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MARXISTISCHE BLÄTTER/593: 8. Mai 1945 - die bedeutendste weltgeschichtliche Zäsur des zwanzigsten Jahrhunderts


Marxistische Blätter Heft 3-15

8. Mai 1945 - bedeutendste weltgeschichtliche Zäsur des zwanzigsten Jahrhunderts

Von Ludwig Elm


Der 8. Mai steht hier stellvertretend für den globalen Sieg über den deutschen Faschismus und das Ende des Zweiten Weltkrieges; also bis zur Kapitulation Japans am 2. September 1945. Anlässlich des 100., beziehungsweise 75. Jahrestages des Beginns des Ersten und des Zweiten Weltkrieges kam es seit Anfang 2014 zu zahlreichen Veröffentlichungen und Tagungen sowie intensiven Debatten, auch andauernden Kontroversen. Geschichtsideologisch keineswegs überraschend wurde in diesem Land höchst aufwändig, unablässig sowie vieles ständig wiederholend und überhöhend, etliches absichtlich auslassend, an den 25. Jahrestag "des Falls der Mauer, der Ereignisse in seinem Umfeld und seiner internationalen Wirkungen erinnert.

Der Titel wertet den 8. Mai 1945 als bedeutendste Zäsur des letzten Jahrhunderts. Das wird wohl nicht von vornherein oder allgemein als zutreffend angesehen. Es ist naheliegend, diese Kernthese mit einigen hauptsächlichen Fakten und Argumenten zu begründen. Durchaus stichhaltige Einwände können von sehr verschiedenen bis gegensätzlichen Motiven, Tatsachen und Urteilen inspiriert sein. Schließlich kommt dem Vergleich mit weiteren herausragenden Zäsuren seit 1914, also gewissermaßen den konkurrierenden Daten, eine spezifische Bedeutung zu. Es geht vorrangig um die Erschütterungen und Wegscheiden von 1917-1919, 1945 und 1989/90. Ihre Ausgangspunkte und Zentren liegen jeweils in Europa, aber zugleich eignet dem Geschichtsprozess eine - keineswegs geradlinige - von Anbeginn gegebene, fortschreitende weltweite Tendenz und Dimension. Es handelt sich in allen drei Fällen um unbestreitbar weltgeschichtliche, somit epochale Markierungen und Umbrüche.

H. A. Winkler schreibt in seiner umfänglichen deutschen Geschichte: "1945 war eine noch tiefere weltgeschichtliche Zäsur als 1918."(1) Seine Position erklärt sich natürlich auch daraus, dass die Bedeutung der Oktoberrevolution 1917 in Russland, der Errichtung der Sowjetmacht und der von diesen Ereignissen ausgehenden weltweiten Wirkungen vernachlässigt oder voreingenommen beurteilt wird. Der allgemeinen Gewichtung in der Aussage ist zuzustimmen; sie ist insofern zu präzisieren, als von der Zäsur 1917 bis 1919 zu reden ist. Das sei hier ergänzt mit der These, dass der Einschnitt von 1945 auch tiefer ist und sich bereits bisher für den Verlauf der Menschheitsgeschichte bedeutender erwiesen hat als die Umbrüche von 1989/90. Das ist eine Antithese zur herrschenden Geschichtsschreibung und insbesondere zu dem in Politik, politischer und historischer Bildung sowie in Medien dieses Landes den Bürgerinnen aufwändig aufgedrängtem Geschichtsbild. Allerdings kann diese Prioritätensetzung auch von linker Seite angefochten werden, falls damit der Rang der russischen Revolutionen und der Sieg der Bolschewiki 1917 oder auch die Tragweite der Auflösung des sozialistischen Weltsystems ab 1989/90 unterschätzt scheint.

