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MARXISTISCHE BLÄTTER/563: Blick nach vorn auf die Herausforderungen


Marxistische Blätter Heft 1-14

Blick nach vorn auf die Herausforderungen

Von Robert Steigerwald



Kollegen, Freunde und Genossen beiderlei Geschlechts,

wir sind zusammen gekommen, um uns dessen zu erfreuen, dass wir es geschafft haben, die Zweimonatszeitschrift "Marxistische Blätter" fünfzig Jahre lang am Leben zu erhalten. Sie ist damit die älteste in deutscher Sprache erscheinende marxistische Zeitschrift für Theorie und Politik. Dies war keinesfalls selbstverständlich zu erwarten, gründeten wir doch die Zeitschrift während der schwarzen Jahre des KPD-Verbots und es war nicht sicher, ob wir alles bedacht hatten, um unser neues Projekt sicher durch die Untiefen und Klippen des Kalten Krieges zu steuern. Nun, das ist gelungen und nun geht es um die nächsten fünfzig Jahre. Auch das wird eine Aufgabe sein, deren Meisterung mit vielen Wenn und Aber verbunden ist. Und dies vorweg, ich werde nicht über die vergangenen fünfzig Jahre sprechen, was ich dazu zu sagen habe, wie alles begann, ist in den Marxistischen Blättern (6-2013) veröffentlicht worden.

Ich möchte zu Beginn einiges über Schwierigkeiten unseres Arbeitens sagen und fange gleich mit einer solchen an. Wir wollen uns mit unserer Arbeit nicht vorweg an Intellektuelle wenden, sie haben, sofern sie das wollen, genügend Material, um sich in Sachen Marxismus informieren (oder dazu polemisieren) zu können. Wir sind der - nach mancher Leute Meinung - altertümlichen Überzeugung, dass die Arbeiterklasse nicht alles ist, dass es aber ohne sie keinen Weg aus dem Kapitalismus geben wird. Auch dies wissen wir, dass die heutige Arbeiterklasse nicht dieselbe wie zur Zeit des "Kommunistischen Manifests" ist, dass sich aber ihre grundlegenden Existenzbedingungen nicht wesentlich verändert haben. Aus solchen Gründen wollen wir "unseren" Marxismus möglichst so verbreiten, dass er in die Arbeiterklasse hinein zündend wirkt, dazu beiträgt, sie aus ihrem gegenwärtigen Zustand herauszureißen. Manche nennen diesen Zustand Schlaf, was so nicht zutrifft, die vielen Streiks der Gegenwart beweisen Anderes.

"Zündend wirkt", sagte ich, aber warum zündet, was wir sagen und vorschlagen, nicht so gut wie wir wollten? Es gibt dafür einige handfeste Gründe, dies wären einige davon: In unserem Land waren zwölf Millionen Männer und Frauen Mitglieder der Nazi-Partei, weitere viele Millionen in einer der Nazi-Massenorganisationen, was sie dort "gelernt" haben, das haben sie zumindest nicht alles aus den Köpfen hinausgeschafft. 16 Prozent unserer Mitbewohner sind Umsiedler, die haben für ihr Leid nicht Hitler, sondern die Sowjetunion verantwortlich gemacht, denn dass ihre Umsiedlung von den vier Besatzungsmächten schon in der Potsdamer Konferenz begründet und beschlossen wurde, das wissen sie nicht oder wollen sie vergessen. Die vom FDP-Justizminister Kinkel nach 1989 geforderte Delegitimierung des Sozialismus ist nicht unwirksam gewesen. Kurzum, es gibt da nicht wenige Gründe und wenn wir zu diesen auch noch hinzunehmen, dass Kommunisten ja auch nicht ohne Fehl und Makel waren und die Tatsache, dass es unserem Normalbürger - trotz aller Probleme - in diesem verdammten kapitalistischen Land alles in allem gesehen doch erträglich gut geht, so kann man verstehen, dass es bei ihnen nicht so rasch zündet, wenn wir ihnen sagen, man müsste sich doch diesen Kapitalismus je eher desto besser vom Halse schaffen.

Außerdem sehen wir doch auch, dass alle politisch aktiven Kräfte - bis hin zu den Päpsten (vielleicht macht der jetzige da eine gewisse Ausnahme) alles unternahmen und unternehmen, um in der Arbeiterklasse den Gedanken gar nicht entstehen zu lassen, dass wir mit dem Kapitalismus um unserer selbst brechen müssen.

