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MARXISTISCHE BLÄTTER/605: Von der Notwendigkeit der Utopie in finsteren Zeiten


Marxistische Blätter Heft 6-15

Von der Notwendigkeit der Utopie in finsteren Zeiten

Von Thomas Metscher


In einer Reihe von Büchern hat der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, von 2000-2008 Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung, eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Weltordnung vorgelegt, die in den Resultaten nicht verheerender sein kann. Dabei ist zu beachten, dass Ziegler kein Kommunist ist (eher Kritiker des Kommunismus), doch bezieht er sich positiv auf Marx und Brecht, den er häufig zitiert. Seine geistige Herkunft ist, seiner Selbstaussage nach, einmal die angelsächsische Kulturanthropologie, zum anderen die Frankfurter Schule, die er den "deutschen Neomarxismus" nennt. Es ist dies zu erwähnen, weil er in der Analyse der Gegenwartsgesellschaft zu den exakt gleichen Ergebnissen kommt und die gleichen Schlussfolgerungen zieht wie nur die konsequentesten Kommunisten unter uns, dabei nicht, wie ansonsten üblich, als leninistischer Ideologie abgetan werden kann. Die Gegenwartsgesellschaft, der Imperialismus (Ziegler verwendet nicht diesen Begriff was aber nichts zur Sache tut) ist für ihn eine "kannibalische Weltordnung". Der Begriff korrespondiert sehr genau mit Peter Weiss' Kennzeichnung des Imperialismus als "die höchste Form der Brutalität,(1) wie auch die Folgerungen beider die gleichen sind: "Ändere die Welt!" Es ist dies dann auch der Titel von Zieglers meines Wissens bislang letzten, 2014 erschienenen Buchs.(2)

Was er mit 'kannibalischer Weltordnung' meint, erörtert ein bereits erschienenes Buch, Wir lassen sie verhungern. Massenvernichtung in der Dritten Welt. Es sind schiere Fakten, die er benennt, simple Empirie (sonst von den bürgerlichen Soziologen so hoch geschätzt, hier in der Regel ausgeblendet): Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, hunderte Millionen anderer leiden an Unterernährung und deren physischen und psychischen Folgen. Dabei wäre die Weltlandwirtschaft heute in der Lage, zwölf Milliarden Menschen ausreichend zu ernähren, fast doppelt so viele wie auf der Welt leben. Die Massenvernichtung ist alles andere als schicksalhaft. "Das Leiden hat ein Gesicht, die Unterdrückung trägt einen Namen". Es sind "die dramatischen Folgen einer Wirtschaftsordnung, die den Profit über das Wohlergehen der Menschen stellt". "Die erdumspannende Macht der transkontinentalen Agrokonzerne und der Hedgefonds - der Fonds, die auf Nahrungsmittelpreise spekulieren - übersteigt die der Nationalstaaten und aller zwischenstaatlichen Organisationen. In den Führungsetagen dieser Unternehmen wird über Leben und Tod der Bewohner unseres Planeten entschieden."(3) Als Motto für sein großes Buch wählt er einen Text von Brecht: "Und wer von uns verhungert ist,/Der fiel in einer Schlacht/Und wer von uns gestorben ist,/Der wurde umgebracht." Das Buch von 2014 benennt weitere Fakten: dass nach den Weltentwicklungsindikatoren 2013 der Weltbank 16 Prozent der Weltbevölkerung über 83 Prozent der Vermögenswerte auf dem Planeten verfügen; dass der Anteil der 42 ärmsten Länder am Welthandel 1970 1,7 Prozent betrug, es 2014 nur noch 0,4 Prozent waren; dass die 374 größten multinationalen Konzerne heute Finanzreserven von zusammen 655 Millionen Dollar besitzen, eine Summe, die sich seit 1999 verdoppelt hat. Ziegler nennt viele Fakten mehr. Seine Schlussfolgerung ist unausweichlich: "Das durch Unterernährung und Hunger verursachte Massaker an Millionen Menschen ist heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, ein skandalöser Ausdruck des Kampfs der Reichen gegen die Armen, eine Ungeheuerlichkeit, eine Absurdität, die durch nichts zu rechtfertigen und durch keine Politik zu legitimieren ist. Es ist ein unzählige Male wiederholtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit."(4)

In solchen Tatsachen gründet die Notwendigkeit und Möglichkeit der Utopie heute.