1917-1919 kam es in einem geschichtlich kohärentem, aus dem Weltkrieg und seiner Vorgeschichte erwachsenden Prozess zu internationalen Umgestaltungen durch den Sturz der zaristischen Diktatur, die sozialistische Oktoberrevolution und die Entstehung des Sowjetstaates; es folgen ausgangs 1918 weitere revolutionäre Erschütterungen, Waffenstillstand und Kriegsende sowie 1919 in Versailles und weiteren Pariser Vororten die Friedenskonferenzen zur Staatenstruktur und Gestaltung der internationalen Nachkriegsordnung. Die kommunistische Weltbewegung entstand als neue parteipolitische Strömung im Weltmaßstab. Die Widersprüche der folgenden Jahre äußern sich darin, dass die antikapitalistische Revolution auf ein bisher zurückgebliebenes Land begrenzt bleibt, das Kolonialsystem im Wesentlichen modifiziert fortbesteht, der Völkerbund nur beschränkt wirksam wird sowie infolge massiver Rechtsentwicklungen in Europa und Japan und der Weltwirtschaftskrise ab 1929 die Zwischenkriegs- in eine neue Vorkriegszeit hinüberwächst.

Die Umbrüche von 1989/90 führten dazu, dass durch die überwiegend von inneren Ursachen ausgehende Auflösung des sozialistischen Staatensystems und seiner Zusammenschlüsse, die konfliktreiche Entwicklung in Regionen der vormaligen Dritten Welt sowie eine nachhaltige Krise der internationalen Linken der Weltkapitalismus seine frühere, machtpolitisch kaum beeinträchtigte Dominanz wiederherstellen konnte. Hauptsächliche destruktive Begleiterscheinungen dieser Entwicklung seit der Jahrhundertwende sind die vor allem von der Supermacht USA ausgehende Droh-, Erpressungs- und Interventionspolitik, die Zunahme von Kriegen und deren zerstörerische Begleit- und Folgeerscheinungen, die Fortdauer von Armut und ungenügenden Chancen für hunderte Millionen Menschen bei gleichzeitiger beschleunigt wachsender, extremer sozialer Ungleichheit. Chronische Krisenprozesse beeinträchtigen die Lebensgestaltung vieler Menschen und rufen skeptische bis pessimistische Prognosen hervor. Im Kontext restaurativer Prozesse, nicht zuletzt in baltischen, ost- und südosteuropäischen Ländern, werden fortschrittsfeindliche, antidemokratische bis faschistische Traditionen und Erbschaften belebt und neu aktiviert. In einer Reihe von Ländern treten rechtsextremistisch-rassistische Richtungen stärker und aggressiver hervor. Die gesellschaftlichen, politischen und geistigen Voraussetzungen, die gegebenen wie die absehbaren existenziellen Herausforderungen und Gefährdungen der Menschheit rechtzeitig und hinreichend zu bewältigen, haben sich in den letzten Jahren verschlechtert.

Der spezifische Rang des 8. Mai

Die besondere Bedeutung des 8. Mai 1945 in der Menschheitsgeschichte und besonders im Verhältnis zu den beiden anderen knapp skizzierten großen Zäsuren umfasst quantitative und qualitative Momente, die ihrerseits zusammenhängen und sich in intensiver Wechselwirkung befinden. Dabei geht es um Kriterien von globaler Bedeutung und Gültigkeit über Epochen und Klassen, Einzelstaaten und Parteirichtungen, weltanschauliche und politisch-ideologische Richtungen hinweg. Zugleich ist somit auch nach Singularitäten und Superioritäten der Ereignisse von 1939 bis 1945 sowie ihrer Resultate und Nachwirkungen zu fragen. Als herausragende quantitative und qualitative Momente seien beim Versuch einer Annäherung an das Wesentliche sechs Punkte genannt, deren Abgrenzung relativ und damit nur bedingt möglich ist:

Erstens: Das damalige Gefährdungspotenzial und die zeitweise Möglichkeit eines weltweiten Übergangs in die Barbarei übertreffen vorherige und folgende kritische Situationen der Menschheitsgeschichte. Einige Staaten des Weltkapitalismus - voran Japan und Deutschland - hatten seit 1900 in mehreren Phasen und gestützt auf dynamisches Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum versucht, mittels rigoroser Machtkonzentration und Hochrüstung, rücksichtsloser Gewaltanwendung und Annexionen kontinentale oder gar globale Macht- und Führungspositionen zu erlangen. Sozialdarwinistisch und rassistisch geprägte Leitideen einer ethnischen Auserwähltheit radikalisierten die Vorhaben, den kulturellen und zivilisatorischen Fortschrittsprozess der Menschheit aufzuhalten und ihn mittels eines Kultur- und Zivilisationsbruchs in seinen langfristigen humanistischen, aufklärerischen und egalitären Grundtendenzen umzukehren. Demokratieabbau und Rechtsradikalisierung, Aufrüstung und aggressive Ambitionen nahmen in den meisten Staaten Europas in der Zwischenkriegszeit bedrohlich Gestalt an.