Ich möchte hier ein lehrhaftes Erlebnis einflechten. Vor einiger Zeit nannte mich ein alter, sehr verdienter Genosse - viele von Euch werden seinen Namen kennen: Kurt Gossweiler heißt er - einen "demokratischen Kommunisten", weil ich in bestimmten Fragen, Stalin und Chruschtschow betreffend, nicht mit ihm übereinstimme. Er hat wohl vermutet, mich mit dieser Bezeichnung zu verletzen, womit er sich aber getäuscht hatte, denn ich will ein demokratischer Kommunist sein. Ich habe diese Bezeichnung angenommen. Als die "junge Welt" vor einiger Zeit ein Interview mit mir führte, benutzte sie diese Kennzeichnung als Überschrift. Als ich einem vor Kurzem verstorbenen Betriebsratsvorsitzenden, der sich mühsam uns politisch angenähert hat, Wahlberechtigungsbescheinigungen für uns unterschrieb, uns wählte, diese "junge Welt" übergab, sagte er, mit dem Lesen beginnend: "Demokratischer Kommunist? Das geht doch gar nicht, gibt es doch gar nicht."

Nun, da habt ihr einen der Gründe, warum so gar manches von uns eben nicht "zündend" wirkt, und das zeigt uns, dass wir es mit einer schweren Aufgabenstellung zu tun haben.

Aus solchen Einsichten folgt einiges zur Methodik unseres Arbeitens. Wir müssen unsere Themen mit der höchsten uns möglichen Exaktheit und bestem theoretischen Wissen entwickeln, aber zugleich dies in einer demokratischen, das heißt allgemeinverständlichen Schreibweise zu leisten versuchen. Dazu würde es auch beitragen, wenn es uns gelange, mehr "Praktikerinnen" und "Praktiker" in die Arbeit einzubeziehen, sei es als Autorinnen und Autoren, sei es als Partner in Diskussionen. Wichtig wird es dabei sein, die Probleme, mit denen wir uns befassen müssen, was ja nicht nur von uns abhängt, so darzubieten, dass den von uns gewünschten Adressaten der Zusammenhang solcher Probleme mit ihrem eigenen Leben erkennbar ist. Wer über Mieten reden will oder über das Bildungssystem oder über Renten und Pflege, muss letztlich beim Kapitalismus und damit bei Marx ankommen. Nur muss er oder sie so ankommen, dass er oder sie verstanden werden können - wozu der direkte Umgang mit Leuten aus dem arbeitenden Volk sehr viel beiträgt. Luther hat bekanntlich dem Volk aufs Maul geschaut - und sein Deutsch hat auf die Sprache Brechts noch mehr eingewirkt, als jene Goethes.

Ich will noch bei schwer zu leistende Aufgaben bleiben, zu ihnen gehört sicherlich jene Aufgabe, aber wenn wir sie nicht meistern, wird es keine zweiten fünfzig Jahre, sondern sicher weitaus weniger Jahre geben. Als wir die Zeitschrift gründeten, gab es im Land eine ansehnliche Zahl von Autorinnen und Autoren, organisatorischen und technischen Helferinnen und Helfern, deren Reihen inzwischen durch die Natur gelichtet wurden. Wir haben es folglich mit der Frage zu tun: Wo kommt das neue, nötige Personal her? In Diskussionen und Veranstaltungen erleben wir, dass eine beachtliche Zahl junger Leute sich gute Kenntnisse auf dem Gebiet der Theorie und der Geschichte angeeignet hat, aber es fehlt - das kann gar nicht anders sein, kommen sie doch zum großen Teil von Schulen und Universitäten - an Erfahrungen betrieblicher und gewerkschaftlicher Art, also an Erfahrungen über das "Unten, wo das Leben konkret ist". (Hegel). Und es gibt sie nicht mehr, jene Parteihochschule der SED, auf der ich zwei Jahre, oder die Internationale Lenin-Schule in Moskau, an der gar manche unserer Mitstreiterinnen und Mitstreiter sich ihr Wissen haben aneignen können.

