Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

MARXISTISCHE BLÄTTER/561: Das Schwinden des ersten Arbeitsmarkts und das Anwachsen eines "sozialen" in den Städten


Marxistische Blätter Heft 6-13

Das Schwinden des ersten Arbeitsmarkts und das Anwachsen eines "sozialen" in den Städten

Von Wolfgang Richter



Zurzeit wird der vorläufig letzte Versuch in einer langen Reihe von Experimenten in der Bundesrepublik durchgeführt und 2014 beendet, mit denen "das Phänomen" behandelt wurde, dass auch noch so blühender Kapitalismus Erwerbslosigkeit in großem und immer noch anwachsendem Ausmaß produziert. Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik - oder war es aktivierende Sozialpolitik? - mochte fördern und fordern und strafen wie sie wollte, das Phänomen hat sich nicht kleinkriegen lassen. In Dortmund steht Arbeitslosigkeit im Juni 2013 bei 13,2 Prozent, offiziell festgestellt, also geschönt, und die etwas realistischer notierte Unterbeschäftigung steht bei 16,4 Prozent.

Langsam bröckelt auch im Kernland der EU die Stimmung. TINA, "There is no alternative" - der Konsens der kapitalistisch zusammengeschweißten Wertegemeinschaft - wird zwar gebetsmühlenartig vorgetragen, aber die Hartnäckigkeit des "Sockels" von aus dem System geworfenen Menschen nervt und der Glaube ist verbreitet, es seien die Transferleistungen, die die mit Verfassungsrang gedeckelten öffentlichen Haushalte einengten und kommunales politisches Handeln und Gestalten unmöglich machten. Die "Leistungsträger/innen" fragen, was machen wir mit den überflüssig Gemachten, wo die doch immer mehr werden. Und die "Gutmenschen" und ihre Organisationen fordern selbst immer mehr "Stütze" angesichts des Anwachsens von Armut und Not. Zwar leben hier alle im vergleichsweise (noch) hohen Niveau des Führungslands der imperialistischen EU, aber die unschönen Hinweise auf die im Wortsinn mörderische Ausbeutung der Frauen, Männer und Kinder in Bergwerken, Fabriken und Plantagen in der Ferne lassen sich kaum verdrängen. Das rückt näher und schließlich überfällt auch die sich lange gesichert fühlenden Mittelschichten die verstörende Ahnung eines möglichen Absturzes.

Die neoliberale Stadt aber lässt es umso heftiger krachen und organisiert - soweit sie noch kann - ein Event größer und großartiger nach dem anderen. "Leuchttürme" kommen und gehen in der Silhouette der Stadt oder in ihrer Fläche, Spektakel und Belustigungen auf Plätzen und in stillgelegten Industriebauten füllen die Kalender tags und gerne auch nachts, schließlich wird auch einfach "verkaufsoffen" zum Ereignis erklärt und hält alle bei Laune - es heißt, nicht nur die im Warensystem mithalten können, sondern auch die draußen bleiben und zuschauen müssen.

Man ist sich einig: Über Klassengesellschaft wird nicht gesprochen - bürgerliche Demokratie und Politik setzt auf "Chancengleichheit für alle Kinder", auf zu lernendes Kämpfen und Konkurrieren von Kindheit und Jugend an und auf Stärkung des Ego und der Ellbogen fürs "Chancengleiche Wettbewerben" in der Warengesellschaft. Im Wahlkampf 2013 kommt das so rüber: "Meine Mudda wird Chef. Und Du?" Und die beiden Großen umarmen alle, die sie wählen sollen: "Wir gemeinsam", "Das Wir entscheidet", "Gemeinsam erfolgreich für Deutschland" und spielen so auch wieder die nationale Melodie.