Das Verhängnis führte mit der zwischenzeitlichen Vormachtstellung Nazideutschlands in Europa vom Frühsommer 1940 bis Herbst 1942 an die Schwelle eines möglichen Erfolgs. Ähnlich gelangen Japan zeitweilig kontinental alarmierende Eroberungen und Okkupationen, u.a. mit dem Vasallenstaat Mandschukuo sowie der Besetzung weiterer Gebiete Chinas und Südostasiens, darunter Korea, Französisch-Indochina, Niederländisch-Indien, Burma, Singapur, Thailand u.a. Es kam zu einer Grenzerfahrung der Weltgesellschaft, auch wenn diese nur einem Teil in ihrer ganzen Tragweite wahrnehmbar oder gar bewusst wurde.

David Lloyd George, britischer Premier von 1916 bis 1922, neben Woodrow Wilson, Georges B. Clemenceau und Vittorio E. Orlando einer der Großen Vier von Versailles 1919, äußerte sich gegenüber dem sowjetischen Botschafter der Jahre 1932 bis 1943 in London, Iwan Maiski, Ende September 1942 zu dem, "'was bei Ihnen, an den Ufern der Wolga geschieht'": "Diese Schlacht hat wahrhaft weltweite Bedeutung. Gewinnen Sie, so gehen Hitler und alle seine Nachbeter zugrunde. ... Wenn Sie aber diese Schlacht verlieren ...' Lloyd George hielt für einen Augenblick inne. 'Ich möchte gar nicht daran denken, was dann mit der Menschheit geschähe. Vom Ausgang der Schlacht, die jetzt an den Ufern der Wolga tobt, hängen im wahrsten Sinne dieses Wortes die Geschicke der Welt ab. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen den vollen Sieg!'"(2)

Zweitens: Die gegenüber dem Ersten erneut gesteigerten und zuvor unvorstellbaren Dimensionen des Zweiten Weltkrieges bedeuteten, dass die Vernichtung von Menschen und Material extensiv zu Lande, zur See und in der Luft über weiten Bereichen des Erdballs stattfand. Dazu gehörten die effektive globale Ausweitung der Kampfhandlungen und ihrer Auswirkungen in Europa, Asien und Pazifik, Nahem Osten und Nordafrika sowie die noch darüber hinaus reichende Zahl von Teilnehmerstaaten; die Größenordnungen von Hunderten Millionen Opfern (Tote, Versehrte und Geschädigte, Waisen und Witwen, Flüchtlinge und Heimatlose, Verarmte und sozial Deklassierte und weitere Gruppen); demographische und ökologische Schädigungen und Nachwirkungen; die Ausmaße der materiellen sowie unermessliche geistig-kulturelle Zerstörungen und Verwüstungen, die Kosten und Verschuldungen zu Lasten nachfolgender Generationen. Die Daten führen bis heute die Negativlisten einschlägiger Menschheitskatastrophen, Leiden und unwiederbringlicher Verluste an.

Drittens: Die Synthese von Staatsverbrechen, Ausrottungsideologien und systematischer Vernichtung großer Menschengruppen mittels industrieller Tötungsmethoden war neben der gewachsenen Zerstörungskraft von Waffen ein in jeder Hinsicht alarmierend neuartiges, den Weg und die Zukunft der Menschheit bedrohendes Phänomen. Ab Anfang 1942, dem Jahr der größten Machtausdehnung der NS-Diktatur und ihrer Verbündeten, wurde seit der Wannsee-Konferenz im Januar die systematische Auslöschung des europäischen Judentums weitgehend vollzogen. Charakter, Zahl und Spektrum der Täter einschließlich der Schreibtischtäter, der Schuldigen und Mitschuldigen, der Gehilfen und Mitläufer, der Interessenten und Nutznießer, schufen neuartige Sachverhalte im Befund von Staaten und Gesellschaften. Der von der Naziführung konzipierte und veranlasste, industriell vollzogene millionenfache Mord an Juden, Sinti und Roma, Slawen und weiteren ethnischen Gruppen, an Behinderten, Kriegsgefangenen und anderen, wurde neben Krieg, Massakern und Exekutionen realisiert im KZ-System, in Zwangsarbeit und Sklaverei, bis zu den Endphasenverbrechen der letzten Monate, Wochen, Tage und Stunden. Nach Umfang und Menschenverachtung vergleichbare Untaten Japans fanden in China, Korea, Indochina und weiteren unterworfenen asiatisch-pazifischen Ländern und Inseln statt. Dies alles forderte international neuartige und entschiedene Erwiderungen und Entscheidungen heraus.