Selbst die damals in unserem Land vorhandenen marxistischen Bildungseinrichtungen, sie konnten - bis auf die Karl-Liebknecht-Schule in Leverkusen -, ja nicht gehalten werden. Wo also sollen unsere künftigen Autorinnen und Autoren sich das nötige Rüstzeug holen? Sie müssen das weitgehend im Selbststudium schaffen - Literatur, gute, ist genug vorhanden! Aber das wäre ja erst die eine Hälfte der zu lösenden Aufgabe, die andere besteht darin, dass sie nicht, wie ein großer Teil von uns Alten, die Arbeit als Rentnerinnen und Rentner, also in freier Zeit verrichten konnten, sie müssen Brotberufe ergreifen und was Einzelne von uns als Rentner angehen konnten, müssen vielleicht mehrere in Gemeinschaftsarbeit zu leisten versuchen und das ist nicht nur ein inhaltliches, sondern auch ein organisatorisch-technisches Problem.

Nehmen wir ein zweites solches Problem: Was wird, was kann uns die Zukunft bieten, das unsere Arbeit mitbestimmen wird? Natürlich, das Kriegs- und Friedensproblem, damit verbunden das der Rüstungsproduktion und damit wiederum verknüpft das Problem des Ressourcenverbrauchs - und alles das sind Existenzprobleme der Menschheit! Das also ist leicht vorauszusehen. Und auch das ist sicherlich leicht einzusehen, dass diese Probleme innerlich miteinander zusammenhängen: Es wird keinen Weg zum Sozialismus geben, wenn es nicht gelingt, mit dem Teufelszeug der Rüstung fertig zu werden und der Kriegsplaner blutiges Handwerk zu verhindern und im Klartext heißt dies: Das wird nicht ganz ohne Schritte für den Weg hin zu einer besseren Gesellschaft zu erzwingen sein, das sind Zwillingsaufgaben.

Und dies ist ein weiteres Problem: Den Blitz aus heiterem Himmel gibt es in der Natur nicht, auf den sollte man im gesellschaftlichen Leben auch nicht hoffen: Es wird keinen unvorbereiteten, keinen plötzlichen Sprung aus der Barbarei ins gelobte Land des Sozialismus geben. Aber den wird es auch nicht geben, indem man eine Politik der Reformen in Permanenz betreibt, am Bruch mit dem Kapitalismus wird kein Weg vorbei führen, wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll. Also werden uns Probleme politischer Strategie, Fragen der Theorie, insbesondere des Entwicklungsproblems ständig beschäftigen. Das ist ein Problem, das uns bisher beim inneren Streit zu Zurückhaltung aufforderte, die wir in Zukunft nicht zu wahren haben werden:

Es geht um die theoretischen, strategischen, politischen Auseinandersetzungen in den antiimperialistischen, auch antifaschistischen Bewegungen, freilich muss das - wie es sich für eine Zeitschrift zu Fragen der Theorie gehört - frei von simpler Polemik erfolgen.

Um noch einmal vom "Unten, wo das bürgerliche Leben konkret ist" zu reden: Wir sollen versuchen, Praktiker dieses "Unten" mehr als bisher geschehen in die Arbeit einzubeziehen.

Der Sozialismus ist - wie Rosa Luxemburg so schön sagte - nicht nur eine Messer-und-Gabel-Frage, die Massenverdummung erfolgt gerade auf dem Gebiet, das man zwar Kultur nennt; das aber die Leute mit Pseudo-Historischem über die Nazi-Zeit ablenkt, aus der Gegenwart in die Vergangenheit entführt, damit sie in Riesenschinken etwas über die Hure am Wegesrand erfahren, nur nichts darüber, wie Frauen und Männer passgenau für die Ausbeutung zugerichtet werden.

Und die Welt endet ja nicht da, wo unser Blick nicht über die Grenzen des eigenen Kirchturms hinausreicht. Gerade die sozialistische Bewegung als internationale darf sich nicht in das nationale Kämmerlein einschließen. Es kann uns nicht gleichgültig lassen, wenn aus "Rücksicht" auf die Profithöhen der Multis notwendige ökologische Maßnahmen unterbleiben und damit massenhaft Todesursachen entstehen, wenn antiimperialistisches Wirken in blutigem Terror erstickt wird oder vom Islam verführte Selbstmord-Attentäter dutzendfach Andersgläubige durch Bomben zerfetzen. Und es genügt auch nicht, sich solche Vorgänge nur "anzuschauen". Nötig ist das Ringen um größtmögliches Zusammengehen nicht nur auf dem Boden des eigenen Landes. Wir sehen sehr wohl, welche verheerende Wirkung gegen den proletarischen Internationalismus von der Katastrophe von 1989/90 ausgegangen ist und müssen unseren Beitrag dazu leisten, hier verlorenes Gebiet zurück zu erlangen. Das aber ist ebenfalls eine von den schwer zu lösenden Aufgaben, denn die Niederlage hat doch auch zu einem enormen Verlust auf theoretischem Gebiet geführt.