Notwendigkeit und Möglichkeit der Utopie

Der gegenwärtige Geschichtszustand, erkannten wir, ist der einer von letalen Widersprüchen zerrissenen "kannibalischen Gesellschaft" (Jean Ziegler) in der sich Armut und Reichtum, hochtechnologischer Fortschritt und kulturelle Depravation, szientifische Rationalität und finsterster Aberglaube in Extremformen gegenüberstehen, die in der Geschichte ohne Beispiel sind; ganze Welt-Teile von Gewalt und Krieg beherrscht, den Geißeln von Hunger, Mangel und Not ausgeliefert; die Alternativen realer sozialistischer Gesellschaft ausgelöscht bis auf Restbestände. Mit Brecht gesprochen: wir leben in "finsteren Zeiten", in Zeiten, "wo/Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt", "Zeit der Unordnung/Als da Hunger herrschte" und "Zeit des Aufruhrs". "Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit./(...) Die Kräfte waren gering. Das Ziel/Lag in großer Ferne/Es war deutlich sichtbar,/wenn auch für mich/Kaum zu erreichen." Sein Gedicht trägt den Titel "An die Nachgeborenem, Teil der Svendborger Gedichte, die Brecht Ende der 1930er Jahre im dänischen Exil, auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus, verfasste - in einer Lage der Krise, einer Stunde höchster Gefahr. Bemerkenswert ist: über seine Flucht spricht er hier nicht. Er spricht über die Weltlage, benennt das Epochenprofil, seine persönliche Lage in ihm.

Zieglers 'Ändere die Welt!' ist heute als kategorischer Imperativ des Handelns ohne Einschränkung zu übernehmen. Er erfolgt aus der Einsicht in ihre reale Verfasstheit, in Verhältnisse, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx 1843/44). Das 'Ändere die Welt' bezieht sich auf die Aufhebung dieser Verhältnisse, die schon Marx gefordert hat. In dieser Einsicht hat das Nachdenken über Utopie heute seinen Grund. Dabei ist Brechts Sichtweise gegenwärtig noch zu verschärfen. Das Ziel: eine Gesellschaft, in der der Mensch den Zustand der Erniedrigung, Knechtschaft, Verlassenheit und Verächtlichkeit abgeworfen hat, deren "Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums" ist (Marx)(5) - dieses Ziel liegt heute sicher in noch größerer Ferne als zu der Zeit, in der Brecht dieses Gedicht schrieb. Ja Viele, nicht die schlechtesten, hegen oft Zweifel, ob es denn je erreichbar sei angesichts der Übermacht der herrschenden Verhältnisse - stellen die erschrockene Frage, ob nicht, unter diesen Bedingungen, die Barbarei als Endzustand der Geschichte wahrscheinlicher sei als das erhoffte Reich einer humanen Gesellschaft - die Katastrophe wahrscheinlicher als die Utopie, diese dann eben doch nichts anderes sei als was Wort wörtlich genommen sagt: "Kein Ort. Nirgends."

Die hier vertretene Überzeugung ist nicht die der Resignation. Es ist vielmehr die Überlegung, dass gerade in Zeiten wie diesen utopisches Denken, die Frage nach begriffener Zukunft unverzichtbar, ja notwendig wird, soll nicht jede Hoffnung auf eine menschenwürdige Welt, jeder Mut zum verändernden Denken und Handeln verloren gehen. Die Frage nach Utopie wird so zu einer politischen wie existentiellen Überlebensfrage. Ohne sie zu beantworten, bleibt politisches Handeln ziellos, auch persönliches Leben ohne Orientierung und ohne Sinn. Ihr sollen deshalb noch einige Gedanken gewidmet sein.