Als Marxist/innen sehen wir Geschichte als die Geschichte der Klassenkämpfe. Wir schauen auch in der Gegenwart auf die Klassengesellschaft und ihre Grundlagen. Es geht weiterhin um Eigentum und seine Vermehrung, nicht zuletzt an Grund und Boden, um Ausbeutung der körperlich und geistig Arbeitenden, um private Aneignung der Arbeitsergebnisse und des Öffentlichen, um die Sicherung des Angeeigneten und noch Anzueignenden, um Kämpfe und um Krieg. Die 0,1 Prozent - jemand hat die herrschende Klasse unserer Zeit so gerechnet[1] - agieren wie eh und je, allerdings in dem für das 21. Jahrhundert entwickelt hohen Niveau der "Befreiung von staatlicher Gängelung". Im Zentrum ihrer Interessen und denen ihres Finanzmanagements stehen die Fragen bestmöglicher Kapitalanlage und die Suche nach höchstsubventionierten Flächen und Vertragsrahmen für Finanzinvestitionen. Nicht zuletzt stehen dafür die Stadtregionen in ihrem Fokus und deren innere und äußere Vernetzung mit Verkehrswegen und Logistik zur öffentlichen Sicherung privat verwerteter Warenströme. Und es geht um die profitable Organisation von Produktion und Reproduktion selbst, um den Arbeitsprozess, um die Ware Arbeitskraft als die mehrwertschaffende "Ressource", ihre Herstellung und ihren Erhalt, ihre stetige Qualifizierung oder ihre kurzfristige Vernutzung als Wegwerfprodukt.

Entwicklungen in diesen Sektoren verändern die Städte und ihre Bewohner/innen - nicht nur im Unsichtbaren, im Innersten, sondern durchaus sichtbar und materiell wie sinnlich sehr erfahrbar. Es ist nicht beliebig, wie die Klassenkämpfe geführt werden, wer sie gewinnt und wer sie verliert.

"Hauptsache Arbeit" - die Sache mit den Arbeitsmärkten

Das weitgehende Verschwinden der großen und hoch entwickelt gewesenen Industrie aus den Städten ist unübersehbar - damit verschwinden auch die zu großen Anteilen qualifizierten industriellen Arbeitsplätze für Arbeiter und Arbeiterinnen, seien es nun hoch qualifizierte oder solche für Hilfstätigkeiten. Was früherer als Kern der organisierten und kampfbereiten Arbeiterklasse angesehen wurde, ist inzwischen zu großen Teilen frühverrentet, abgefunden, umgesetzt, in Beschäftigungsgesellschaften oder im Transferleistungsbezug. Der vielbeschworene Strukturwandel weg von der schmutzigen "Schwarzkittel- und Blaumann-Arbeit" hin zu den sauberen "Dienstleistungen" - neuerdings ist "Kreativ-Wirtschaft" hoch im Kurs - hat viele in der großen Industrie beschäftigt gewesene Menschen, deren Familien sich teils über Generationen im Betrieb sicher fühlten, nicht mitgenommen.

In manchen Städten ist nun die Kommune - "der Konzern" mit seinen Verwaltungsabteilungen, Eigenbetrieben und Töchtern - das größte Unternehmen am Ort. Diese Konzerne können nicht einfach verschwinden, weil sie wegen ihrer grundlegenden Pflichtaufgaben Verfassungsrang haben. Allerdings können ihre Handlungsfähigkeiten ökonomisch massiv eingegrenzt werden, indem ihnen sukzessive mehr Aufgaben gesetzlich übertragen, ihnen weniger Finanzmittel zugeteilt werden und ihnen zur Sicherheit vor zu großem, etwa zu sozialem Einsatz in den freiwilligen Aufgaben eine "Schuldenbremse" verordnet ist. Tatsächlich aber verschwindet die Stadt als gestaltendes Gemeinwesen, als politische Handlungsebene, wenn sie ihren Haushalt nicht mehr ausgeglichen aufstellen kann und unter Staatsaufsieht gestellt wird.

Einige ganz wenige Zahlen zu den Verhältnissen in Dortmund sollen verdeutlichen, was seit einigen Jahren, in der lokalen Umsetzung neoliberaler Politik und Verwaltung vor sich geht.[2] Dortmund ist nicht prototypisch für die Städte in Deutschland, insofern kann, was sich hier bewegt, kein allgemeines Beispiel setzen oder gar Repräsentativität beanspruchen. Die Stadt und die hier vorfindlichen Veränderungen sind aber auch nicht untypisch oder außerhalb der politischen Grundströmungen und Regierungstechniken, sodass sie durchaus zum Gegenstand der Diskussion taugen.