Mehr Zusammenarbeit mit der Marx-Engels-Stiftung, mit der Tageszeitung "junge Welt", mit der Zeitschrift "Z. Marxistische Erneuerung" und mit gar manchem anderen Organ oder anderen Institution in unserem Land, die keine Berührungsangst uns gegenüber verspüren, ist nötig, wir haben uns nicht isoliert und werden uns nicht isolieren. Wir sind keine Theorie-Spezies, die nur auf die Welt um sich herum schauen und sich die Hände nicht in der Praxis schmutzig machen wollen. Wir sollten uns also nicht scheuen, wir dürfen uns nicht scheuen, auf die uns mögliche Art teilzuhaben an konkreten Aktivitäten gewerkschaftlicher Art, etwa an Streiks, an Initiativen junger Menschen, die mit der Bildungs- und Berufsausbildungs-Politik höchst unzufrieden sind und es nicht zulassen wollen, dass der Militarismus in Gestalt von Jugendoffizieren und Armee-Werbern in die Schulen einfällt. Solche Probleme der jungen Generation gehen uns schon um unserer selbst Willen an. Wir nehmen selbstredend auch aktiv an Blockupy-Initiativen teil, kurzum: Wir wollen, wir müssen, sollten mitten im Leben stehen, nicht um dort die uns nicht zustehende Rolle des Oberlehrers anzunehmen, sondern um dort zu lernen, Erfahrungen zu sammeln, denn -noch einmal sei Hegel angeführt - diese Erfahrungen findet man eben in jenem Unten, wo das bürgerliche Leben konkret ist und ohne dies ist Theorie-Arbeit nicht mehr als ein Kastraten-Vergnügen.

Die hier nur angesprochenen Themen sind weder männlicher noch weiblicher Art, drum sollten wir besser als bisher die Problematik des Patriarchats, des Ringens um die Rechte der Frauen und Mädchen in unserer Arbeit beachten. Das könnte beispielsweise bedeuten, in unsere Redaktionsarbeit mehr Genossinnen einzubeziehen.

Ich möchte ein paar Aha-Erlebnisse anführen, die wegweisend sein könnten. Ich hatte in der Isolierung des Gefängnisses eine mathematische Logik erarbeitet und diese nach der Freilassung dem Genossen Jupp Schleifstein als Arbeitsfrucht einiger Jahre vorgelegt, Jupp las, nickte hin und wieder, sagte aber kein Wort, keins des Lobs, keines des Tadels. Am nächsten Tag, beim Mittagessen, sagte er so anscheinend nebenbei, fast unvermittelt, aber ich verstand ihn sofort: "Der Marxismus ist eine eminent historische Sache."

Und das zweite solcher Erlebnisse hatte ich auf der SED-Parteihochschule Karl Marx. Es kam eine neue Präsidenten, Genossin Hanna Wolf. Als sie in unser Seminar eintrat, sie war noch gar nicht ganz drin, sagte sie: "Genossen, der Marxismus ist eine durch und durch polemische Sache, eine kämpferische, ihr müsst euch bei jedem Werk, das ihr studiert, immer fragen: Im Kampf wofür oder wogegen haben die Klassiker dieses Werk geschrieben?"

Diese beiden Aha-Erlebnisse haben meine Aneignung des Marxismus geprägt, sie wurden gewissermaßen meine Motti.

Und da gibt es noch ein drittes solcher Erlebnisse, das stellte sich ein, als ich endlich fähig geworden war, die "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" des jungen Marx zu verstehen. Da schrieb er: "Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft." (Ergänzungsband 1, S. 108)

Das habe ich mir zum Lebens-Leitmotiv ausgewählt - und an ihm habe ich 1989/90 gemessen, wie sich gar mancher, gar manche verhalten, wie es um Herz und Verstand bei ihnen, bei ihren Büchern, Reden oder Lektionen - z. B. bei dem Vielredner Schabowski - in Sachen Marxismus gegangen ist - und da habe ich manchen tief religiösen Menschen getroffen, der aus seiner Religion zum Sozialismus vorgestoßen ist, und da er seine Religion 1989/90 nicht verlor, verlor er auch den Sozialismus nicht.