Doch welchen Begriff von Utopie meinen wir, welche Art Utopie brauchen wir, wenn wir sagen, dass die Utopie notwendig ist? Sie ist sicher nicht notwendig im Sinn eines Traumbilds abstrakter Idealität, in dem sie zum Opium der Denkenden und Handelnden wird, sich ihre befreiende Wirkung ins Gegenteil verkehrt. Sie ist notwendig vielmehr im Sinn dessen, was getan werden muss, um die existierenden Verhältnisse menschlicher Deformation aufzuheben, die Welt des Menschen wohnbar zu machen - nicht nach Maßgabe des Wünschbaren, sondern des historisch Möglichen; historisch möglich beim Entwicklungsstand der Produktivkräfte, der Technologie, des Wissens, der gesellschaftlichen Organisation, der politischen, kulturellen und ideologischen Verhältnisse. Die Frage nach Utopie erfordert also immer auch die Frage nach der geschichtlich-gesellschaftlichen Lage, auf die sich die Utopie bezieht. Die Frage nach der historischen Lage geht der Frage nach dem besonderen Charakter einer Utopie logisch voran; nur so lässt sich der Begriff einer historisch konkreten Utopie gewinnen. Damit sind Notwendigkeit und Möglichkeit der Utopie korreliert. Bei den von Ziegler genannten Beispielen könnte niemand rechten Sinns bezweifeln, dass ihre Lösung notwendig und dass sie möglich ist. Für solche Utopie gilt dann Haugs treffendes Wort über Bilder der Zukunft: es werden "keine der Erwartung mehr sein, wohl aber Bilder der fordernden Not-Wendigkeit angesichts der Gefahr".(6)

Die Frage nach Utopie stellt sich als Frage nach dem Verhältnis von Utopie und Wissenschaft - als Frage nach wissenschaftlicher Utopie -, und sie stellt sich als Frage nach der Utopie in den Künsten - als Frage nach ästhetischer Utopie. Dabei kann es selbstredend nicht darum gehen, die Bewegung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, die der klassische Marxismus vollzog, rückgängig zu machen und die Utopie an die Stelle der Wissenschaft zu setzen. Es geht vielmehr darum, die Utopie als Dimension der Wissenschaft, genauer: des historischen Materialismus zu begreifen. Es geht also zunächst um die geschichtsmaterialistische Bestimmung des Utopiebegriffs. Die Differenz von Marxismus und Utopie bleibt bestehen, solange unter Utopie der Entwurf einer geschichtstranszendenten idealen Ordnung verstanden, die kategoriale Bindung an Notwendigkeit und Möglichkeit ignoriert wird. Ein solcher Utopiebegriff hat in einem geschichtsmaterialistischen Denken keinen Ort, so wenig wie Eschatologie und Messianismus hier einen Ort haben. Problematisch ist deshalb auch Haugs Versuch, "das Messianische ohne Messias" (Derrida) dem Marxismus einzuschreiben.(7) Bereits die "schwache messianische Kraft", die nach Walter Benjamin "uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war", mitgegeben sei,(8) ist, bei allem Respekt, ein Restbestand theologischen Denkens, von dem das Marx'sche unwiderruflich Abschied genommen hat. Auch das Denken Blochs, bei aller Anerkennung seiner Bedeutung für einen erneuerten Marxismus, hat sich von seiner eschatologischen Vergangenheit nie völlig lösen können; sein Gebrauch kann deshalb nie unkritisch erfolgen.

Zusammengefasst: Utopie nicht als Ideal oder messianische Hoffnung, sondern als Denken des Notwendigen und Möglichen - nur ein solcher Utopiebegriff hat im geschichtsmaterialistischen Sinn den Charakter eines wissenschaftlichen Begriffs. Darüber hinaus hat Utopie einen Sinn als Kategorie des Ästhetischen und der Künste. Beide sind nicht zu konfundieren, sie sind deshalb auch getrennt zu behandeln.

Dazu noch die folgenden Erläuterungen.

