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MARXISTISCHE BLÄTTER/554: Vom homo oeconomicus, von der Ökonomie und von der Arbeit


Marxistische Blätter Heft 4-13

Vom homo oeconomicus, von der Ökonomie und von der Arbeit

Von Lucas Zeise



Wer ist dieser homo oeconomicus? Trotz seines lateinischen Namens gibt es ihn erst seit dem 19. Jahrhundert. Er schreitet seit damals - ins Deutsche unzureichend mit "Wirtschaftsmensch" übersetzt - einigermaßen aufrecht durch die kapitalistische Landschaft. Was macht er? Womit verbringt er seine Tage? Das wissen wir dank der umfangreichen ökonomischen wissenschaftlichen Literatur genau: Er mehrt seinen Nutzen. Obwohl auch wir Normale homines oeconomici (wie der korrekte Plural des in Rede stehenden Begriffs lautet) sind, wissen wir nicht genau, was dieser Nutzen ist. Keiner hat ihn je gesehen, gerochen oder gehört. Jedoch der homo oeconomicus (nennen wir ihn ab jetzt kurz h.ö.) scheint ihn zu fühlen. Er erspürt in jeder Lebenssekunde genau, wie viel Nutzen er gerade empfindet. Und es kommt noch besser: Der h.ö. ist sogar in der Lage, ein kompliziertes Kalkül darüber aufzustellen, wie viel Zusatznutzen ihm beispielsweise durch den Kauf eines Bieres, eines Handys oder eines Schokoriegels sowie den Verzehr oder Gebrauch dieser Gegenstände zuwächst. Und noch toller: Der h.ö. kann auch gegenrechnen wie viel Nutzen ihm entgeht, wenn er auf den Kauf und Gebrauch dieser oder anderer Dinge verzichtet. Kurz, der h.ö. ist ein Empfindungs- und gleichzeitig ein Kalkulationsgenie.

Natürlich weiß der h.ö. auch, dass Nutzen mit Geld erkauft werden muss. Und er weiß, dass er das Geld unter dem fahlen Licht der Knappheit (wie die Volkswirte sich zuweilen blumig ausdrücken) seinerseits erst erwerben muss, um es ausgeben zu können. Wir sind an dieser Stelle versucht abzuschweifen. Denn selbst in den vollkommen abstrakt gehaltenen Erzählungen vom h.ö. treten da zwei unterschiedliche Typen auf. Es gibt einerseits h.ö., welche über Geld anscheinend von Geburt an einfach verfügen oder in deren Händen, besser Bankkonten sich Geld auf geradezu wundersame Weise sammelt und zu vermehren scheint, während der andere Typus des h.ö. arbeiten muss - im Schweiße seines Angesichts, wie ein Autor des Alten Testaments poetisch anmerkt -, um an ein wenig Geld zu kommen. Genug der Abschweifung, die an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden soll. Jedenfalls aber erfährt der gemeine h.ö. hier das Gegenteil von Nutzen. Dieses Gegenteil wird von der Wissenschaft denn auch als "Arbeitsleid" bezeichnet. An dieser Stelle können wir also zu einer ersten Zusammenfassung unserer Kenntnisse des homo oeconomicus schreiten und feststellen: Sein Leben besteht darin, am Wirtschaftsgeschehen so teilzunehmen, dass in der individuellen Gesamtbilanz der eigene Nutzen maximiert, das Arbeitsleid aber minimiert wird.

Bei den bisher dargestellten Erkenntnissen handelt es sich nicht, wie Leser einer kritischen Zeitschrift vermuten könnten, um eine Karikatur, sondern um schlichte Wahrheit. Allerdings muss eingeräumt werden, dass die Schilderung der Fähigkeiten und Gewohnheiten des h.ö. noch bei weitem nicht vollständig ist. In voller Schönheit findet sich diese Darstellung in der Theorie des politischen Liberalismus, in der philosophischen Richtung des Utilitarismus und vor allem in dem heute weltweit an den Universitäten gelehrten Fach "Economics", zu deutsch "Ökonomie", "Nationalökonomie" oder noch deutscher "Volkswirtschaftslehre".