Von der Anti-Hitler-Koalition zu UNO und neuem Aufbruch

Viertens: Die politische Breite und die weltweite Ausdehnung von Anti-Hitler-Koalition und Widerstand einschließlich der damit gegebenen politischen, geistig-kulturellen und geographisch-ethnischen Differenziertheit der Verbündeten, schloss unvermeidlich wesentliche innere Widersprüche der antifaschistischen Front ein. Diese vermochten jedoch nicht, den antifaschistisch und menschenrechtlich inspirierten Zusammenhalt entscheidend zu beeinträchtigen oder gar ihren schließlichen weltgeschichtlichen Triumph zu verhindern. Es handelt sich um einen bedeutenden politisch-moralischen Erfahrungswert bis in die Gegenwart In der ersten Zusammenkunft der Großen Drei in Teheran am 28. November 1943 waren Winston Churchills erste Worte: "Es ist die größte Konzentration der internationalen Kräfte, die es in der Geschichte der Menschheit je gegeben hat. In unseren Händen liegt die Entscheidung über die Verkürzung des Krieges, über die Erringung des Sieges und über das künftige Schicksal der Menschheit."(3)

Eine Episode der Krim-Konferenz verriet allerdings auch etwas über klassenmäßige und strategische Interessengegensätze in diesem breiten Bündnis. Der kurzzeitige US-Außenminister E. Stettinius informierte auf der Sitzung am 9. Februar 1945 aus der Beratung der Außenminister über einen Vorschlag der amerikanischen Delegation. Die künftigen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates "sollten auf diplomatischer Ebene Konsultationen betreffend die Treuhandschaft über die kolonialen und abhängigen Völker durchführen".(4) Das Protokoll vermerkt: "Churchill (sehr erregt) legt gegen die Erörterung dieser Frage kategorisch Einspruch ein. Seit vielen Jahren führe Großbritannien einen schweren Kampf um die Erhaltung des Britischen Commonwealth und des Britischen Empire. Er sei überzeugt, dass dieser Kampf mit einem vollen Erfolg enden wird, und solange die britische Flagge über den Territorien der britischen Krone wehe, werde er es nicht zulassen, dass auch nur eine Handbreit britischen Bodens zur Versteigerung unter Beteiligung von 40 Staaten käme. Das Britische Empire werde niemals wegen der 'Treuhandschaft' über minderjährige Nationen auf der Anklagebank eines internationalen Gerichtshofs sitzen."(5)

Eine klare Gegenposition hatte Jawaharlal Nehru in einem Beitrag in The New York Times Magazine vom 19. Juli 1942 formuliert: Wie immer der Krieg ausgehe und der Frieden sein möge, "eines ist sicher: die westliche Welt kann Asien nicht länger beherrschen. Wenn das nicht erkannt wird und wenn der Versuch unternommen wird, die alte Beziehung in irgendeiner Form aufrechtzuerhalten, so bedeutet dies das Ende des Friedens und einen weiteren katastrophalen Konflikt."(6) Sowohl Erfolge des Unabhängigkeitskampfes als auch neue, opferreiche Kriege der Nachkriegszeit bestätigten Nehrus Diagnose. Ho Chi Minh hatte ein Jahr zuvor, am 6. Juni 1941, in einem "Brief in die Heimat" an seine Vietnamesischen Landsleute geschrieben: "Seit der Zeit, da Frankreich, als es sich gegen Deutschland nicht behaupten konnte, kapitulierte, haben sich seine Kräfte erschöpft. Doch die französischen Kolonialherren rauben nach wie vor erbarmungslos die Reichtümer unseres Landes, saugen unser Blut und befolgen in unserem Lande die alte Politik - sie unterdrücken, terrorisieren und morden." Ho stellte fest, dass die Kolonialmacht die Vietnamesen an Japan ausgeliefert habe: "Folglich schmachtet unser Volk unter doppelter Ausbeutung: Es ist jetzt Arbeitsvieh für die französischen Kolonialherren und Sklave für die japanischen Eroberer."(7) Solche Erfahrungen speisten Motivation und Opferbereitschaft der Freiheitskämpfe folgender Jahre und Jahrzehnte in Asien, Afrika und Lateinamerika.