1. Utopie als Denken des Notwendigen

Es ist, in der Grundorientierung, der Utopiebegriff jenes Autors, der das Wort erfand und dem literarischen Genre und geschichtsphilosophischen Konzept den Namen gab: Thomas Morus.(9) Dessen Utopie: erschien 1516 in lateinischer Sprache, es wurde früh ins Deutsche und Englische übersetzt. Das Wort ist eine neulateinische Bildung, die auf Morus selbst zurückgeht. Mit ihm verbunden wird traditionell die Vorstellung einer idealen Gesellschaft, meist mit dem Zusatz, es handle sich um einen 'Wunschtraum', 'Staatsroman' oder eine 'Staatsutopie'. Eine solche Auflassung geht am Charakter dieses Buchs vorbei. Dieses entwirft keineswegs ein zeitentrücktes Ideal. Es besteht vielmehr aus zwei Teilen, einem ersten, das die Verhältnisse in Morus' Zeit mit scharfsinniger Kritik schildert und einem zweiten, dem fiktiven Reisebericht einer Inselgesellschaft, in der die dringendsten Probleme der geschilderten Gegenwart als gelöst dargestellt werden. Kern- und Angelpunkt ist der Gedanke des Friedens - die Frage nach einer Friedensordnung -, den Morus mit seinem Freund Erasmus von Rotterdam, dem führenden Humanisten des Zeitalters, zusammen erarbeitet hatte und den dieser in seiner Schrift von 1517 Klage des Friedens, gerichtet an die Fürsten Europas, niederlegte. Die Utopie ist Manifest dieser Auffassung, und sie ist mehr. Morus führt in gedanklicher Kühnheit über sie hinaus. Er tut dies, indem er die Bedingungen benennt, unter denen allein eine Friedensordnung möglich ist. Es sind die Bedingungen einer "kommunalen Lebensweise" (so wörtlich übersetzt) - Antizipation der frühsozialistischen Vorstellung des 'co-operative commonwealth'. Morus' Schrift ist daher in der marxistischen Tradition von Karl Kautsky bis Ernst Bloch mit gutem Grund als das "erste neuere Gemälde demokratisch-kommunistischer Wunschträume" bezeichnet worden, ihr Verfasser als "einer der edelsten Vorläufer des Kommunismus" (Ernst Bloch). Dieter Kraft spricht von einer "kommunalisierten Humanität", die in Utopie Staatsdoktrin ist.(10) Morus zeichnet eine Welt ohne privaten Reichtum und Besitz, für ihn die Haupthindernisse einer Gesellschaft der Gleichen, in der Frieden und Recht gesichert, Hunger und Not getilgt und damit die Grundübel der europäischen Gesellschaften beseitigt sind; Übel, aus denen, wie er im ersten Teil seiner Schrift darlegt, Rechtsbruch, Verbrechen und Aufruhr erwachsen.

Die Utopia ist also eine zutiefst geschichtliche Konstruktion, spricht aus ihrer Zeit wie sie zu ihr spricht, und sie spricht über ihre Zeit hinaus zu der unsrigen. In einer Arbeit, die zu dem Besten gehört, was zu Morus' Buch geschrieben wurde, spricht Dieter Kraft von der "kopernikanischen Wende", die Morus mit seiner Schrift vollzieht, "Teil der humanistischen Bewegung, die die Seiten verkehrt, das Obere nach unten schichtet und neue Dekaloge schafft." "'Utopia' ist der kategorische Imperativ zu einem grundsätzlich alternativen Denken angesichts einer gesellschaftlichen Situation, die sich in den Kategorien apokalyptischer Endzeit beschreiben lässt", für Morus zugleich "der präzise Ausdruck dafür, dass das von ihm eingeforderte neue Denken am Abgrund der Katastrophe in dieser Welt noch keinen Ort hat. Ou-topos: kein Ort, nirgends, wo so gedacht wird". So ist der Utopie-Begriff des Thomas Morus "bestimmt von dem, was notwendig ist, um Zukunft überhaupt zu garantieren".(11) Utopia ist nicht "eine ideale civitas, sondern eine notwendige Gründung".(12) Utopien dieser Art "beschreiben nicht das Ideale, sie modellieren Antithesen, die den Ausweg suchen".(13) "Für Morus", schließt Kraft, "ist das Ganze des Staates nur noch dann zu retten, wenn der Staat ganz umgestaltet, wenn das Alternative zum Prinzip des politischen Denkens erhoben wird. Wenn die Welt Kopf steht, muss man sie auf neue Füße stellen." "'Utopie' ist eine Überlebenskategorie."(14) Morus entwirft das Grundmuster einer gesellschaftlichen Formation, das konkret genug ist und der menschlichen Natur gemäß, um geschichtliche Wirklichkeit werden zu können. Morus' Insel ist damit aber auch der genaue Gegensatz zu einer Formation, die, nach Marx' Wort, "von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend" auf die Welt kam(15) - deren kannibalischen Charakter der Verfasser der Utopia als Erster im vollen Umriss erkannte, gegen den er das Modell einer in Frieden lebenden, von Gewalt und Ausbeutung freien Gesellschaft setzte.