Um dieses Fach zu erlernen und auch nur einen kümmerlichen Schmalspur-Bachelor in diesem Fach zu erwerben, müssen heutige Studenten ein Minimum oder auch eine Regelstudienzeit von sechs Semestern hinter sich bringen. Dann erfahren sie so ungeheuer nützliche Dinge wie zum Beispiel, dass der von allen homines oeconomici gesammelte, von einem käuflichen Gegenstand erwartete Gesamtnutzen die Nachfrage nach diesem Gegenstand bestimmt. Sie erfahren weiter, dass diese Nachfrage dann relativ zum Angebot an diesem Gegenstand dessen Preis bestimmt; und schließlich noch, dass dieser Preis am Ende wieder auf Angebot und Nachfrage zurückwirkt. Das ist ja das Überzeugende an dieser Großtheorie: Sie stimmt. Es trifft meistens zu, dass bei sinkendem Warenangebot die Preise steigen, bei sinkender Nachfrage aber fallen, dass aber umgekehrt bei steigendem Preis einer Ware die Nachfrage nach ihr sinkt, das Angebot aber steigt.

Als "Vulgärökonomie" hat Karl Marx solche Erkenntnisse bezeichnet. Seit Marx' Lebzeiten hat sich diese Vulgärwissenschaft aber ganz gewaltig entwickelt und verästelt. Der homo oeconomicus beispielsweise wurde schon zu Marx' Lebzeiten (von John Smart Mill) konzeptionell entworfen, die wunderhübsche, lateinische Bezeichnung für diese Gattung und die detaillierte Darstellung seines Verhaltens entstammt den Denkern späterer Jahre. An der Trivialität dieser Erkenntnisse hat sich aber rein gar nichts geändert. In der Theorie von der Handlungsweise des h.ö. wird nämlich all das vorausgesetzt, was einer Erklärung bedarf: Eigentum, Waren, Geld, Kapital, Wert, Preis und Profit sind da und müssen als gesellschaftliche Konstrukte existieren, ehe der h.ö. seine Nutzenabwägung vornehmen und entsprechend handeln kann.

Man kann an dieser Stelle festhalten: Der h.ö. ist ein fiktives Produkt der Vulgärökonomie. Die Ökonomie ist in deren Verständnis die Wissenschaft vom Handeln der homines oeconomici. Sie sind die "Wirtschaftssubjekte", die als Einzelindividuen ihre Interessen vertreten, im Sprachgebrauch also ihren Nutzen zu maximieren versuchen. Sie tun dies in einer entwickelten Warenwelt, in der es Geld, Warenmärkte, einen entwickelten Arbeits- und Kapitalmarkt und selbstverständlich auch voll entwickelte staatliche Herrschaftsgebilde bereits gibt. Zugleich wird so getan, als gelte das Verhalten des h.ö. als schlechthin menschliches Verhalten, das immer und überall gilt. Es wird so getan, als sei der entwickelte Kapitalismus schon immer dagewesen und existiere bis in alle Ewigkeit fort. Zugleich beschränkt diese Herangehensweise die Ökonomie auf einen ganz eng umrissenen Teilbereich der Gesellschaft. Die Wirtschaftswissenschaft befasst sich im herrschenden Verständnis damit, wie Märkte funktionieren.



Produktionsweise, Kultur und Geschichte

Ganz anders die Klassiker der Politischen Ökonomie, deren Untersuchungsgegenstand die Gesellschaft als Ganzes war. Marx hat diese Herangehensweise am klarsten formuliert und ihr zusammen mit Friedrich Engels eine philosophische Grundlage gegeben. Danach ist die grundlegende Kategorie der Ökonomie als Wissenschaft die Arbeit. In frühen Jahren haben Karl Marx und Friedrich Engels eine Erkenntnis formuliert, die später als "historischer Materialismus" in die Ideengeschichte eingegangen ist. Sehr knapp zusammengefasst bedeutet diese Herangehensweise an die menschliche Geschichte, dass Gesellschaften grundlegend geprägt werden von der Art und Weise, wie sie für ihren Fortbestand, ihre Weiterexistenz und ihre Weiterentwicklung sorgen. Die Menschen können nur existieren, weil sie arbeiten. Um zu essen, um zu schlafen, um Kinder aufzuziehen, kurz um leben zu können, müssen Menschen arbeiten.