Wie zuvor Sun Yat-sen (China), gingen Nehru (Indien) und Ho Chi Minh (Vietnam) als Führer nationalrevolutionärer Befreiungsbewegungen und Staatsgründer von internationalem Rang seit Mitte des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein. Das gilt ähnlich für prägende Gestalten der Nachkriegsjahrzehnte in ehemals kolonialen oder abhängigen Ländern, darunter Achmed Sukarno (Indonesien), Gamal Abdel Nasser (Ägypten), Kwame Nkrumah (Ghana), Fidel Castro (Kuba), Julius Nyerere (Tansania), Ahmed Sékou Touré (Guinea), Amilcar Cabral (Guinea-Bissau und Kapverden), Salvador Allende (Chile), Jasir Arafat (Palästina) und Nelson Mandela (Südafrika). Sie zeichneten sich ungeachtet erheblicher Unterschiede ihres Lebensweges, der Wirkungsbedingungen und des schließlichen persönlichen Schicksals durch antiimperialistische, vor allem antikolonialistische und antirassistische Positionen aus und trugen - beispielsweise in der Bewegung der Nichtpaktgebundenen - zur Friedenssicherung bei. Sie lebten und stritten für Leitbilder der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit sowie des Friedens als elementarer Menschenrechte ihrer Völker und in der Welt. Damit verkörperten sie mit unzähligen Leidens- und Kampfgefährten beispielhaft Wesenszüge der am 8. Mai 1945 eröffneten Epoche.

Fünftens: Der Sieg von 1945 zerschlug oder erledigte auch Hinterlassenschaften und Unbewältigtes aus dem Ersten Weltkrieg und einige seiner zwischenzeitlichen Folgen oder eröffnete dazu neue Wege und Lösungen. Zugleich zeitigte er Wirkungen und Einsichten für die internationalen Beziehungen, die die weltweiten gesellschaftspolitischen Kräftegruppierungen, Strömungen und Bewegungen sowie Grundtendenzen des geistig-kulturellen Lebens, ungeachtet zahlreicher Widersprüche und Rückschläge, seither prägten oder beeinflussten. Die Anti-Hitler-Koalition wurde bereits während des Krieges zum Ausgangspunkt der UNO; sie bereitete deren Gründung und Arbeitsweise vor. Der keimhafte Ursprung kann in der ersten persönlichen Botschaft W. Churchills an Stalin vom 8. Juli 1941 gesehen werden. Darin würdigte er den Widerstand der sowjetischen Soldaten und des Sowjetvolkes, kündigte weitere massive Luftangriffe gegen Deutschland und sonstige Hilfe an. Er begrüßte das Eintreffen der russischen Militärmission. Nach einem weiteren Schreiben des britischen Premiers vom 10. Juli antwortete Stalin erstmalig am 18. Juli 1941: "Jetzt sind die Sowjetunion und Großbritannien, wie Sie mit vollem Recht sagten, Bundesgenossen im Kampf gegen Hitlerdeutschland geworden." Er zweifle nicht daran, dass beide stark genug sein werden, "unseren gemeinsamen Feind zu besiegen." Die militärische Lage beider Länder könnte wesentlich verbessert werden, wenn im Westen und Norden "eine Front gegen Hitler geschaffen würde".(8) Die UNO und ihre Charta bewährten sich grundsätzlich beim überwiegend friedlichen Verlauf des jahrzehntelangen weltweiten Systemwettstreits, der Konfrontation der Militärblöcke, des Gleichgewichts des Schreckens und regionaler Krisen. Sie fanden ihre Grenzen in den Interessen, Problemen und der Macht der Einzelstaaten und militärischen Blöcke, aus denen seitherige, auch schwerwiegende Widersprüche und Konflikte erwuchsen.