2. Utopie als Denken des Möglichen

Kern der hier vertretenen Auffassung ist die Verbindung des Notwendigen mit dem Möglichen als geschichtliche Kategorien im Begriff der Utopie selbst. Erst diese Verbindung konstituiert die Utopie als historisch konkrete. Die Notwendigkeit einer solchen Utopie folgt aus der praktischen Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft als es die bestehende ist - der Notwendigkeit der qualitativen Transformation dieser Gesellschaft, ihrer Umgestaltung so, dass aus ihr eine neue Gesellschaft entsteht; und nichts anderes heißt marxistisch Revolution. Wäre die existierende Gesellschaft imstande, die Probleme, deren Lösung als weltgesellschaftliche Aufgabe ansteht, um die Zukunft zivilisierter Menschheit zu sichern, aus eigenen Stücken zu leisten, so bedürfte sie ihrer grundlegenden Veränderung nicht. Korrekturen im Einzelnen, Reformen genannt, würden genügen. Doch nichts spricht dafür, dass eine auf der Ausbeutung von Arbeit und Erde beruhende, am Prinzip der Akkumulation orientierte Gesellschaft die Schäden, die sie verursacht, auch heilen kann. Nach aller empirischen Evidenz ist das Gegenteil der Fall. Die Rettung der Menschheit und die Bewahrung der Natur sind nicht mit, nur gegen diese Gesellschaft zu bewerkstelligen. Aus diesem Sachverhalt begründet sich die Notwendigkeit einer neuen. Es ist dies der Anspruch, der sich an die Konstruktion des Utopischen im Marxismus stellt.

Doch was heißt Konstruktion des Utopischen im Marxismus und wie ist das Moment des Utopischen in einer dialektisch-materialistischen Theorie zu verankern? Es kann nur heißen, dass das Utopische als Moment des Wissenschaftlichen im Marxismus zu begreifen ist. Nur wissenschaftlich begründet und auf wissenschaftlicher Grundlage kann sich "das realistischste Bewußtsein dessen, was möglich ist mit der anspruchsvollsten Vision dessen, was nötig ist, verbinden."(16) Es geht um keine utopischen Träume, es geht um Wirklichkeit des Möglichen als Teil des Wirklichen selbst. Nichts anderes heißt historisch konkrete Utopie.

Wie aber ist das Utopische als Moment des Wissenschaftlichen zu begreifen? Die Antwort lautet und kann nur lauten: nicht anders denn als Modus begriffener Wirklichkeit: als Moment des Wirklichen selbst, und in diesem Sinn als geschichtlich Mögliches. Einer Marx folgenden Auffassung kann es nicht um die Verwirklichung ausgedachter Ideale gehen, die 'von außen' an die Wirklichkeit herangetragen werden, sondern um ein Freisetzen von Möglichkeiten, die in der Wirklichkeit herangereift sind, im Schoß einer geschichtlichen Wirklichkeit schlummern - ein Wirklichwerden von Möglichem durch menschliches Handeln. Kein teleologischer Prozeß ist gemeint, hier wächst nichts von selbst heran, solches Wirklichwerden bedarf der menschlichen Akteure. Es ist nur durch sie, oder es ist nicht.