Sie tun das von vornherein in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Die Arbeit ist nur in den seltensten Fällen wirkliche Einzelarbeit. Sie ist fast immer Arbeit mit den anderen, sie ist zumindest auf die Arbeit anderer bezogen. Sie ist gesellschaftliche Arbeit. So wenig, wie der einzelne Mensch sich reproduzieren kann, so wenig kann er auch als einzelner arbeiten. Die Art und Weise der gesellschaftlichen Arbeit ist das erste und wichtigste Merkmal der Kulturen. Dass Wissenschaft die menschlichen Kulturen so betrachtet, hat sich seit Marx' und Engels' Zeiten durchaus eingebürgert. Altsteinzeit und Neusteinzeit, Bronzezeit sind ebenso Begriffe der Geschichtswissenschaft, wie alt- oder neusteinzeitliche Gesellschaften Begriffe der Ethnologie sind. Der Übergang von der Alt- zur Neusteinzeit, in dessen Verlauf sich aus den Gesellschaften oder Stämmen, die von Jagd und Sammeln lebten, Gesellschaften entwickelten, die systematischen Ackerbau oder Viehzucht trieben, gilt als die bisher größte technologische und damit gesellschaftliche Umbruchphase der Menschheitsgeschichte.

Gesellschaften danach zu typisieren, wie sie ihre Arbeit organisieren und um welche Arbeit es sich dabei handelt, ist zwar typisch marxistisch, aber in den Gesellschaftswissenschaften generell die durchaus anerkannte Vorgehensweise. Sie hat den Vorteil, dass die Gesellschaftsstruktur bei einer solchen Vorgehensweise als geschichtlich entstanden und überhaupt geschichtlichen Veränderungen unterworfen erscheint. Man müsste all das nicht erwähnen, wenn nicht die Ökonomie, die im deutschen Universitätsbetrieb trotz aller geliebten Anglizismen noch immer Volkswirtschaftslehre genannt wird, in der an den Unis gelehrten Form die geschichtliche Veränderung der menschlichen Gesellschaften leugnen würde.

In der wirklichen Geschichte haben die Menschen unterschiedliche Formen der Arbeit, der Zusammenarbeit gefunden. Die Art und Weise, wie Gesellschaften den Stoffwechsel mit der Natur organisieren, kann man Kultur oder auch Produktionsweise nennen. Man spricht von der Kultur der frühen Jungsteinzeit, der Kultur der Griechen und Römer und man spricht von der Sklavenhalterwirtschaft, dem Feudalismus, dem Kapitalismus und dem Sozialismus. Produktionsweisen sind ebenso komplexe Gebilde wie menschliche Gesellschaften überhaupt. Sie umfassen die Beziehungen, die die Menschen bei Arbeit und gesellschaftlicher Reproduktion miteinander eingehen. Solche Beziehungen können Beziehungen der Gewaltherrschaft, der Sitten oder des Rechts sein. Das Oder ist dabei nicht ausschließend gemeint. Die Beziehung des Sklaven zum Herrn umfasst alle diese Kategorien. Der Begriff des Eigentums, das der Herr am Sklaven hat, ist eine Beziehung zwischen diesen Menschen, die Gewalt, Sitte und auch Recht umfasst.



Klassen und Klasseninteresse

Die spezifische Rolle, die Menschen oder besser Menschengruppen im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeit einnehmen, nennt man Klassen. In diesem Sinn ist die Klasse zunächst und primär ein Begriff der Ökonomie. Im Kapitalismus sind die beiden bestimmenden Klassen einerseits die Kapitalisten, also jene, welche als Kapitaleigentümer die Selbstvermehrung oder Selbstverwertung des Kapitals durch Anwendung, genauer Ausbeutung der Arbeitskraft anderer betreiben, andererseits die Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft für Lohn verleihen und die gesellschaftliche Arbeit unter Anleitung der Kapitalisten leisten. Daneben gibt es auch im Kapitalismus Klassen oder auch Gruppen der Bevölkerung, etwa selbstständige Bauern, deren Bezug zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit sie nicht in eine dieser beiden Gruppen zuordnen lässt. Die Klassenstruktur einer Gesellschaft ist ein entscheidendes Merkmal der Produktionsweisen. Ganz anders als die bürgerliche Ökonomie, in deren Modell der homo oeconomicus jeweils individuell seine Interessen verfolgt, die aber im Prinzip gleich sind, nämlich, einen möglichst großen Nutzen zu erzielen, stellt die historisch-materialistische Ökonomie unterschiedliche Interessen der verschiedenen Klassen fest. Die Geschichte wird von den Kämpfen der Klassen vorangetrieben. Die politischen Institutionen werden von den Akteuren entwickelt und auch wieder beseitigt, politische Entscheidungen werden getroffen, Kriege begonnen und wieder beendet im Interesse bestimmter Klassen. Die Frage "Wem nützt es?" ist eine ökonomisch gestellte Frage. Sie liefert erhellende Antworten in der Geschichtswissenschaft und in der politischen Analyse der Gegenwart.

