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MARXISTISCHE BLÄTTER/525: NATO abschaffen - was sonst?


Marxistische Blätter Heft 4-12

NATO abschaffen - was sonst?

von Gerd Deumlich



Die Geschäftigkeit ist kaum noch zu überbieten, mit der Staats- und Regierungschefs samt sachkundigem Personal von einem Gipfeltreffen zum nächsten jetten, um mal den Euro, mal die Umwelt oder sonstwas zu retten - und meist ist außer Spesen nichts gewesen. Wie jüngst in Rio de Janeiro, wo über 100 Staatenlenker nicht mehr zustande brachten als die schöne Absicht, bis 2015 Ziele einer nachhaltigen Entwicklung zu formulieren und 2030 zu bilanzieren, was daraus geworden ist. Die Herrschaften, wozu auch die deutsche Kanzlerin zählt, hätten über die vielen Flops schon längst die Lust am Regieren verlieren müssen, wenn ihnen nicht hin und wieder die NATO-Gipfel Erfolgserlebnisse bereiten würden. Den Vorwurf, dass ihre Spitzentreffen wie das Hornberger Schießen ausgingen, braucht sich die NATO jedenfalls nicht zu machen. Das Fatale ist nur: Dieser größte Militärpakt der Menschheitsgeschichte produziert Gefahren, die sich mit anderen Menschheitsbedrohungen, für die die kapitalistischen Eliten keine Lösung finden, summieren. So ist in der Situation von Hungerkatastrophen, Wirtschafts- und Währungskrisen, Klimagefährdung ­... in Chicago die NATO weiterhin fest auf Rüstung und Krieg ausgerichtet worden.

Dazu gehörte, dass eingangs die Repräsentanten der kriegführenden NATO-Mächte darüber konferierten, wie "das Abenteuer in Afghanistan respektabel zu beenden" sei, den für 2014 angesetzten Rückzug "zu besiegeln, und zwar so, dass er nicht in eine heillose Flucht ausartet." (SZ, 12./13.5.2012) Ein spezielles Dokument "Chicago Summit Deklaration on Afghanistan" stellt jedoch klar, dass die "NATO nach dem Abzug ihrer Kampftruppen Ende 2014 mit einer neuen Mission militärisch in dem Land präsent zu bleiben" plant. Zwar heißt es, dies solle keine Kampfmission sein, aber "dass die Amerikaner sich darauf einstellen, nach 2014 in Afghanistan auch noch Operationen zur Terrorismusbekämpfung vorzunehmen. Im Bündnis ist strittig, ob das unter Nato-Führung stattfinden soll. Die Briten sind dafür, die Franzosen dagegen, die Deutschen offen." (FAZ, 22.5.2012) In Anbetracht der katastrophalen Zustände, die die Nato dort angerichtet hat, können die USA den Krieg nicht wirklich beenden. Treffend fragen die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in einer Stellungnahme zu Chicago: "Wie kann die NATO in den verbleibenden zweieinhalb Jahren stabile demokratische und menschenrechtsfreundliche Verhältnisse in Afghanistan schaffen, wenn dies in zehneinhalb Jahren nicht ansatzweise gelungen ist?"


Veränderte Prioritäten?

US-Präsident Obama verkündete im Zusammenhang mit Chicago eine strategische "Wende" der USA zum asiatisch-pazifischen Raum; der Aufstieg Chinas erfordere diese Prioritätensetzung in den Interessen der USA, schließlich liege dort das künftige Gravitationszentrum der Weltwirtschaft. Unmittelbar vor dem NATO-Gipfel legte eine Denkschrift des Atlantic Council, einer einflussreichen Denkfabrik, in deren Beirat führende Außenpolitiker der beiden großen US-Parteien sitzen, den Verbündeten der USA nahe, dass dies nicht als Abwendung von Europa, sondern von diesem als eine Chance zu verstehen sei. Nicolas Bums, früher US-Botschafter bei der NATO in Brüssel, der Autor der Studie, formulierte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: "Europa bleibt Amerikas größter Handelspartner, Europa bleibt der größte Investor in den USA, und Europa beheimatet Amerikas engste Verbündete - 26 Nationen sind NATO-Alliierte. Zugegeben, so manches Geraune bei uns hat den Eindruck geschürt, wir würden uns abkehren. Aber Amerika braucht Europa jeden Tag!" Speziell Deutschland werden verführerische Avancen gemacht, denn, so Burns: "Deutschland ist der Schlüsselstaat des Kontinents, es führt Europa" (SZ, 18.5.2012)