Angelegt ist das Moment des Utopischen, dies die hier vertretene These, in einer Kernkategorie materialistisch-dialektischen Denkens: im Begriff der Geschichte. Dazu noch der folgende Exkurs.(17)

Der Begriff der Geschichte besitzt im Marx-Engels'schen Denken eine dialektische Struktur. Dialektik ist die "Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs".(18) Gesamtzusammenhang bezieht sich auf das Ganze der dem Menschen praktisch und theoretisch zugänglichen Wirklichkeit, die als dialektisch verfasst, in diesem Sinn gesetzmäßig konstituiert gedacht wird.(19) In Marx' Begriff des Ensembles bzw. der Totalität wird dieser Gedanke aufgenommen. Ensemble und Totalität meinen ein Ganzes, das organisch zusammengehört, dessen widersprüchlichen Glieder miteinander verbunden sind. Weiter ist der dialektische Begriff des Ganzen als Prozesszusammenhang zu denken. Er meint ein Ganzes, das offen, prozessual, ein Prozeßganzes ist. Zu sprechen ist von einem prozessualgestuften, strukturierten Ganzen.

Dieser Begriff des Ganzen als Zusammenhang gilt auch für die Geschichte. Der dialektische Geschichtsbegriff stellt die Gegenwart, die der Zeitpunkt unserer alltäglichen Erfahrung ist und von deren Standpunkt aus wir reden und handeln, in den Zusammenhang eines geschichtlichen Prozesses, der in die Ursprungsgeschichte der Menschheit zurückreicht - "tief ist der Brunnen der Vergangenheit, sollen wir ihn unerschöpflich nennen?" (Thomas Mann) - und zugleich nach vorn offen ist, in die unbekannte und unerkannte Zukunft hinein. Es zeigt sich also: die Unmittelbarkeit unserer alltäglichen Erfahrung wie des Bewusstseins von ihr ist auf komplexe Weise vermittelt. Die scheinbar geschichtslose, versteinerte Welt des Faktischen - die "Gesamtheit der Tatsachen" (Ludwig Wittgenstein) - gibt sich als prozesshaft zu erkennen. Sie ist werdend geworden: historisch geworden, im Werden begriffen, nach vorn offen - schwanger mit Möglichkeit. Geschichte zeigt sich in der Triade von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Erst in seiner geschichtlichen Dimension, als diese Triade, erhält der Begriff des Gesamtzusammenhangs jene Konkretion, die ihn als Grundbegriff marxistischen Denkens tauglich macht. Dieser ist in historischer Dreidimensionalität das Denken der Gegenwart wie des historischen Prozesses, der zu ihr führte, und er ist Denken des Möglichen im Wirklichen: begriffene Zukünftigkeit. In diesem Sinn ist er begriffene Geschichte und konkrete Utopie. Zukunft ist nichts der Geschichte Äußerliches. Sie gehört, wird Wirklichkeit als gewordene und werdende begriffen, im wesentlichen Sinn zur Struktur der wirklichen Welt. Die Wirklichkeit im marxistischen Denken ist dreidimensional, und so ist ihre theoretische Form. Begriffene Geschichte, geschichtsmaterialistisch, umfasst historisches Erkennen, Gegenwartsdiagnose und Denken der Utopie.

So wird die Diagnose einer Gegenwart ohne Kenntnis der Vergangenheit und Durchdenken der Zukunft (der Möglichkeitsdimension eines historisch Wirklichen) nie vollständig zu haben sein. Historisches Erkennen ohne Bezug zur Gegenwart ist steriler Historismus, antizipatorisches Denken ohne Grund im Gegebenen abstrakte Utopie. Der Ort der Gegenwart nun ist der Punkt in der Zeit, der dauerndem Wechsel unterworfen ist. So stellt sich auch die Frage nach Zukunft und Vergangenheit in jeder neuen historischen Lage neu. Auch in diesem Sinn ist der Marxismus eine nie abgeschlossene, prinzipiell unabschließbare Theorie. Sicher: der Fundus des gesicherten Wissens wächst, und auf ihm ist aufzubauen. Der Prozess der Erweiterung aber ist unabgeschlossen. Zudem ist das überlieferte Wissen stets neu anzueignen, es ist für die Lösung anstehender Aufgaben produktiv zu machen. Wie das gesamte Universum der überlieferten Kultur ist auch das überlieferte Wissen von jedem neuen historischen Zeitpunkt neu zu gewinnen.