Im Juni 2012 waren in Dortmund ca. 204.800 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt gegenüber ca. 195.900 im Juni 2002, was eine immer wieder als "Erfolgsbilanz" verkündete Steigerung um 10,5 Prozent innerhalb von 10 Jahren ist. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich allerdings die in der Regel verschwiegene Zahl der geringfügig Beschäftigten nahezu von ca. 32.500 auf ca. 62.900, was im Juni 2012 einen Anteil an allen Beschäftigten von 30,7 Prozent darstellte - fast jede/r dritte Beschäftigte war jetzt zusätzlich zum offenbar nicht ausreichend entlohnten Job oder ausschließlich geringfügig beschäftigt. Die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten betrug im Juni 2012 ca. 45.600 (2002 wurde diese Zahl noch nicht getrennt erhoben), was einen Anteil an allen Beschäftigten von 21 Prozent darstellt - mehr als jede/r fünfte Beschäftigte war im Juni 2012 ausschließlich geringfügig beschäftigt (womit er/sie nur über maximal 400 Euro aus Erwerbstätigkeit verfügten).

Die größten Kontingente der ca. 62.900 geringfügig Beschäftigten arbeiteten in Dortmund 2012 im Groß- und Einzelhandel (ca. 18.100), in der Gastronomie (ca. 5.800), im Gesundheits- und Sozialwesen (ca. 5.200), in Verkehr und Logistik (ca. 3.900). Im Wesentlichen sind die Gewerkschaften ver.di und NGG als hier zuständige Tarifparteien berührt.

Im Juni 2012 waren in Dortmund in offiziellen Zahlen ca. 38.000 Menschen als arbeitslos festgestellt (was eine Arbeitslosenquote von 13,2 Prozent bedeutete), davon der weitaus größte Teil - ca. 31.100 - in SGB II, mit anderen Worten im Bezug von Transferleistungen. In der realistischeren, inzwischen auch offiziellen Zählung der Unterbeschäftigung waren ca. 49.000 Menschen (was eine Unterbeschäftigungsquote von 16,5 Prozent bedeutete) unfreiwillig und mindestens teilweise erwerbslos.

Von den ca. 31.100 gezählten Arbeitslosen und Transferleistungsberechtigten waren im Juni 2012 fast die Hälfte, ca. 14.400, erwerbstätig, davon hatten ca. 8.000 weniger oder gleich 400 Euro Einkommen, was die Grenze für Minijobs war (die heute auf 450 Euro angehoben ist), ca. 2.400 hatten zwischen 400 und 800 Euro und ca. 2.700 hatten mehr als 800 Euro, ca. 1.200 waren selbstständig erwerbstätig (ohne Angabe ihrer Gewinn- und Verlustrechnungen). Alle diese blieben trotz Erwerbstätigkeit im ergänzenden Bezug von Transferleistungen - Sogenannte "Aufstocker/innen". Fünf Jahre zuvor, im Juni 2007, waren diese Zahlen noch erheblich niedriger - damals waren ca. 11.100 erwerbstätig, davon hatten ca. 6.500 weniger oder gleich 400 Euro, ca. 1.500 zwischen 400 und 800 Euro und ca. 2.400 mehr als 800 Euro, ca. 700 waren selbständig erwerbstätig.

Bei der Stadt Dortmund als kommunale Beschäftigerin waren im "Kernbereich" Ende 2012 ca. 9.500 (8.200 vzv.) Menschen beschäftigt - zehn Jahre zuvor waren es noch ca. 8.500 (7.600 vzv.) und damit ca. 1.000 weniger gewesen.[3] Das war eine Entwicklung gegen die erklärte Absicht des Oberbürgermeisters und des Verwaltungsvorstands, deren Zielvorgaben "Verwaltung 2020" ab 2007 zum gewohnten "Sparen" im Personalhaushalt, mithin in der Beschäftigung, zusätzliche Radikalität angesagt und in den Haushaltsplanungen ab 2008 zunächst jährlich 2,5 Prozent, jedoch alsbald auf 2 Prozent und schließlich auf 1,5 Prozent Kürzungen korrigiert, festgelegt hatten. Auch diese Vorgaben wurden nicht eingelöst. Der offensichtliche Widerspruch "mehr Beschäftigte - weniger Personalkosten" könnte daher nur gelöst werden, indem erkämpfte Standards der Arbeitsvolumen und -dichte, der Entlohnung, bei den Beamt/innen der Arbeitszeit und der Vergütungen, und weiterer tariflich vereinbarter Leistungen gesenkt würden. Dies war in der erkennbar bereits vorhandenen gesundheitlichen Notlage und psychischen Überforderung gestresster Beschäftigter an vielen kommunalen Arbeitsplätzen in der geplanten Radikalität nicht mehr machbar.