Eigentum an Menschen zu haben, kommt uns barbarisch und fremd vor. Eigentum an Dingen haben zu können, ist allerdings nicht weniger sonderbar. John Locke, der Stammvater der liberalen Politikwissenschaft, hält es für nötig, die Institution des Eigentums zu begründen und schreibt: "Manche halten es für eine sehr schwierige Frage, wie denn irgendjemand überhaupt irgendeinen Gegenstand als Eigentum besitzen könne." ("It seems to some a very great difficulty, how any one should ever come to have a Property in any thing." John Locke, Two Treatises of Government, The Second Treatise, Kapitel V) So ganz einfach ist diese Frage in der Tat nicht. Locke leitete aus der Tatsache, dass ein Mensch über seinen Körper und das, was er isst und trinkt, verfügen können muss, um ihn am Leben zu erhalten, das evidente Recht ab, dass alles, was ist, nicht nur Eigentum des Monarchen sein kann. Er formuliert und rechtfertigt das Recht des Bürgers gegen die Ansprüche des Feudalherrn, als historisch nach der "Glorious Revolution" von 1688 jedenfalls in England dieser Anspruch längst durchgesetzt war. Welches Eigentum auch immer sich durchsetzt, wichtig ist die Feststellung, dass das Eigentum an Dingen besondere Beziehungen zwischen den Menschen darstellt.

Der Kapitalismus ist eine Produktionsweise, in der Eigentum eine außergewöhnlich bedeutende Rolle spielt. Was Locke als Argument für das Privateigentum des Einzelnen einführte - man müsse sich eine Sache zu eigen machen, bevor man sie bearbeiten, umformen, daraus etwas Neues herstellen oder es auch konsumieren könne -, taugt eigentlich nichts. Er verwechselt dabei Eigentum mit Besitz. Ich kann die Kuh durchaus melken, selbst wenn die Kuh nicht meine ist. Auch ein Sklave kann essen, obwohl er einem anderen gehört. Zugleich weist Locke mit seinem Argument darauf hin, dass in "seiner" Gesellschaft das individuelle Arbeiten im Vordergrund steht. Eine solche Gesellschaft ist die Tauschwirtschaft oder die Waren produzierende Gesellschaft, wie Marx sie nennt. Sie ist die Wirtschaftsweise, deren höchste Stufe der Kapitalismus ist.

In einer solchen Tauschwirtschaft werden individuelle (vereinzelte) Arbeiten über den Tausch aufeinander bezogen. Anders als beim Bau einer Pyramide oder der Getreideernte, wo die Arbeiten der Steinmetze, der Träger, der Baumeister usw. im ersten Fall oder die der Schnitter, der Sammler und Bündler im zweiten koordiniert und zu einem einheitlichen Arbeitsprodukt der Beteiligten verschmolzen werden, kommt es durch den Tausch zu einer Koordination im Nachhinein von zunächst unkoordiniert und privat hergestellten Produkten. Bei Marxisten heißt die Koordination der Arbeiten Vergesellschaftung. Tausch oder besser der vielfache Tausch, also der Markt, ist eine spezifische Form, wie Arbeit vergesellschaftet wird.