3. Begriffene Zukünftigkeit - Konstruktion des Möglichen: Denken einer neuen Kultur

Das Denken des Zukünftigen in einem so verstandenen Sinn bezieht sich also auf kein Jenseits der empirischen Geschichte, sondern gehört zu ihrem wissenschaftlichen Begriff. Dies gilt dann, aber nur dann, wenn sich dieses Denken auf das Konkret-Mögliche einer geschichtlichen Weltzustands beschränkt. Traumbilder der Zukunft, Phantasien des Wünschbaren mögen in den Künsten sinnvoll sein, dort gibt es ein Träumen nach vorn und hier sind der utopischen Phantasie keine Grenzen gesetzt. Teil eines wissenschaftlichen Weltbilds sind sie nicht und können sie nicht sein.

Fragen wir also nach den Konkreta der konkreten Utopie.

Ist der Marxismus nicht nur das Denken gegebener Wirklichkeit, sondern auch das Denken des Möglichen als Teil dieser Wirklichkeit, so enthält die Welt, die er in Gedanken fasst, zukünftige Welt im Sinn historischer Möglichkeit. Kernkategorie der zukünftigen Welt ist im Sinne dieses Denkens der Begriff einer neuen Kultur. Die Frage nach Utopie als begriffener Zukünftigkeit ist also zu ergänzen durch die Frage nach den Konturen dieser neuen Kultur.

Dabei ist festzuhalten, was oben gesagt wurde: Die neue Kultur der begriffenen Zukunft unterliegt in ihrer theoretischen Ausarbeitung den Kriterien des Notwendigen und Möglichen. Die Problemfelder, deren Lösung als weltgesellschaftliche Aufgabe ansteht, um die Zukunft zivilisierter Menschheit zu sichern, lassen sich in größter Abstraktion mit folgenden Stichworten markieren (die Reihung erfolgt ohne systematischen Anspruch und Anspruch auf Vollständigkeit): massenhafte Verelendung und Not, perennierender Krieg und freigesetzte Gewalt, Rassismus jeder Spielart (aus historischen Gründen sei der Antisemitismus gesondert bezeichnet), die Aufhebung sozialer Klassentrennung und des patriarchalischen Geschlechterverhältnisses, Planung der Produktivkraftentwicklung, ökonomische Planung, die praktische wie theoretische Durchsetzung menschlicher Gleichheit, gleiche Bildung und gleiche medizinische Versorgung für alle Menschen, weltanschaulicher Pluralismus und Erziehung zur Toleranz, die Bewahrung der Naturgrundlage unseres Planeten, der Aufbau einer universalen Rechtsordnung ('Rechtsgesellschaft'), die die Einhaltung fundamentaler Rechte auf allen Ebenen garantiert.(20)