Neoliberale Lösungen sehen in aller Regel, so auch hier, für das Einsparen der Standards die mittleren und unteren Beschäftigungsstufen vor und gewinnen dabei noch Reserven für ein Erhöhen der oberen und obersten Stufen. Auch im Öffentlichen Dienst spreizt sich das Tarifgefüge über die Maße der Tarifverträge hinaus, indem "ganz oben" und "ganz unten" offen außertarifliche Beschäftigung hergestellt oder hinzugefügt wird. In dieser Strategie spielen ganz oben die gepolsterten Plätze zur Aufsicht in Eigen- und Tochterbetrieben eine willkommene Rolle in der Anreicherung der Tarifbezüge. Ganz unten sind Programmbeschäftigte willkommen - Ein-Euro-Jobber/innen und aktuell Bürgerarbeiter/innen. Ihre Beschäftigung steht außerhalb der Tarifvereinbarungen, auch wenn oft und gern behauptet wird, sie seien darin aufgehoben. Die Laufzeit des aktuellen Programms, der Bürgerarbeit, endet 2014. In Brüssel, Berlin, Düsseldorf und Dortmund müssen neue Programme konstruiert werden - ein Ausstieg aus dieser eingeschliffenen Praxis scheint nicht möglich, ohne ganze Verwaltungsabteilungen der Kommunen lahmzulegen, die ihre Arbeit auf diese Form der subsidiären Hilfstätigkeiten aufgebaut haben. Der Oberbürgermeister sagte es 2011 bei der Vorstellung der "Arbeitsmarktstrategie 2015" deutlich: "Wir wollen pro Jahr 1,5 Prozent unserer Personalkosten reduzieren und durch Fremdfinanzierung unseres Personals den Haushalt entlasten." Seine "Fremdfinanzierung" waren Mittel aus Berlin und Brüssel zur befristeten Förderung von Projekten mit Programmbeschäftigung.

Ich nenne solche nachrangige, die Tarifverträge und ihre Systematik unterlaufende Beschäftigung "Dritte Arbeit".[4] Das bedarf einer knappen Erläuterung, wie sie aus einer Klassenanalyse des Kapitalismus abgeleitet werden kann. In diesem Sinn bezeichne ich

- "Erste Arbeit" als Lohnarbeit in mindestens ausreichender Produktivität und Fähigkeit zur Reproduktion - hier herrscht so etwas wie die "reine Lehre", ein "funktionierender Kapitalismus" in sich entwickelndem Prozess und je erreichtem Niveau, gesellschaftlich getragen und indirekt vielfältig gefordert. Im klassischen ersten Arbeitsmarkt arbeitet der größte, aber generell abnehmende Teil der Klasse, seit längerer Zeit unter sich verschlechternden Bedingungen und stets gefährdet, "freigesetzt" zu werden.

- "Zweite Arbeit" als öffentlich geforderte Lohnarbeit in ungenügender Produktivität und ungenügender Fähigkeit zur Reproduktion - hier überlebt der Kapitalismus in direkter "Stütze" des Staates, er braucht die Subventionierung seines Motors, der stottert. Im zweiten Arbeitsmarkt arbeitet ein den Stütz-Programmen für Unternehmen folgend unterschiedlich großer, jedoch insgesamt und insbesondere in Krisenzeiten durch z. B. subventionierte Kurzarbeit anwachsender Teil der Klasse.

- "Dritte Arbeit" als Beschäftigung außerhalb des "Systems" in niedriger Produktivität und einer Reproduktion, die gerade zum Überleben ausreicht - hier herrscht bei "abwesendem Kapitalismus" öffentliche Patronage zur Ausbeutung der Restarbeitskraft zum Zweck der baren Existenz-Sicherung. Im dritten Markt, dem der Beschäftigungsprogramme - wird ein der Haushaltslage folgend unterschiedlich kleiner, jedoch insgesamt anwachsender Teil der Klasse "beschäftigt".