Produkte, die zum Zweck des Tausches und nicht zur eigenen Verwendung hergestellt werden, heißen Waren. Die Tauschwirtschaft oder Warenproduktion funktioniert nur deshalb, weil die völlig verschiedenen Produkte völlig verschiedener menschlicher Arbeiten vergleichbar gemacht werden können. Dies geschieht über den sogenannten Tauschwert. Er ist der Wertmaßstab für alle auf dem Markt zum Tausch vorgesehenen Waren. Er drückt zugleich aus, wie viel Arbeit, oder präziser, wie viel Arbeitszeit erforderlich war. Damit bleibt auch bei der Analyse der Tauschwirtschaft die Arbeit (in Gestalt der für die Herstellung der Waren erforderlichen und tatsächlich verausgabten Arbeitszeit) die zentrale Kategorie. Wie beim Pyramidenbau geht es auch in der Tauschwirtschaft darum, wie Arbeit gesellschaftlich koordiniert wird. Liberale Ökonomen werden oft lyrisch, wenn sie diese Koordinierungsrolle des Marktes schildern und loben und ihm im Überschwang sogar göttliche Unfehlbarkeit zusprechen. Die Betonung der Arbeit als zentraler Kategorie gerade auch bei der Analyse des Marktes stellt im Gegensatz dazu die Arbeitswertlehre dar, die Karl Marx von den frühen, klassischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo übernommen hatte. Die Arbeitswertlehre hinderte die beiden Klassiker aber nicht daran, zugleich Liberale zu sein.

Dass Waren - im Großen und Ganzen - gemäß dem zu ihrer Herstellung benötigten Arbeitsaufwand getauscht werden, ist keine Definition, sondern eine empirische Tatsache. Wichtig dabei ist es zu betonen, dass dies nur im Großen und Ganzen so geschieht. Es gibt Abweichungen von dieser Gesetzmäßigkeit, zufällige Schwankungen und auch einige systematische, hartnäckige Abweichungen. Eine davon wird uns im Zusammenhang mit dem Finanzsektor näher beschäftigen. Auch die an den Universitäten gelehrte neoklassische Volkswirtschaftslehre kommt zu dem Schluss, dass Waren letztlich im Verhältnis des zu ihrer Herstellung erforderlichen Arbeitsaufwandes getauscht werden. Im von dieser Theorie postulierten Gleichgewichtszustand der Volkswirtschaft, also dem Zustand, in dem alle Märkte "geräumt" werden, die Nachfrage auf allen Märkten dem Angebot entspricht, bleibt im Gleichungssystem der Produktions- und Nachfragefunktionen als letzte Variable der Lohn übrig. Er steht in der begrifflich verqueren Welt dieser Theorie für den Input an Arbeit, den nachgefragten und gelieferten Arbeitseinsatz.

Die Kernthese dieser Volkswirtschaftslehre, dass nämlich Nachfrage und Angebot den Preis, das heißt den relativen Wert der Waren zueinander bestimmen, hat Marx nie sonderlich interessiert. Dass sich der Preis einer Ware in der Regel auf dem Markt in einem Trial-and-Error-Verfahren herausbildet, dass sich die Kaufleute und Warenproduzenten bemühen, möglichst billig einzukaufen und möglichst teuer zu verkaufen, sowie die Tatsache der Konkurrenz der Warenproduzenten waren Marx so klar wie vor ihm schon Smith und Ricardo. Einig sind sich die Klassiker auch mit den heutigen Vulgärökonomen darin, dass sich das Wertgesetz, wonach Waren gemäß dem zu ihrer Produktion nötigen Arbeitsaufwand getauscht werden, ohne Plan der Produzenten und Marktteilnehmer oder, wie Marx sagt, hinter ihrem Rücken durchsetzt. Bei Smith heißt diese planlose Wirksamkeit die unsichtbare Hand des Marktes.