Sechstens: Der Zeitgeist ab Frühling 1945 widerspiegelte international den objektiv antiimperialistischen, gegen Großkapital und Feudalismus, Faschismus, Militarismus und Kolonialismus gerichteten Hauptinhalt des Befreiungskampfes. Das erwuchs aus dem entscheidenden Anteil, den daran die Sowjetunion und bürgerlich-parlamentarische sowie Kräfte der Arbeiter-, der nationalen Befreiungs- und der Friedensbewegung, Demokraten und Humanisten, hatten. Er drängte nachhaltig fortschritts- und menschenfeindliche sowie gegenrevolutionäre Strömungen und Regimes in den kapitalistischen Metropolen, in Kolonien und abhängigen Ländern zurück. Die Leistungen des antifaschistischen und antikolonialen Untergrunds sowie der Partisanenbewegungen in einer Reihe von Ländern - vor allem in der Sowjetunion, Jugoslawien, Polen, Frankreich, Griechenland, Italien - brachten revolutionär-demokratische Impulse und Erwartungen in den antifaschistischen Strom ein.

Es herrschte weltweit die Atmosphäre eines überfälligen und entschiedenen gesellschaftlichen, politischen und geistig-kulturellen Neubeginns vor. Die Wahlniederlage von Churchill und seiner Conservative Party in den Unterhauswahlen vom Juli 1945 war ein spektakuläres Symptom dieser Befindlichkeiten. Auf dem Höhepunkt seiner wechselvollen Karriere, nunmehr eine Gestalt der Weltgeschichte, scheiterte er an seiner Zugehörigkeit zum konservativen, großbürgerlich-aristokratischen Milieu Großbritanniens. Millionen hatten die Sympathien von Teilen dieser Kreise für die Diktaturen Mussolinis und Hitlers, ihre jahrelange Nachgiebigkeit und Beschwichtigungen gegenüber den Diktatoren sowie die teuer bezahlten Folgen dieser Politik nicht vergessen. Der Unterhausabgeordnete und prominente Publizist, Harold Nicolson, vermerkte bereits während des Krieges in seinem Tagebuch wiederholt zunehmende sozialistische Neigungen in Großbritannien und entsprechende Erwartungen an die Nachkriegszeit.

Die gewachsene Autorität und der internationale Einfluss der UdSSR, die Herausbildung einer sozialistischen Staatengruppe und ihrer Bündnisse mit nationalen Befreiungsbewegungen und unabhängig gewordenen Staaten erwuchsen in diesem Zeitklima aus ihrer Rolle in der Anti-Hitler-Koalition sowie verwandten Zielen oder gleichen Gegnerschaften, den nach 1945 gegebenen Chancen und Kräfteverhältnissen sowie den Wechselwirkungen der globalen Hauptströme. Sie trugen in Europa und weiteren Regionen auch zu langjährigen Aufbau- und Friedensperioden bei.

Es kam zu einer neuartigen internationalen Anerkennung und erhöhtem Einfluss kommunistischer Parteien, darunter zunächst auch in den vier Zonen in Deutschland. De Gaulle begriff ab Sommer 1944 diesen Zeitgeist, die Autorität der Résistance und die gesellschaftspolitischen Erwartungen der arbeitenden Bevölkerung. Zwei Kommunisten gehörten der Provisorischen Regierung vom September 1944 an. Am 21. Oktober 1945 wurde die Französische Kommunistische Partei mit 160 Mandaten stärkste Partei in der Verfassunggebenden Nationalversammlung; in der Regierung war sie mit einem Stellvertretenden Ministerpräsidenten und vier weiteren Ministern vertreten. Die Italienische KP wuchs von etwa 400.000 Mitgliedern Ende 1944 auf rund 1.771.000 im Verlauf des folgenden Jahres.