"Hauptsache Arbeit" - das suggerieren der Möglichkeit freier Entscheidungen der offiziell "Chancengleichen" für das Betreten eines dieser Arbeits- und Beschäftigungsmärkte oder für das Klettern aus einem unteren in einen oberen ist der Politik in diesem Stadium des Kapitalismus alle ideologische Anstrengung wert. Dies zu durchschauen und zu bekämpfen muss der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung jede Anstrengung wert sein.

Die Konstruktion der "Minderleistung"

In Wahrheit ist die "freie und soziale Marktwirtschaft" sukzessive und vergleichsweise kampflos von der Aufgabe oder gar der Verantwortung befreit worden, Arbeit für alle Erwerbsfähigen einzurichten, zu halten und zu entwickeln und die Beschäftigten fortlaufend so zu qualifizieren und so einzusetzen, dass ihre Arbeitskraft erhalten wird und sich entwickeln kann. Das gleiche trifft inzwischen auch auf die öffentlichen Unternehmen zu - kein Wunder, machen sie doch alle Anstrengungen, selbst als "Konzerne" zu agieren. Ausbeutungs- und Konkurrenzprinzip brauchen das stetige Mindern des Anteils der "lebendigen Arbeit" und verdichten den Arbeitsprozess so weitgehend, dass "nicht mehr alle mitkommen", wie sie "oben" sagen und entsprechend entscheiden: Der Rauswurf oder das gar nicht erst Reinlassen ist die Lösung im entfesselten Kapitalismus - die "Minderleistung" ist geboren.

Derzeit scheint es gesellschaftlich - und das heißt in den Klassenkämpfen - akzeptiert zu sein: Wo die Arbeitenden nicht mehr so richtig können, müssen Arbeitsplätze für sie - wenn es sie noch gibt oder sie nun wieder eingerichtet werden - öffentlich subventioniert werden. Das letzte Programm von 2012 heißt "Förderung von Arbeitsverhältnissen" (FAV) und subventioniert die Bruttolohnkosten "je nach Minderleistung" bis zu 75 Prozent. Das Ausmaß einer Minderleistung wird im Jobcenter festgestellt und laufend überprüft - die Prozeduren der Beurteilung und die Urteile bleiben hängen, setzen sich zählebig fest und stigmatisieren die "Minderleistenden". Ich zähle diese Art des Förderns und Forderns zum Zweiten Arbeitsmarkt, weil die Subventionierung die Arbeitenden mit regulären Arbeitsverträgen in den Betrieb bringt und sie nicht "außen vor" lässt. Im Betrieb werden sie "weit unten" stehen, sowohl was die Eingruppierung anbetrifft als auch in der Annahme und Akzeptanz durch die Kolleg/innen, von der Betriebsleitung zu schweigen, die sich vor allem als Gutmensch-Management präsentieren möchte. Es ist real eine Einbindung in Lohnarbeit, zwar eine im "stotternden Kapitalismus", jedoch mit dem Anspruch auf Anerkennung, Solidarität und Anwendung des Arbeitsrechts. Um das alles muss gekämpft werden - Tarifvertragsgerechtigkeit wird nicht von allein herrschen. Wo profitorientierte Unternehmen und Betriebe ihre Produktion ohne Hilfsarbeiten eingerichtet, sie womöglich weggegeben oder als "Jobenrichment" untergebracht haben, nehmen sie solche "geförderten Arbeitsverhältnisse" allerdings nur an, "wenn es sich rechnet ...".[5]

Programme für Beschäftigungsmaßnahmen bedienen hingegen den Dritten Arbeitsmarkt - vereinfacht ließe sich sagen, wo (Drecks-) Arbeit ansteht, deren Gegenwert niemand entrichten will. Platz für Dritte Arbeit wurde bisher gerade nicht in Betrieben gesucht, sondern durfte explizit nicht den Arbeitsmarkt (weder den ersten noch den zweiten, weder den privaten noch den öffentlichen) betreten. Dritte Arbeit verpflichtet die erwerbsfähigen, aber aus dem Arbeitsmarkt Herausgeworfenen dazu, sich auf ihn einzustellen ohne ihm zu nahe zu kommen - die unauflösbare Quadratur des Kreises. Sie findet generell außerhalb des Systems organisierter oder organisierbarer Klassenkämpfe statt. Sie und die sie verrichtenden Menschen begründen eine neue Art des alten Kastensytems aus Dienen und Bedientwerden - das lebt fern von Tarif- und Lohnsystematik wieder auf. Es ist der eigentliche Bruch, die Nichtanerkennung und der Ausschluss aus der Gesellschaft.