Der Kapitalismus ist eine Waren produzierende Produktionsweise. Anders als in anderen Gesellschaftsformationen, etwa dem Feudalismus, stehen die Warenproduktion und damit der Markt im Vordergrund. Die Koordination der gesellschaftlichen Arbeit, in Marxscher Terminologie die "Vergesellschaftung der Arbeit", geschieht vorwiegend über den Warentausch auf den Märkten. Der Kapitalismus zeichnet sich aber durch etwas Weiteres aus, das ihn zu einer besonderen Waren produzierenden Gesellschaft macht. Nicht nur die Produkte menschlicher Arbeit werden Ware, sondern auch die Arbeitskraft selbst tritt als Ware auf. Sie wird auf dem Arbeitsmarkt wie eine Ware gehandelt und wie eine Ware genutzt oder, wie der Fachterminus lautet, ausgebeutet. Die Ware Arbeitskraft ist etwas wert und schafft Wert. In anderen Gesellschaften wird ebenfalls die Arbeitskraft ausgebeutet. Sie wird aber in diesen anderen Gesellschaften nicht üblicherweise als Ware gehandelt. In der Antike werden Sklaven vorwiegend durch Kriege gewonnen. Es kommt auch vor, dass freie Bürger durch Überschuldung in Zinsknechtschaft geraten. Auch gibt es zuweilen einen Sekundärmarkt mit Arbeitssklaven. Beide Formen des Erwerbs von Sklaven gelten aber als eigentlich nicht rechtmäßig oder legitim. Im Feudalismus gelten Ablieferungspflicht und Frondienste der Bauern gegenüber dem Lehnsherrn und Grundbesitzer. Boden und auf dem Boden arbeitende Bevölkerung wurden dem Adel verliehen oder ererbt. Von einem Arbeitsmarkt kann im feudalen Mittelalter keine Rede sein.

Erst die massenhafte Nutzung der Ware Arbeitskraft macht "Kapital" zum die Produktionsweise bestimmenden Moment. Kapital gibt es weit vor der Zeit, als Kapitalismus zur bestimmenden Produktionsweise wurde. Kapital ist ursprünglich ein Begriff aus der Banker- oder Wucherersprache. Es ist jener Teil einer geschuldeten Summe, die zuvor verliehen wurde, also der Hauptteil (lat. Caput), die Schuldsumme ohne die aufgelaufenen Zinsen. Kapital ist somit jene Wertsumme, die um die Zinsen vermehrt wird. Kapital ist, wie Marx sich hegelianisch ausdrückt, "sich selbst verwertender Wert". Das soll heißen, Kapital ist nur Kapital, wenn es sich mehrt. Geld arbeitet, sagen die Anlageberater. Sie meinen genau das. Im Kapitalismus wird die Akkumulation, die Anhäufung von Wert oder gesellschaftlichen Reichtums zum Prinzip. Der Kapitalismus macht den früher nur den Finanzleuten und Wucherern vorbehaltenen Zinszuwachs auf das Geldkapital zum die gesamte Gesellschaft umfassenden Prinzip. Das Entscheidende an Marx' Theorie besteht darin, dass er zeigt, wie Kapital durch die Nutzung der Ware Arbeitskraft sich mehrt und die Gesellschaft bestimmt.



Missverständnisse und die Politische Ökonomie

Mit "Wirtschaft" ist gelegentlich die Kneipe von nebenan gemeint, mit "Ökonomie" im bayrischen Sprachraum die Landwirtschaft. Das Reich des ökonomischen ist offensichtlich derart grundlegend, dass Verwechslungen gang und gäbe sind. Der gemeine Nachrichtentext verwendet häufig das Wort "Wirtschaft" im Sinne der ökonomisch Mächtigen, etwa in der Floskel; aus "der Wirtschaft" sei schon Opposition gegen die geplante Steuererhöhung laut geworden. Dies ist wohl ein laxer Gebrauch von Begriffen, wie er auch vorkommt, wenn man einem ganzen Land und seinen Bewohnern eine Haltung zuschreibt, die nur deren Regierung einzunehmen beliebt. Hier wird das Ganze unterstellt, wenn eigentlich nur ein Aspekt oder Bestandteil gemeint sein könnte.

Bei ökonomischen Begriffen ist diese Art Verwechslung besonders häufig. Birgit Mahnkopf, links engagierte Professorin aus Berlin, verkündete beispielsweise ausgerechnet auf der Gedächtnisveranstaltung für den marxistischen Ökonomen Jörg Huffschmid voller Inbrunst, Effizienz sei eine Kategorie aus dem Wörterbuch des Neoliberalismus. Umgekehrt werden ökonomische Verhältnisse generell als Markt- und Tausch-Beziehungen überinterpretiert, die aktuelle Produktionsweise des Kapitalismus also für die einzig denkbare gehalten. Der Anthropologe und Anarchist David Graeber begeht (in seinem 2012 in der linken und rechten Presse viel gelobten Buch "Schulden. Die ersten 5000 Jahre") diesen für einen Anthropologen erstaunlichen Fehler und setzt damit familiäre, verwandtschaftliche und politische Verhältnisse den ökonomischen Beziehungen entgegen, während sie in Wirklichkeit nicht nur, aber auch ökonomische Beziehungen sind. Anders gesagt, er sucht die Ursprünge sozialer Institutionen und Verhaltensweisen überall, nur nicht in den Produktionsverhältnissen, also der Organisationsweise der zum Überleben der jeweiligen Gesellschaft notwendigen Arbeit. Materialismus ist bei Graeber ein Schimpfwort, das das von der akademischen Ökonomenzunft postulierte menschliche Verhalten der Nutzenmaximierung bezeichnet. Wie bei diesen Volkswirten ist bei Graeber die Wirtschaft gleichbedeutend mit dem Markt, sind ökonomische Beziehungen nicht Arbeitsbeziehungen sondern nur Tauschbeziehungen.