In der Studie wird bedeutet: "Europas künftige Relevanz als globaler strategischer Partner der Vereinigten Staaten hänge davon ab, dass Deutschland eine viel stärkere politische und militärische Führungsrolle einnimmt." (FAZ, 24.5.2012) Das deutsche Führungspersonal wird ausdrücklich ermuntert, die von manchem beschworene "Kultur der militärischen Zurückhaltung" aufzugeben: "Deutschland solle seine Nachkriegstransformation zum Abschluss bringen und endlich den Ehrgeiz entwickeln, eine globale Macht und eine, vielleicht die Führungsmacht in Europa zu werden." Burns gesteht zu, dass Zurückhaltung eine Lektion der deutschen Geschichte sei: "Ich verstehe das sehr wohl. Das war auch richtig nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur das liegt mehr als 60 Jahre zurück ... In den fünfziger Jahren mögen viele Nachbarn ein erstarkendes Deutschland gefürchtet haben", aber heute ist "Deutschland ein normales Land". (SZ, 18.5.2012)


Der NATO-Beitritt hat sich gelohnt

Als ob das die Herrschenden in Deutschland nicht längst verinnerlicht hätten! Die braucht man nicht mehr über den Gewinn zu belehren, den sie mit der Aufnahme in die NATO 1955 erzielt haben: den Wiederaufstieg zur europäischen Großmacht, zur Kriegsmacht. Die Kanzlerin lässt ihren Außenminister, FDP-Westerwelle, sich mit dem Gerede von deutscher Zurückhaltung wichtig machen - sie geht mit der NATO konform, die in Chicago ihren achtmonatigen Luftkrieg gegen Libyen als großen militärischen Erfolg feierte und sie selbst hat noch während dieses Krieges "die grundsätzliche Bereitschaft Deutschlands bekräftigt. sich zur Lösung von Konflikten auch an Militäreinsätzen zu beteiligen". (SZ, 1.4.2012)

Es ist hier bemerkenswert, welche Unterstützung die Kanzlerin durch den neuen Bundespräsidenten bei dessen Auftritt an der Führungsakademie der Bundeswehr fand. Dort war für Gauck der Platz, stolz und erfreut von sich zu lassen: "Die Bundeswehr auf dem Balkan, am Hindukusch und vor dem Horn von Afrika ... wer hätte es etwa vor 20 Jahren für möglich gehalten?" Damit nicht genug: "Die lieben Soldatinnen und Soldaten werden heute ausgebildet mit der klaren Perspektive, in solche Einsätze geschickt zu werden." Und da braucht ein Bundespräsident nicht verhehlen, was eine "funktionierende Demokratie" fordern darf - "manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das eigene Leben".

Diesem Staatsführer gefällt nicht, wie schwer es "unsere glücksüchtige Gesellschaft" erträgt, "dass es in unserer Mitte wieder Kriegsversehrte ... dass es wieder deutsche Gefallene gibt". Was zählen ihm schon die Realitäten, die dafür stehen, dass der Gesellschaft die NATO-Kriegspolitik noch in anderer Hinsicht teuer zu stehen kommt?


Sozialstaat contra Sicherheit?

Der US-Spitzendiplomat Burns rügt: "Deutschland gibt zu wenig aus, um die Bundeswehr so auszurüsten, wie die NATO sie braucht ... Seit fast vier Jahrzehnten verlangt die NATO, die Alliierten sollten wenigstens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgehen. Nur drei Verbündete tun das, allen voran die USA mit 4,4 Prozent. Aber Deutschland leistet gerade einmal 1,3 Prozent".

Diesem staatsgefährdenden Skandal muss da ja mal auf den Grund gegangen werden. Wie es die FAZ unmittelbar nach dem NATO-Gipfel tat: "In Europa wird man wieder ernsthaft darüber reden müssen, wie viel uns die Sicherheit wert ist. Der großzügige Sozialstaat hat nicht nur viele Länder in die Verschuldung getrieben, sondern sie auch verwundbar gegen äußere Feinde gemacht". (22.5.2012) So geht's wirklich nicht weiter: Nicht nur, dass das Wohlleben der einfachen Leute, die überall über ihre Verhältnisse leben, die geplagten Sachwalter der Kapitalinteressen zwingt, sich mit der Euro-Krise abzuquälen, die wissen auch bald nicht mehr, wie sie ihre Kriege bezahlen sollen!