Gegen Ende der heillosen Modellversuche in der "aktivierenden Sozialpolitik" seit der sozialdemokratischen Erfindung und Durchsetzung von Hartz IV und in Kenntnis ihrer Defizite hat nun die Suche der Politik und der Arbeitsverwaltung nach grundsätzlicheren Lösungen begonnen, in der Folge der Bildung einer neuen Bundesregierung kann es schnell gehen. Offenbar setzt die aktuelle Strategie auf Zurücknahme des Volumens Dritter Arbeit und auf Stärken des Ausmaßes Zweiter Arbeit. Erste Informationen sagen aber gleich, dass Grundsätze nicht angefasst werden. Wie auch, wenn das kapitalistische Unternehmensprinzip nicht zur Debatte oder gar infrage steht. Vor allem die Bundesanstalt für Arbeit drängt darauf, eine Art FAV - die Förderung von Arbeitsverhältnissen - in größerem Maßstab aufzulegen und weiterzuführen. Auch SPD und Grüne schlagen vor, mit den Förder- und Forderprogrammen in Zukunft vor allem den Zweiten Arbeitsmarkt zu stärken und den Einsatz von Erwerbslosen für ihn massiv zu subventionieren, was im Ergebnis vor allem auch eine Subventionierung der Unternehmen und Betriebe sein wird. Die BA nennt das ziemlich verkorkst "Arbeitsweltnahe 'Perspektiven in Betrieben' des 1. Arbeitsmarkts."[6] Als einzige Bundestagspartei beharrt "Die Linke" bisher auf einem vom Profitinteresse unbelasteten und vor ihm zu schützenden Dritten Arbeitsmarkt. Der hat inzwischen auch einen eigenen Namen bekommen - "Sozialer Arbeitsmarkt". Der beschönigende Name darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass in ihm alle Defizite der Dritten Arbeit ankommen und zum Grundsatz erhoben werden.

Die Klasse der körperlich und geistig im Lohnverhältnis Arbeitenden - die für ihre Arbeitsbedingungen verhandeln, kämpfen, streiken und Tarifverträge abschließen kann - hat eine Unterschichtung, genauer eine "Unterklasse" erhalten, die für lau arbeiten muss bzw. für eine Aufwandsentschädigung, deren Höhe von der Haushaltslage abhängt und nicht verhandelbar ist. Es geht um das Existenzminimum, welches "gewährt" wird und für dessen relatives oder reales Absenken immer Argumente in der Politik zu finden sind. Dieser Teil der Klasse wird alimentiert - es gibt für ihn nichts zu verhandeln, allenfalls zu erbitten. Er ist raus aus den Kämpfen für Lohn und Arbeitsbedingungen, etwa für "Gute Arbeit" - solche Kampagne klingt, besonders ihm, wie Hohn. Es ist um das Spalten der Klasse gegangen und das scheint bis hierhin gelungen. Die Auswirkungen, die das für das Organisieren ihrer Kämpfe hat, sind einerseits unübersehbar und andererseits in Reichweite und Tiefe kaum abschätzbar.

Klassen- und andere Kämpfe in der Stadt

Kommunen können immer mehr und immer wichtigere Teile ihrer Aufgaben nicht mehr ohne Programmbeschäftigung erledigen. Nach dem sukzessiven Auspowern ihrer Haushalte unter dem Logo "Privat vor Staat" sind sie ohnehin fast nur noch auf das Erfüllen der Pflichtaufgaben verwiesen und können sich mit freiwilligen Leistungen kaum oder gar nicht mehr befassen. Sollte es da noch Zweifel gegeben haben, so sind sie mit der Einführung von "Schuldenbremsen" auf allen staatlichen Ebenen beseitigt worden. In Dortmund wird der Haushalt von Jahr zu Jahr gerade noch als ausgeglichen und genehmigungsfähig geschätzt und gerechnet, aber nachrechnen möchte man es nicht.