Graebers Haltung ist leider typisch für auch fortschrittliche Sozialwissenschaftler. Sie engen den Begriff des Ökonomischen auf den Bereich ein, den die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft für sich reserviert - das heißt wenig mehr als den Markt selbst. Sehr ärgerlich ist aber, dass auch gestandene Marxisten dieser sonderbaren Gering- und Fehleinschätzung der Ökonomie unterliegen. Ein Beispiel dafür ist der in vielerlei Hinsicht sehr verdienstvolle Karl Hermann Tjaden. Im Aufsatz "Schwachstellen in der gängigen Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaft" (in Z. - Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 12/2011) wirft er den Marxisten (unter anderem auch sich selbst) sowie Marx und Engels selber einen fehlenden Begriff von "Gesellschaft" und "Wirtschaft" vor. Insbesondere das von Marx und den Marxisten postulierte Mensch-Natur-Verhältnis hält Tjaden für ungenügend. Die zentrale Rolle der Arbeit und insbesondere die, wie Marx schreibt, "Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit" ist für Tjaden schon der Sündenfall, die Überheblichkeit gegenüber der Natur. Tjaden wirft den Begründern des Historischen Materialismus vor, die Produktion von Gütern und die von Reichtum, die Akkumulation schließlich in den Mittelpunkt ihrer Analyse gestellt zu haben. Die Entwicklung der Produktivkräfte, die Fähigkeit der Menschen mehr und mehr zu produzieren, sei für sie Triebkraft der Geschichte. Schließlich wirft er ihnen vor, sich zu stark für das Verhältnis der Menschen, untereinander, die aus der gesellschaftlichen Arbeit resultierenden Klassen- und Herrschaftsverhältnisse zu interessieren.

Die beiden Alten - Marx und Engels - bedürfen keiner Verteidigung gegen diese Art Anwürfe. Gerade sie sind es schließlich, die den Arbeitsbegriff richtig gefasst haben. Selbstverständlich besteht gesellschaftliche Arbeit nicht nur aus Produktion.

Auch reproduktive Tätigkeiten, die sich mit der Aufzucht der Kinder und ihrer Erziehung befassen, ferner all jene, die im Umfeld von Geburt und Tod sowie der Herstellung oder Wiederherstellung der Gesundheit dienen, sowie in den meisten Gesellschaften das Zubereiten des Essens sind Bestandteil der gesellschaftlichen Arbeit. Marx/Engels machen ja gerade nicht den Fehler, den kapitalistisch organisierten Teil der Arbeit für das Ganze zu halten. Sie loben zwar im Kommunistischen Manifest den Kapitalismus für seine Fähigkeit, die Produktivkräfte zu entwickeln, ihnen aber vorzuwerfen, die rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur nicht genug kritisiert zu haben, ist lächerlich.

Wir haben es im Fall Tjaden mit einem vermutlich typischen Fall der Nichtachtung des Ökonomischen zu tun. Angesichts der Dringlichkeit der ökologischen Weltprobleme verlangt hier jemand nach einem harmonischeren Verhältnis zur Natur. Das erscheint liebenswert, menschen- und naturfreundlich. Das Verständnis der Verhältnisse von Mensch zu Natur und Mensch zu Mensch muss aber zunächst der Realität entsprechen. Geschichte und Wirtschaft umzudefinieren, hilf nicht. Will man die Welt verändern, muss sie zunächst verstanden werden. Eine bessere Theorie als die des Historischen Materialismus steht uns nicht zur Verfügung.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-13, 51. Jahrgang, S. 44-50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2013