Man kann sich aber auch dafür bedanken, wie unumwunden, wenn auch mit falscher Stoßrichtung, hier ein Zusammenhang von Sozial- und Rüstungspolitik eingestanden wird. Sonst wird das ja gerne als "kommunistische Propaganda" abgetan - hier benutzen die Regierenden diesen Tatbestand, um Zustimmung zu ihrer Rüstungspolitik, die nicht unter Sozialaufwendungen leidet, sondern diese beschneidet, herauszuschinden.

Doch in Chicago hat die NATO einen genialen Ausweg aus der finanziellen Bedrückung der Rüstung gefunden. Der NATO-Generalsekretär Rasmussen brachte das Projekt "smart defense" ein (zu deutsch "gerissene" oder "pfiffige", auch "intelligente" Verteidigung), womit die NATO "fit für das 21. Jahrhundert" werden soll. Konkret: Die NATO-Länder sollen ihre Militärausgaben nicht mehr separat verplempern, sondern zusammenwerfen, um gemeinsam modernes Kriegsgerät entwickeln und kaufen zu können. Durch Zusammenlegung (pooling) und Aufgabenspezialisierung (sharing) soll erreicht werden, angesichts von Sparzwängen die Kampfkraft zu erweitern. Erstes Projekt ist eine NATO-eigene Bodenüberwachung mit Großdrohnen (AGS),wofür die Bundesregierung ein Drittel der Kapazitäten stellen will, sowie eine Seeraumfernaufklärung.


Ein Handstreich gegen das Grundgesetz

Doch die Sache hat einen politischen Haken: Auf diese Waffensysteme und Truppeneinheiten beansprucht die NATO einen permanenten Zugriff - wohl wissend, dass dies mit dem deutschen "Parlamentsbeteiligungsgesetz" kollidiert. Doch man weiß auch um die Bereitschaft der Bundesregierung, das Entscheidungsrecht des Bundestages über Auslandseinsätze aufzuweichen durch Gesetzesänderung für den Dreh eines "Vorratsbeschlusses", mit dem der Bundestag im vorhinein Auslandseinsätze pauschal genehmigt. Den Herumpfuschern am Grundgesetz hat es noch nie an Phantasie gemangelt.

Bundesverteidigungsminister de Maizière verweist gelassen darauf: "Wir haben mit dem Parlamentsvorbehalt sehr gute Erfahrungen gemacht". Stimmt - der Bundestag hat mehrheitlich noch jeden Auslandseinsatz abgenickt. Doch ist etwa ein Grund, die Preisgabe eines Parlamentsrechts, das ja immer die Chance zu vernünftigen Entscheidungen ausmacht, zugunsten des militär-strategischen Mechanismus der NATO gleichgültig hingehen zu lassen? Das fügte sich ideal in die Beschneidung demokratischer Strukturen, wie sie z. B. mit dem Fiskalpakt und dem Euro-Rettungsschirm die Parlamentsgremien passierte.


Ein Drehen an der Rüstungsspirale

In Chicago bekräftigte die NATO. dass sie eine Atommacht bleibt. Deshalb gibt es in der Gipfelerklärung keinen Hinweis auf einen Abzug der 200 US-Atomwaffen, die noch in Europa, auch in Deutschland (Büchel/Rheinland-Pfalz), stationiert sind. Angeblich werden sie als Faustpfand für Verhandlungen mit Russland über "vertrauensbildende Maßnahmen" für Schritte der atomaren Abrüstung gebraucht. Wie glaubwürdig ist jedoch dieser Vorsatz, wenn die NATO, und hier speziell die USA, mit dem Festhalten an dem Projekt eines Raketenabwehrsystems den Anstoß zu vermehrter atomarer Aufrüstung gegeben? Wird so mehr Sicherheit für unseren Kontinent erreicht?

Es kann also nur dem Fazit zugestimmt werden, das der Bundesausschuss Friedensratschlag gezogen hat:

"Der NATO-Gipfel in Chicago hat nichts Neues hervorgebracht. Genau das aber ist das Beunruhigende: Angetrieben durch die größte Militärmacht bewegt sich die Welt weiter in Richtung Hochrüstung und Relegitimierung des Militärischen. Auf der Strecke bleiben das Völkerrecht und die Interessen der Menschheit auf eine friedliche Zukunft. Die Menschheit steht vor der Aufgabe, die NATO abzuschaffen, bevor die NATO die Menschheit abschafft."


Gerd Deumlich
, Essen, MB-Redaktion

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-12, 50. Jahrgang, S. 12-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2012