Die Oberbürgermeister und Kämmerer hatten lange Zeit ihre Chancen für Investitionen in Schulen und Sportanlagen, Rathäuser und Ämter in Public-Private-Partnership-Projekten (PPP) gesehen - fälschlich, wie leicht zu durchschauen war, wo sollten denn die Gewinne der Privaten herkommen? In Wahrheit wurden sie als Kosten den folgenden Haushalten aufgehalst, was sie noch näher an die Insolvenz führte. Wo nun auch kommunale Infrastrukturen und Immobilien grenzübergreifend verpachtet oder gleich versilbert sind, gibt es nichts mehr zuzusetzen, wenn unabweisbare Pflichtaufgaben anwachsen und freiwillige Aufgaben von Politik und Stadtgesellschaft formuliert werden. Folgerichtig suchen Verwaltungsvorstände nach möglichst kostenfreier, wenigstens kostenneutraler Erfüllung solcher Aufgaben. Nichts bietet sich - neben der Beanspruchung von immer umfänglicherer Ehrenamtlichkeit - eher an als fremd geförderte Programmbeschäftigung mit dem immer vielfältigeren Einsatz von Hilfskräften. Beides sind bewusst hergestellte Formen der Entprofessionalisierung und führen oft nur mühsam verdeckte Standard- und Qualitätsminderung der kommunalen Dienstleistungen mit sich. Wieder spielen PPP-Projekte eine Rolle - diesmal geht es um Public-Public-Partnership. Die Finanzierung der Beschäftigungsprojekte muss aus öffentlichen Haushalten zusammengekratzt werden - aus dem Sozialfonds der EU und aus den Bundes- und Landeskassen, ohne Zuzahlung aus der eigenen funktioniert diese Partnerschaft aber auch nicht. Ob, warm und in welchem Tempo dieser Tropf für Projekt-Finanzierungen versiegt, ist sowieso eine bleibende Drohung.

Die Verlagerung kollektiv tariflich vereinbarter Arbeitsverhältnisse gegen Entlohnung auf staatlich alimentierte Beschäftigung in lediglich das Existenzminimum sicherndem Niveau - von Erster Arbeit über Zweite bis hinunter auf Dritte - verändert die Städte und das Leben in ihnen tiefgreifender, als es oberflächlich erscheinen mag. Zwar drängelt sich die wachsende Zahl der Ein-Euro-Jobber/innen, Bürgerarbeiter/innen und anderer Programmbeschäftigter im Straßenraum, im ÖPNV und in Grünanlagen überall ins Blickfeld, wo sie sich für SOS - Sauberkeit, Ordnung, Sicherheit - zu kümmern und einzugreifen haben. Weniger sichtbar haben sie auch bei den Tafeln und in Sozialzentren, Schulen und KiTas Hilfsarbeiten durchzuführen, an Pförtnereien aufzupassen und Lotsendienste zu leisten. Der oberflächliche Blick sieht die Dienenden fast schon nicht mehr, so sehr haben sich die Bedienten an sie und die sie indienstnehmenden Verhältnisse gewöhnt. Es sind Klassenverhältnisse, an die sich auch die Klasse selbst zu gewöhnen droht.

Die ca. 450 Bürgerarbeiter/innen bei der Stadt Dortmund waren im Juni 2012 ca. zur Hälfte in Schulen als Hausmeistergehilf/innen eingesetzt und haben dort neben ihrer formalen Zuweisung "zusätzliche Arbeiten" durchzuführen, jedoch ganz normale Hausmeister- und Hauswarttätigkeiten nach Tarifvereinbarung unter Anleitung der Hausmeister/innen ausgeführt. In der Praxis an den Schulen konnten sie weniger als 20 Prozent Zeitanteile auf zusätzliche Tätigkeiten im Sinne der Anweisungen für die Programmbeschäftigung verwenden, mehr als 80 Prozent Zeitanteile mussten sie den tarifierten Tätigkeiten der Berufsgruppe widmen. Würden diese notwendigen Arbeiten nicht auf diese Weise "außertariflich" ausgeführt, wären mehr als 80 weitere Tarifstellen für Hausmeister/innen und Hauswart/innen einzurichten, das wären ca. 40 Prozent Stellen mehr als sie derzeit geführt und besetzt sind.[7]