Na ja, und so manchen Namen könnte ich hier nennen von jemandem, den ich zuvor hoch geachtet hatte, nun aber aber lassen wir das, wir wollen ja feiern und uns jedenfalls nicht heute und hier mit Leuten befassen, die das nicht im Geringsten verdient haben.

Ich habe vorhin, bei der Auflistung von Arbeitsgebieten, die Geschichte genannt, dazu werde ich jetzt etwas mehr sagen, denn wir gehen hinein in ein besonders geschichtsträchtiges Jahr.

Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 75 der Zweite, wir werden den 70. Jahrestag des Hitler-Attentats durchstehen müssen und noch einiges andere mehr. Wenn ich bisweilen auf solche Ereignisse zu sprechen komme, wird mir auch mal entgegnet, das sei doch alles bekannt, und dann fallt mir eines der tiefsinnigen Worte Hegels ein, in seiner großen Logik heißt es, dass etwas darum, dass es bekannt, es noch nicht erkannt sei. Auf diese Dialektik will ich ein wenig eingehen.

Man wird zu solchen genannten Jahrestagen viel zu lesen bekommen und auch wir haben zu solchen Themen in unserer Zeitschrift nicht wenig geschrieben. Aber zu fragen ist: Werden wir durch das höhere Blech der offiziellen Historiker- und Publizistenzunft wirklich zur Erkenntnis dessen geführt, was da bekannt ist? Werden sie uns die Zusammenhänge vorführen, aufdecken, die Gründe hinter dieser Blutlinie, mit der wir es da zu tun hatten? Auch wir müssen uns fragen, ob es uns gelungen ist, hinter die so genannten Fakten, hinter das Bekannte zu schauen, zu zeigen, dass sie weit vor ihrem Stattfinden ideologisch und politisch vorbereitet wurden, dass dies gerade in der Auseinandersetzung mit den fortschrittlichen, den demokratischen Kräften und dann vor allem mit der Arbeiterbewegung und ihrem marxistischen Fundament im 19. Jahrhundert seinen Anfang nahm? Georg Lukács hat uns das in seinem großartigen Werk "Die Zerstörung der Vernunft" gezeigt - aber wer von den politisch führenden Kräften, gerade auch in der Arbeiterbewegung, hat so etwas gelesen, studiert, hat überhaupt die theoretisch-ideologischen Fundamente des Tagesgeschehens zur Kenntnis genommen? Hat nicht Friedrich Engels, lange vor dem Ersten Weltkrieg sehr scharfsinnig vorausgesagt, was da auf Europa zukommt und hätten das die offiziellen und offiziösen Verwalter dieses Erbes nicht in ihrem Handeln beachten müssen? Stattdessen haben sie sich von diesem Erbe immer weiter entfernt und sind heute regelrechte Spießgesellen jener geworden, die die Katastrophen nicht nur unseres Volkes zu verantworten haben.

Um beim Ersten Weltkrieg zu bleiben, man wird natürlich so tun, als ob es da keine besondere deutsche Verantwortung für diesen Krieg gegeben habe, weil die anderen auch nicht besser waren - was zwar stimmt, aber nichts davon wegnimmt, dass der Haupteinpeitscher dieses Krieges in Berlin saß und von seinen imperialistischen Triebkräften gelenkt wurde. Sie werden uns vielleicht ein paar kritische Worte in Richtung auf den Kaiser und ähnliche so genannte Großen vortragen, aber dass der Schlieffen-Plan schon 1905 ausgearbeitet, die Eisenbahn schon für die dazu nötigen Truppentransporte ausgebaut wurde, dass der Kaiser an den Reichskanzler schon 1905 schrieb, erst müsse man die Sozialisten ausschalten, wenn nötig per Blutbad, und dann Krieg nach außen, das mitzuteilen wird die offizielle bundesdeutsche Verdummungsgarde schön fein bleiben lassen - also müssen wir das machen, sonst wird das Bekannte eben nicht erkannt!