Die Gesichtspunkte müssten im Einzelnen spezifiziert und diskutiert werden, nicht zuletzt im Hinblick auf die Lösbarkeit der einzelnen Probleme. Es könnte sich zeigen, dass diese Probleme heute prinzipiell lösbar sind (wie es Ziegler am Beispiel des Hungers demonstriert hat), doch nicht unter den Bedingungen einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft. Diese ist revolutionär aufzuheben (wie der Kommunismus meint) oder demokratisch zu kontrollieren (dies die sozialdemokratische Lösung, die der Kommunismus für illusionär hält). In sozialistischer Perspektive, so viel sei hier gesagt, ist die neue Kultur eine solche, die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruht, in der die große Mehrheit der Menschen, idealiter alle Menschen die bestimmenden Subjekte politischen Handelns sind, deren Geschichte durch kooperative Planung geregelt ist, die juristisch die Form einer universal geltenden materialen Rechtsgesellschaft besitzt (d. h. einer solchen, in der uneingeschränkt Rechtsgleichheit herrscht, die individuellen und kollektiven Rechte universal verwirklicht sind), in der Freiheit, Gleichheit, Solidarität als Grundkonsens menschlicher Gemeinschaft Gültigkeit besitzen - eine Gesellschaft, deren "Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist" (Marx).(21) Eine solche Gesellschaft ist vorstellbar nur als Gesellschaft kultureller Individualitäten, einer Pluralität von Kulturen, deren Verhältnis zueinander durch gegenseitige Achtung, Rücksichtnahme und praktische Toleranz geregelt ist. Eine solche Kultur wird eine Welt ohne Krieg sein, der Frieden als Prinzip der Kultur anerkannt und durchgesetzt, eine Welt, in der die Ursachen von Gewalt beseitigt, die materiellen Bedingung kultureller Bildung gesichert sind, der gesellschaftliche Reichtum gerecht verteilt ist als Voraussetzung für die Reichtumsentfaltung individuellen Lebens Wissenschaft und Künste in historisch höchstmöglichem Maß gefördert, beste medizinische Betreuung und umfassende Bildung für jedermann gesichert sind - entsprechend den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen, die Natur erhalten und gepflegt. Die Frage des Bewusstseins dieser Gesellschaft ist vom gegenwärtigen geschichtlichen Standpunkt nicht prognostizierbar. Freilich ist davon auszugehen, dass das Bewusstsein dieser Gesellschaft, wie in der Geschichte in der Regel der Fall, ihrer objektiven materiellen Verfasstheit entspricht - also von einer hochgradigen Individualität und Pluralität von Bewusstseinsformen bei einer wissenschaftlich orientierten Grundlage. Außer Frage steht das Prinzip der Toleranz in Bezug auf alle Weltanschauungsformen, die nicht selbst dem Prinzip der Toleranz und dem universalen Rechtsgedanken widerstreiten.


Thomas Metscher, Prof. Dr., Grafenau, Literaturwissenschaftler


Anmerkungen

(1) R. Gerlach/M. Richter (Hg.), Peter Weiss im Gespräch. Frankfurt a.M. o.J., 186, 202.

(2) J. Ziegler, Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen. München 6. Aufl. 2014.

(3) J. Ziegler, Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt. München 3. Aufl., 2011, 17.

(4) Ziegler 2014, 49-51.

(5) MEW 23,618.

(6) W.F. Haug, "Marxismus", ders. u.a. (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8/II. Hamburg 2015, 1875.

(7) Haug, ebd.

(8) W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, These II.

(9) Des Näheren T. Metscher, "Die kopernikanische Wende der Utopie: nicht ideale civitas, sondern notwendige Ordnung"; erscheint 2016.

(10) D. Kraft, "Über den Begriff der Utopie. Verständnis und Missverständnis einer verbogenen Kategorien In: H. Kopp (Hg.), Wovon wir träumen müssen... Marxismus und Utopie. Hamburg 2013, 92.

(11) Kraft 2013, 941.

(12) Ebd., 98.

(13) Ebd., 100.

(14) Ebd., 104.

(15) MEW 23, 788.

(16) So L. Sève in Le Monde diplomatique, November 2011, 2-5.

(17) Des Näheren T. Metscher, "Utopia oder die Konstruktion des geschichtlich Möglichen". In: Kopp 2013, 123-50.

(18) MEW 20, 307, 348.

(19) So notiert Engels als ihre "Hauptgesetze" ihrer dialektischen Verfaßtheit: "Umschlag von Quantität in Qualität - Gegenseitiges Durchdringen der polaren Gegensätze und Ineinander-UmschIagen, wenn auf die Spitze getrieben - Entwicklung durch den Widerspruch oder Negation der Negation - Spirale Form der Entwicklung" (ebd., 307). Die Grundbestimmungen der Dialektik konstituieren als 'Gesetze' den Zusammenhang des Wirklichen - dies ist der Grundgedanke. Sie werden also als Strukturbestimmungen des Seins in einem ontologischen Sinn aufgefasst.

(20) Einige Gesichtspunkte diskutiere ich in Metscher 2013.

(21) MEW 23, 618.

*

Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-15, 53. Jahrgang, S. 66-75
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2016

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