Dies ist gegenwärtig der dickste Brocken, die anderen könnten analog gerechnet werden, z. B. die Küchenhilfen in KiTas usw. Die Tarifparteien hatten sich im Rahmen von "Konsensrunden" - sie heißen wirklich so - aus Arbeitsverwaltung, Stadtverwaltung, Unternehmensverbänden und Gewerkschaften auf diese "Ersatzvornahme" geeinigt. Eile war geboten und das Angebot weitreichender Fremdfinanzierung für ca. 500 "zusätzliche", außertarifliche Hilfsarbeiter/innen war Verlockung genug. (Auch) im kommunalen Sektor zerbröselt das ehedem geschützte Tarifgefüge sichtbar und verletzt das Tarifrecht und das Verhandlungsgeschehen zu Lasten der Beschäftigten - sowohl der tariflich Beschäftigten als auch der Programmbeschäftigten. Diese Strategie wird im Öffentlichen Dienst wie im privaten Sektor umso widerstandsloser und umso folgenschwerer durchgesetzt, je mehr die tariflich Beschäftigten, die Programmbeschäftigten und die Erwerbslosen die bewusst eingesetzten Spaltungen zulassen, statt ihre Gemeinsamkeiten zu suchen und diese zu entwickeln. Mit anderen Worten, es gilt zu erkennen, wo und wie die Klassengrenzen verlaufen - nicht zwischen ihnen.

Wolfgang Richter, Dortmund, Prof. i. R., lehrt Architektur und Baukonstruktion an der FH DO



Anmerkungen

[1] Hans-Jürgen Krysmanski, 0,1 % - das Imperium der Milliardäre, Frankfurt/M. 2012

[2] Zahlen eigene Zusammenstellungen und Berechnungen aus Geschäftsberichten und BA-Statistiken

[3] Im "Konzern Stadt Dortmund" erhöht sich die Beschäftigtenzahl um ca. 500 im Eigenbetrieb "Theater Dortmund" (Ende 2012). Die 100-%-Tochter "Dortmunder Stadtwerke (DSW21)" beschäftigt Ende 2012 ca. 2000 Menschen (Ende 2002 ca. 1900) und deren 53-%-Tochter "Dortmunder Energie- und Wasserversorgung (DEW21)" ca. 1000 Menschen (Ende 2002 ca. 1200).

[4] Vgl. ausführlicher Wolfgang Richter: Lohnarbeit, geförderte Lohnarbeit und "Dritte Arbeit", in Projekt Klassenanalyse@BRD (Hrsg.): Mehr Profite - mehr Armut. Prekarisierung und Klassenwiderspruch. Essen 2007

[5] Besonders einleuchtende Beispiele beschrieb das Jobcenter Berlin im Januar 2013 den Arbeitgebern: "In vielen Unternehmen übernehmen Fachkräfte Zusatzaufgaben, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Beispiele aus dem Arbeitsalltag zeigen, wie sehr die Produktivität der Mitarbeiter darunter leiden kann: Die Lebensmittelverkäuferin muss häufig ihren Arbeitsplatz verlassen, um neue Waren aus dem Kühlraum zu holen. / Der Bäcker reinigt seine Kuchenbleche selbst. / In einem mittelständischen Metallunternehmen verbringt der Betriebsschlosser so ganz nebenbei wöchentlich mehrere Stunden, um die Halle zu fegen. Die Förderung von Arbeitsverhältnissen nach § 16,2e SGB II bietet Ihnen die Chance, genau diese Arbeiten neuen Mitarbeitern zu übertragen. ... Der Zuschuss dient dem Ausgleich der Minderleistung."
(httpt//www.arbeitsagentur.de/Dienststellen/RD-BB/Berlin-Mitte/AA/Arbeitgeberservice-AGS/generische-Publikation/AGS-16e-web.pdf)

[6] Vgl. Seite 9 in
http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a11/anhoerungen/2013/l29_Sitzung_Soz_Arbeitsmarkt/ Stellungnahmen_17_11_1112.pdf

[7] Eigene Erhebungen und Berechnungen auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung am Beispiel der Stadt Dortmund von Wolfgang Richter und Irina Vellay, Bürgerarbeit - Teil der großen Umverteilung? Dortmund 2013, veröffentlicht u.a. bei:
http://www.harald-thome.de/media/files/5.2013-Workfare.Dienstpflicht.Hausarbeit.pdf

*

Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-13, 51. Jahrgang, S. 68-74
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: redaktion@marxistische-blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de
 
Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 9,50 Euro, Jahresabonnement 48,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2014