Kapitallogik folgten und auf Gewinnmaximierung setzten". Daher werden nun strategisch wichtige Bereiche der Grundversorgung von "Unternehmen gesellschaftlichen Eigentums" (EPS) übernommen, die direkter mit den Gemeinden kooperieren sollen; 2009 gab es 271 solcher EPS.[21] Und in manchen der Großbetriebe, die im letzten Jahrzehnt aus unterschiedlichen Gründen von Arbeitern besetzt und daraufhin zu einem Joint Venture aus Staat (51 %) und Arbeitergenossenschaft (49 %) gemacht worden waren, liegen auf Wunsch der Arbeiterschaft nun sogar alle Aktien beim Staat, während der Belegschaft über neugegründete Räte immer noch die Entscheidungsgewalt verblieb. "Wir haben nicht einen Kapitalisten vertrieben, damit sechzig neue aufkommen", ist die Schlussfolgerung eines Arbeiters des Großbetriebs INVEVAL, der 2008 auf Wunsch seiner genossenschaftlich organisierten 49-Prozent-Mitbesitzer vollstaatlich wurde.[22]

Möge sein Hinweis auf Kuba gehört werden. Für Venezuela, als kapitalistisches Land mit Perspektiven eines Umbruchs, ist ein Betrieb, der dem Staat gehört, aber dessen Arbeitsweise gleichzeitig von der Belegschaft bestimmt wird, definitiv ein Fortschritt. Und für Kuba? Jedenfalls bemerkt die Kubanerin Camila Piñeiro realistischerweise, dass "die Kooperativen, wenn sie über Zwangs- oder Durchsetzungsmechanismen auch nicht in einen nationalen Plan oder Strategien zur territorialen Entwicklung einzubinden sind, dennoch die Möglichkeit bieten ihre Aktivitäten hin zur Befriedigung der gesellschaftlichen Notwendigkeiten zu orientieren, die im Planungsprozess diagnostiziert wurden - wenn sie demokratisch sind und den Interessen der umliegenden Gemeinden dienen".[23] Wenn. Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Denn die Idee - siehe Jugoslawien - ist nicht neu.


Günter Pohl, Hattingen, Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba.


Anmerkungen:

[1] Irina Vellay: "Solidarische Ökonomie", Marxistische Blätter 3-2011, Seite 112

[2] Lenin: Über das Genossenschaftswesen (Ausgewählte Werke, Band VI Dietz Verlag, Berlin 1972)

[3] Irina Vellay, a. a. O., Seite 113: Die "solidarische Ökonomie" als kostengünstiger Ersatz für sozialstaatliches Handeln führte zu einem breiten Programm des Rückbaus sozialstaatlicher Leistungen

[4] ebenda, Seite 111

[5] Camila Piñeiro: "Las cooperativas y el socialismo: Una mirada desde Cuba" (Die Kooperativen und der Sozialismus: Eine Sicht aus Kuba), Havanna 2011

[6] Armando Nova: Las Cooperativas agropecuarias en Cuba: 1959 - Presente" (Die landwirtschaftlichen Kooperativen auf Kuba: 1959 bis zur Gegenwart), Beitrag zu Teil 4 in: Camila Piñeiro, a. a. O., Seite 321

[7] Bekanntlich sind nach ihrem Zurückdrängen um 1968, einem Aufflammen um 1992 und einem zwischenzeitlichen Rückgang seit Anfang 2011 weitere privatwirtschaftliche Unternehmerschaften zugelassen worden

[8] Camila Piñeiro, a. a. O., Prolog, Seite 25

[9] Armando Nova, a. a. O., Seiten 325 bis 327

[10] Armando Nova, a. a. O., Seite 332

[11] Armando Nova, a. a. O., Seite 328

[12] Über einen als UBPC organisierten "Organopónico" siehe UZ vom 24.12.2010: "Von Möhren und Moral - Wie eine Kooperative die Nahrungsmittelsicherheit Kubas verbessert"

[13] Statistisches Jahrbuch Kubas, 1989 und 1999, in: Armando Nova, a. a. O., Seite 329

[14] Nationales Statistikbüro, 2009, in: Armando Nova, a. a. O., Seite 331

[15] Nova schätzt für 2010 einen Rückgang des rein staatlichen Anteils an Land auf nur noch 26 Prozent, und den von UBPC (30%) und CPA (9 %) auf nur noch geringfügog höher als den der Summe von CCS und Privaten (35 Prozent), a. a. O., Seite 333

[16] Humberto Miranda: "Revolución, Autogestión y Cooperativas - Una visión desde la presente perspectiva cubana" (Revolution, Selbstverwaltung und Genossenschaften - Ein Blick von der gegenwärtigen kubanischen Perspektive aus), ALAI AMLATINA, 26.07.2011

[17] Im Juni 2009 von Professor Víctor Álvarez vorgestellte Studie des "Centro Internacional Miranda", womit er die Richtigkeit der These Rosa Luxemburgs begründet, dass in Koexistenz mit privaten Produktionsmitteln reine Reformen nicht zum Sozialismus führen, sondern - so Rosa Luxemburg in Erwiderung Eduard Bernsteins - weg von ihm (Günter Pohl: "Rückkehr der Rechten", junge Welt vom 22.06.2010)

[18] Protagonisten dieser Ideen (wie Omar Everleny Pérez, ebenfalls vom Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft) kommen gern bei wichtigen Vorkämpfern für den perfekten Sozialismus wie der "taz", "attac", der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem "Spiegel" u. a. zu Wort

[19] Dario Azzellini: "De las cooperativas a las empresas de propiedad social directa en el proceso venezolano" (Von den Kooperativen zu den Unternehmungen direkten gesellschaftlichen Eigentums im venezolanischen Prozess), Beitrag zu Teil 3 in Camila Piñeiro (a. a. O.), Seite 306

[20] ebenda, Seite 303

[21] ebenda, Seite 315

[22] ebenda, Seite 311

[23] Camila Piñeiro (a. a. O.), Seite 10


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-11, 49. Jahrgang, S. 85-91
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2012