Dass die Führung der SPD bei diesem schändlichen Spiel aktiver Teilnehmer war, das sollte auch zum Erkennen gehören. Dass dem 4. August 1914 die Tage folgen würden, in denen bei aktivster Mitwirkung sozialdemokratischer Führer die Revolution zerschossen, ihre besten Führer ermordet wurden, machte es doch erst möglich, die erste deutsche Republik mit jenem Hakenkreuz am Stahlhelm entstehen zu lassen, das dann 1933 zum Triumph eben des Hakenkreuzes führte, den Weg in den Zweiten Weltkrieg öffnen konnte.

Zu dieser Mitverantwortung bekannte sich die SPD 1934 in ihrem Prager Manifest. Darin hieß es: "Die Einigung der Arbeiterklasse wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt." "Der politische Umschwung von 1918 vollzog sich am Abschluss einer konterrevolutionären Entwicklung, die durch den Krieg und die nationalistische Aufputschung der Volksmasse bedingt war. (Kein Wort der SPD-Führung zur Verantwortung für diese Prozesse!) Die Sozialdemokratie als einzig intakt gebliebene organisierte Macht übernahm ohne Widerstand der Staatsführung, die sie sich von vornherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat teilte. Dass sie den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwerste historische Fehler, den die während des Krieges desorientierte deutsche Arbeiterbewegung beging." ("Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", Berlin, Band 5, S. 460 und 458)

Dieses Dokument wurde von den Vorsitzenden der SPD Erich Ollenhauer und Hans Vogel noch 1944 nicht nur als vollgültig bezeichnet "Im Gegenteil: Das Programm hat heute eine noch größere Bedeutung als zur Zeit seiner Ausarbeitung und Veröffentlichung." (Das Prager Manifest von 1934, in: Schriftenreihe der sozialistischen Korrespondenz, Hamburg, Heft 3, S. 17)

Wie schon angedeutet, im nächsten Jahr werden wir es mit einer besonderen historischen Perversität zu tun kriegen, da sind nämlich 70 Jahre seit dem Hitler-Attentat vergangen, die offizielle Politik, ihre journalistischen Posaunenbläser werden nicht müde werden, diese tapferen Widerstandskämpfer zu ehren. Aber sie werden zugleich darüber den Mantel der christlichen Nächstenliebe ausbreiten, dass Roland Freisler, oberster Henker der Nazis, die den Putsch überlebenden Attentäter dutzendweise unters Fallbeil und an den Galgen schickte. Der Mörder zusammen mit seinen Ermordeten! Niederträchtiger geht es nicht! Denn man wird verschweigen, dass der berühmte 131-er Erlass Adenauers die Grundlage dafür bot, nicht nur kaum belastete kleine Nazis wieder Postbeamte, Lehrer usw. werden zu lassen, doch gleichzeitig Kommunisten aus dem Post-, dem Schuldienst usw. zu. entfernen, ihnen die Wiedergutmachen zu entziehen, zugleich aber der Witwe des Henkers Freisler gerichtlich zu bestätigen: Würde ihr Mann noch leben, er wäre weiter als Jurist für diese freiheitlich-demokratische Unordnung tätig, so dass die Pension der Witwe erhöht werden musste.

Wir sehen, Geschichtskenntnisse zutreffend zu vermitteln war und ist eine hochrangige Aufgabe der Zeitschrift angesichts des die wirkliche Geschichte vernebelnden Bildungs- und "Informations-Systems" der freiheitlich-demokratischen Unordnung. Wer die Geschichte nicht kennt, der wird notgedrungen zum historisch-sozialen Alzheimerkranken mutieren.

Wir sehen, da liegt eine ganze Menge an Arbeit vor uns und da wir in einer Stadt tagen, in der einst Zechen und Gruben vorherrschend und der meistgehörte Gruß "Glückauf" lautete, möchte ich meine Worte schließen mit der Erwartung, dass wir, wenn wir in fünfzig Jahren uns wieder versammeln werden um uns Rechenschaft abzulegen, wir uns sagen können, na ja, schlecht haben wir gar nicht gearbeitet. Auf fünfzig weitere Jahre der Zeitschrift.

Glückauf!


Robert Steigerwald, Eschborn, Philosoph, Mitbegründer der Marxistischen Blätter

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-14, 52. Jahrgang, S. 5-11
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2014