Die Dekolonialisierung ging mit den Impulsen und dem Rückhalt für die Befreiungsbewegungen, gegen Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus in die Phase des unwiderruflichen Zerfalls des jahrhundertealten Kolonialsystems über. Dieser Prozess wurde vielfach von der Suche nach antikapitalistischen und sozialistischen Alternativen begleitet. Ihre - bald wieder blutig angefochtene - Unabhängigkeit erlangten Vietnam und Indonesien 1945, die Philippinen 1946, Indien und Pakistan 1947, Burma 1948, China 1949, Ghana 1957; schließlich weitere Länder, darunter allein im Jahre 1960 16 afrikanische Staaten. Diese vielgestaltigen und dauerhaften Nachwirkungen des globalen Sieges der Anti-Hitler-Koalition veränderten das politische Weltbild über Jahrzehnte - bis in die Gegenwart und in die Zukunft hinein. Die Leistungen, Resultate und der Erfahrungsschatz der Jahrzehnte nach 1945 gehören - über die Umbrüche und Wandlungen von 1989/90 hinaus - zum historisch-politischen Erbe und theoretischen Fundus der vorhandenen oder potentiellen Pioniere und Bewegungen künftiger Alternativen.

Die Befreiung und die "Freiheit"

Das ist die Kernsubstanz der These vom Befreiungstag 1945 als bedeutendstem Ereignis des vergangenen Jahrhunderts: Weder 1918/19 noch 1989/90 ging es, ungeachtet der historischen Bedeutung und Größe der jeweiligen Erschütterungen, Opfer und Umbrüche, um die reale Gefahr eines Absturzes der Menschheit in die Barbarei. Es bedurfte keiner vergleichbaren weltweiten Bündnisse, Leistungen und Opfer, um eine fundamentale Bedrohung solcher Art abzuwenden. Es waren keine Situationen und unmittelbare Gefährdungen für die Völkergemeinschaft entstanden, in der die in der Geschichte der Menschheit gewonnenen Grundnormen der Humanität, der Moral und Vernunft, als einflussreiche Orientierungen global umfassend widerrufen, an ihren Wurzeln aufgehoben und zumindest für Generationen vernichtet werden könnten. Niemals zuvor oder danach war ein so unermesslich hoher Preis zu zahlen, um die elementaren Voraussetzungen und Chancen der menschlichen Kultur und Zivilisation zu verteidigen und für das Ringen um künftigen Frieden und Fortschritt zu sichern.

Zu dem Argument, dass die eigentliche Befreiung ab 1945 nur für die Westzonen und die BRD sowie westliche Länder, aber für die SBZ/DDR sowie für die baltischen Länder und Osteuropa erst 1989/90 erfolgt wäre, sei bemerkt: Eine restaurative Politik und Geisteshaltung, die sich ab 1948/49 offen gegen Schlüsselpositionen der Alliierten von Jalta und Potsdam sowie der Nürnberger Prozesse richtete, kann nicht nachträglich zur historisch und international gültigen Beurteilung des Sieges von 1945 sowie der daraus hervorgegangenen Chancen, Entscheidungen und Entwicklungen in Europa und der Welt angesehen werden. Keinesfalls kann die Bundesrepublik Deutschland, die als Glücksfall für die Mehrzahl der Täter der faschistischen Diktatur - darunter zahlreiche schwerbelastete Verbrecher - in die Welt trat, zum Leitbild oder gar als Erfüllung der Bestrebungen der Anti-Hitler-Koalition und des antifaschistischen Widerstandes oder gar als authentisches Vermächtnis der riesigen Opfergruppen umgedeutet und gefeiert werden.

Übrigens: Jahrzehntelang wurde der 8. Mai nicht einmal als Tag der eigenen Befreiung und selbst dies teilweise bis heute nur mit Vorbehalten anerkannt. Viele Jahre herrschten in der Bundesrepublik die von gesellschaftlichen und politisch-ideologischen Kontinuitäten dominierten Sichtweisen vor: Zusammenbruch, Katastrophe, Tiefpunkt deutscher Geschichte. Verspätet und gegen weiterhin starke Vorbehalte und Widerstände begann erst in den 1980er Jahren eine nennenswerte Veränderung. Seither geht es der herrschenden Geschichtspolitik darum, diese flexiblere, auch international kompatiblere Position mit dem totalitarimustheoretischem Grundschema in Übereinstimmung zu bringen. Schließlich: Wer noch im Jahre 2015 am 8. Mai hauptsächlich von Kriegsende und kaum über die Befreiung vom Faschismus reden will, kann kaum beanspruchen, den historisch-politischen und gesellschaftlichen Gehalt und Impuls jenes großen Befreiungskampfes allgemeingültig zu deuten. Das Kriegsende konnte nur eintreten, weil der Faschismus besiegt und niedergeworfen wurde.

Weder die (laut selbstgefälligen Eigennamen) erste noch die zweite deutsche Demokratie entstanden im Ergebnis der politischen Bestrebungen der großkapitalistischen, besitzbürgerlichen und aristokratisch-militaristischen Kräfte der deutschen Gesellschaft - woran bereits ein erster Blick auf die deutsche Geschichte vor 1917/18 bzw. bis 1944/45 erinnert. Diese Schichten vermochten allerdings wiederholt Ergebnisse der inneren revolutionären Bewegungen (1918/19) sowie der äußeren militärischen Anstrengungen und Opfer (1914-1918 sowie 1939-1945) schließlich auf restaurativem Weg für ihren Machterhalt zu usurpieren. Immerhin behielten die Siegermächte von 1945 eine Vormundschaft bezüglich Deutschlands als Ganzem bis 1990. Sie kam u.a. beim Vierseitigen Abkommen (1971), das den Sonderstatus von Berlin (West) bis 1990 regelte, sowie bei der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO 1972 und der staatlichen Vereinigung 1990 entscheidend zur Geltung.

Eine politisch-moralische Legitimation zur gesellschaftspolitischen Führung hatte sich ab 1945 auf die historisch-politische Rolle der jeweiligen Kräfte spätestens seit 1914 und 1933 zu gründen. Legitimiert waren demnach die antimilitaristischen und antifaschistischen Bewegungen, also die Kräfte eines echten Republikanismus und radikalen Demokratismus, des Pazifismus und des Sozialismus. Den Führungsanspruch nachträglich aus der Effektivität bei der Kapitalverwertung seit den 1950er Jahren und dem Funktionieren eines modernisierten, von den Machtpositionen der Oberschichten getragenen und ihren Bedürfnissen angepassten bürgerlich-parlamentarischen Systems abzuleiten, wird gesellschaftspolitischen Fortschrittskriterien weder im historischen noch im internationalen Vergleich gerecht. Die andauernden intensiven Kontroversen um Schlüsselfragen der deutschen, europäischen und Weltgeschichte des letzten Jahrhunderts erwachsen auch aus dem Bedürfnis wie Dilemma, aus jener Vorgeschichte eine historisch-politische Identitätsbestimmung und machtpolitische Legitimation großbürgerlicher Schichten sowie ihres Umfeldes und Anhangs in Parteien, Verbänden, Behörden und Verwaltung, Justiz, Medien u. a. abzuleiten und zu begründen. Die Auseinandersetzungen um die tatsächlichen Vorgänge und Wirkungen sowie die Lehren der Geschichte besitzen einen geistigkulturellen Eigenwert ebenso wie alles, was darin im Ringen um friedens- und gesellschaftspolitische Alternativen von heute und morgen unverzichtbar ist und bleibt.


Ludwig Elm, Historiker, Jena


Anmerkungen
  1. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933-1990, Bonn 2005, S. 116.
  2. I.M. Maiski: Memoiren eines sowjetischen Botschafters, Berlin 1971, S. 804.
  3. Teheran -Jalta - Potsdam. Dokumentensammlung, Moskau 1978, S. 41.
  4. Ebenda, S. 181.
  5. Ebenda.
  6. Jawaharlal Nehru: Anmerkungen zur Zeitgeschichte 1927-1947, Leipzig und Weimar 1985, S. 245.
  7. Ho Chi Minh: Reden und Schriften. Eine Auswahl, Leipzig 1980, S. 56.
  8. Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941-1945, Berlin 1961, S. 14f.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-15, 53. Jahrgang, S. 31-40
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2015

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